Christoph Steier: Der Freund
Jetzt kommst du heim. Wie immer schließt du sorgfältig ab, drei Mal kratzt der Schlüssel im Schloss, dann ein Zögern, Stille. Da draußen sind so viele Spinner, hörte ich dich einst am Telefon sagen. Damals wähntest du dich allein. Mir gegenüber tust du furchtlos und stark. Kein Lichtschalter, kein verräterisches Klicken: Im Dunkeln streifst du die Schuhe ab, tastest nach dem Haken, hängst den Mantel auf. Du versuchst, ganz leise zu sein, doch ich höre alles.
Steif liege ich auf dem Bett, reglos, es darf auf keinen Fall quietschen. Du sollst denken, ich schliefe schon, denken, es sei mir egal, wo du dich herumtreibst bis spät in die Nacht.
Nylons, die über glatten Boden streifen – ein Hauch nur am Rande des Hörbaren. Ich halte die Luft an, während du, wie ich noch immer im Dunkeln, zur Fensterfront am anderen Ende des Zimmers schwebst. Suchende Hände, Raufaser, dann Plastik, schon hast du den Schalter gefunden. Schamlos surrt die Jalousie herunter, ihr offener Laut bricht den Bann: Kurz darauf springt der Fernseher an, in abrupten Stößen dringen die Töne durch die Wand. Das leise Schmatzen der Kühlschranktür, das Krachen der Eiswürfelform auf der Arbeitsplatte; du summst ein Lied und nimmst den letzten Drink. Das ist gut. Du glaubst an meinen Schlaf und fühlst dich sicher, dass dein Ausflug ohne Folgen bleiben wird.
Den Aufzug nimmst du nie, da draußen sind so viele Spinner. Aber sonst ist es ruhig, zumindest hier oben. Und anonym – an den Klingeln nur Nummern, hundertsechzehn Mal. Die meisten Bewohner wirst du niemals sehen, sagst du, ein verbunkertes Nest hoch über der Stadt. Befreiend auch die Aussicht, an guten Tagen bis runter zum Fluss, nicht immer nur Häuser. Du erzählst es deiner Freundin am Telefon, wähnst dich wieder allein. Aber du bist niemals allein.
Ich war erleichtert, ich hatte schon befürchtet, es werde dir bald zu eng. Aber du bliebst. Ich verhalte mich ruhig und lasse dich gewähren, nur manchmal tut es weh. Dass es dir nicht reicht, hier oben zu sein. Seite an Seite mit mir. Dass es dich immer wieder hinzieht, nach unten, in den Schmutz. Und dass du mich für ahnungslos hältst, obwohl ich dich beschütze, Nacht für Nacht. Lautlos durchs Dunkel gleite und dafür sorge, dass du unbeschadet zurückkehren kannst. Zu uns. Was sollte ich tun, ich habe nur dich.
Ich muss dich beschützen, da draußen sind so viele Spinner. Die ganze Stadt ist ein einziges Sammelbecken für kaputte Seelen, jeden Tag werden es mehr, die nichts zu verlieren haben. Schlachtplätze die Straßen, Angstbatterien die Häuser, über allem eine Glocke aus halbverdunstetem Hass. Die Tiere kommen zurück, hörst du nachts die Füchse im Müll?
Aber nein, davon willst du nichts wissen, willst frei sein und jung. Doch ich sehe sie lauern, jede Nacht. Du bist jung, und ich möchte, dass du alt wirst. Wie ich. Einmal, wieder denkst du, ich sei nicht da, nennst du mich, am offenen Fenster ins Telefon flüsternd, einen alten Spinner. Aber ich muss dich doch beschützen. Weißt du, wo du heute Nacht gelandet wärst ohne mich?
Du stellst den Fernseher aus, schlurfst noch einmal zum Kühlschrank. Eis im Glas, ein helles Geräusch. Dann kommst du an meine Wand geschlichen, auf Zehenspitzen, legst dein Ohr an die Tapete und horchst. Du bist genau neben meinem Gesicht, eine Weile lausche ich deinem warmen Atem, wie er gegen die Poren schlägt und sich langsam verläuft, liege steif und ohne Luft, bis ich dir endlich den Gefallen tue und laut zu schnarchen beginne.
Ich weiß, dass du aufatmest, aber du hast dich schon abgewendet und läufst durchs Zimmer. Du bist froh, glaubst mich in schweren Träumen, lange schon. Dabei kam ich nur fünf Minuten vor dir.
Wie immer ließ ich das Taxi hinter deinem Bus herfahren. Dein langes Haar, wie es über die verdreckten Sitze floss. Das traurige Weiß deines Mantels, das mit jedem Ausflug an Kraft verliert. Hinter deinem Rücken ein Rudel Marokkaner, die sich erregten, dir Zeichen machten, die du nicht sahst, niemals sehen willst. Deine Arglosigkeit schmerzt, dabei sind diese aggressiven Habenichtse noch nicht mal die wahre Gefahr. Dennoch hielt ich die Stellung und ließ den Fahrer erst überholen, als das Pack ausgestiegen war. Im Vorbeifahren dein Gesicht hinter halbblindem Glas, versunken ins eigene Spiegelbild.
Im Treppenhaus löschte ich das Licht. Auf unserem Flur hingen noch Spuren deines Parfüms in der Luft. Was werde ich dir in diesem Jahr schenken? Ich öffnete die Tür, um ein bisschen davon in die Wohnung zu lassen, so war ein Teil von dir schon zu Hause. Im Dunkeln wartete ich am Fenster, bis der Bus auftauchte und dich aus seinem hellen Bauch auf die Straße spuckte. Du warst allein.
Komm ins Bett, denke ich, und daran, wie du durch den zertretenen Schnee getrippelt kamst, das Licht der Laternen im Haar. Ein Fremder hätte kaum sagen können, ob du tänzelst oder schwankst. Komm ins Bett, ich bitte dich, ich halte ganz still. Aber du erhörst mich nicht. Statt dessen surrt die Jalousie wieder nach oben, bald darauf schabt dein Feuerzeug durch die Stille.
Im Schatten deines Lärms ändere ich meine Lage, rücke noch einen Zentimeter näher an die Wand und schiebe die verletzte Hand über die Decke. Verdammt, solche Zwischenfälle dürfen nicht mehr vorkommen, ich bin schließlich keine zwanzig mehr. Manchmal, wenn es ganz ruhig ist, höre ich das Altern in meinen Gedärmen rasseln, höre es durch die Organe streifen und nach dem besten Einfallspunkt suchen. Das Herz, wird es das Herz sein, oder der Darm oder die Lunge oder tiefer? Nicht tiefer, nur nicht tiefer, schnell soll es gehen. Mir ist es egal, aber was wird dann mit dir?
Hör doch nur, nicht einmal das Fenster bekommst du ohne Mühen auf. Wie du nur immer daran zerrst, wie der Rahmen vibriert und das Metall des Griffs knirscht. Dabei müsstest du doch nur die genaue Position austarieren, es ist ganz einfach. Aber nein, du bist ja meine ungeduldige Prinzessin, und jetzt hast du es ja auch auf deine trotzige Art geschafft. Wäre nur alles so einfach, wäre alles so leicht in den Griff zu bekommen wie ein verstocktes Fenster – glaub mir, ich ließe dich los, ich ließe dich ziehen. Aber die Dinge liegen anders, und tief drinnen weißt du das auch.
Da stehst du am Fenster, hoch über der Stadt an der Grenze zum Morgen, starrst auf den Horizont und glaubst, niemand sonst kennt diese Sehnsucht. Ziehst an deiner Zigarette, fühlst dich so anders als ich und alle. Lässt den Blick schweifen über Häuser, Lichter, Straßen und Parks und fragst dich, ob noch was kommt oder ob hier Endstation ist.
Du bist so jung. Wir alle standen einmal wie du.
Im Dunklen taste ich, ohne mehr als den Arm zu bewegen, nach den Zigaretten. Als der Schein des Feuerzeugs auf die verletzte Hand fällt, erschrecke ich. Der Schnitt, der Daumenfurche und Handgelenk verbindet, ist fast schwarz. Auf dem Handrücken klebt verkrustetes Blut, beim Hantieren eben muss sich die Wunde noch einmal geöffnet haben, verdammt. Was hatte der Typ auch ein Messer? Schnell und ohne Geräusch lösche ich die Flamme.
Von diesen Dingen ahnst du nichts. Läufst munter durch die Nacht und glaubst, die Stadt sei ein Spielplatz. Aber das ist sie nicht, nicht für Mädchen wie dich. Und doch fühlst du dich sicher, schön und unverletzbar. Du bist so jung.
Wer kennt sie nicht, diese Typen? Haben immer ihr Mittelchen dabei, und für zwei Cocktails kommen sie am Ende auf ihre Kosten. Steht heute in jeder Zeitung. Aber du liest ja nicht, das wüsste ich. Merkwürdig, der von heute Nacht sah mal richtig gut aus, ob du auch ohne sein Pulver mit ihm gegangen wärst?
Aber nein, das würde mein Mädchen nicht tun. Amüsieren wolltest du dich, ein paar Drinks, vielleicht eine Schulter, vielleicht noch ein Drink... Nach einer Stunde hingst du ihm wehrlos im Arm, da schlurft er noch schnell zur Toilette. Die Schweine müssen sich heute ja auch selber schützen, so weit ist es gekommen. Am Automaten habe ich ihn dann erwischt, er schwankte noch zwischen Banane und Noppen. Was soll ich sagen – ich habe ihm das Teil in den Rücken gepresst und ihn die Dinger fressen lassen. Alles wie immer. Aber er war zu zugedröhnt, vielleicht schon auf Viagra und Speed, was weiß ich. Zückt das Messer und –
Na ja, den Rest hatte er dann verdient. Manche lernen einfach nicht anders. Und du, du lagst da in deiner plüschigen Ecke ohne jeden Schimmer, was hinter deinem Nachtleben läuft. Hinten, bei den Kacheln und Rohren.
Doch ich bin für dich da.
Die Jalousie rasselt nach unten, du hustet leise. Manchmal, wenn du schon so lange in mich dringst mit deinen Geräuschen, spüre ich fast den kurzen Moment, da sie flüssig werden in meinem Ohr. Die winzige Strecke zwischen Innenohr und Schnecke dehnt sich aus, die Zeit steht still, ich bin ganz Ohr. Wusstest du, dass dein Lärmen, dass jeder Ton durchs Wasser gehen muss auf seinem Weg ins Gehirn? Dass die Schwingungen in eine Flüssigkeit gleiten, wo sie über Härchen streichen, die direkt an die Nerven grenzen? Weißt du, dass du ein Teil von mir wirst, auch jetzt, wo du eine Wand zwischen uns glaubst? Dass du flüssig wirst in mir, dass du in mich schwallst, wie alles in alles schwallt da draußen und überall? Wie jedes Geräusch, jeder Rauch, jeder Bissen, wie jede Berührung, jeder Klinkendruck ein Teil von dir wird, weißt du das?
Nein, auch davon willst du nichts wissen, niemals würdest du dir das sagen lassen von mir. Hör mir nicht zu, warum auch? In keiner Beziehung wird heute noch ordentlich miteinander geredet, warum sollte da ein eitles Geschöpf wie du einem alten Spinner wie mir – ? Aber es ist mir gleich, hör mir nicht zu, sieh über mich hinweg, egal, aber komm.
Tatsächlich, nun rascheln Kleider zu Boden, ein plumpes Geräusch. Gleich wirst du ins Bad gehen, dir das Nötigste vom Leib waschen. Und dann wirst du kommen.
Als die Dusche losbricht, richte ich mich auf, drücke die Zigarette in den Aschenbecher und öffne das Fenster. Wir beide schlafen gern so, auch im Winter.
Die Stadt kommt langsam zur Ruhe, nur noch vereinzelt streichen die Scheinwerfer durch den Himmel, schaufeln ihr Licht an die Häuser. Die Luft ist kalt und klar. Ein letzter Blick auf das Bild, das eben noch vor deinen Augen lag. Es sieht so friedlich aus, aber das täuscht. Wenn du wüsstest, denke ich, schließe das Fenster und lege mich hin. Warte, bis du endlich kommst.
Am nächsten Morgen muss ich lange auf dich warten. Du hast verschlafen. Das ist nicht gut, es ist doch erst Mittwoch. Um zwanzig vor acht hole ich das Handy aus dem Schrank. Das Wechseln der Karte macht Mühe, die verkrustete Hand ist fast taub. Drei Mal fällt die Karte zu Boden, aber dann. Das Klingeln dröhnt durch die Wand, schon höre ich dich stöhnen. Zehn Minuten später erscheinst du in meinen Spion, endlich. Öffnest deine Tür, fegst im Hinausgehen, achtlos, die Blumen von der Fußmatte in die Wohnung und stolperst die Treppe hinunter. Vierzehn Stockwerke, aber deine Absätze sind dir heilig. Du bist sehr in Eile und vergisst sogar, die Tür abzuschließen. Doch das macht nichts, ich werde ja wachen – wozu sind Nachbarn schließlich da?