Katja Gesche: Andrea (Zürich: Platz 3)
Fast zehn Jahre hatte ich Andrea nicht mehr gesehen, lange Jahre, in denen bei uns Frauen die Hüften breiter werden, in denen sich die erste Falten tief in die Augenwinkel eingraben und wir uns angeekelt von uns selbst wegdrehen möchten. Es kommt dann die Zeit, in der ein sehnsüchtiges Ziehen uns befällt, wenn wir in die Nähe von Kinderwagen geraten. Zehn Jahre, in denen sich endgültig entscheidet, ob wir immer mehr zu uns selbst werden wollen, wachsen, Jahresringe aus Fett und Erfahrung um uns bilden wollen, bis wir irgendwo als Dorfunikat, als Exzentrikerin, als Schreckschraube vom Dienst mit grell lila gefärbten Haaren enden wollen; oder aber wo wir schwinden, blasser werden, durchsichtiger, die Kraft in uns immer mühsamer gehalten werden muss.Mit einem Wort, wir sind Ende 30.
Ich muss ehrlich gestehen, dass ich kaum erwartet hatte, Andrea wiederzutreffen. Ich hätte erwartet, sie sei schon lange ausgewandert, vielleicht nach Goa oder in irgendeine hippe Künstlerstadt. Ich habe gedacht, sie lebt in Amsterdam auf der Straße und schnorrt Touristen um Geld an. Ich habe mir vorstellen können, sie sitzt in einer Psychiatrie, irres Glitzern in den Augen, nur mühsam am Ausbruch gehindert durch Pillen und Spritzen. Am ehesten hätte ich erwartet, sie ist schon tot.
Und der Gedanken, ich gestehe es, tat mir nicht einmal so sehr weh.
Die Zeiten unserer Freundschaft waren schon lange vorbei. Ja, mit 16 oder 17, da waren wir um die Häuser gezogen. Mit Netzstrumpfhosen und Minirock und DocMartens-Stiefeln und all den Insignien der achtziger Jahre, die wir mit in die frühen Neunziger nehmen würden. Wir färbten uns die Haare grün, pink, gelb wie Urin; wir tranken und rauchten. Noch heute erzähle ich meinen staunenden Spießerfreunden davon, erzähle, was wir alles angestellt haben. Das Leben pulste damals so schnell und hart durch unsere Adern, wir nahmen alles mit und ließen nichts zurück.
Dachten wir.
Wir sind in einen Kiosk eingebrochen und haben ihn ausgeräumt, wir sind flink und dünn, wie wir damals waren, über den Zaun des Freibades geklettert, hatten dort nackt gebadet, zusammen mit einer fünfköpfigen betrunkenen Punkband. Wir hatten Sex mit Männern, die wir gerade erste kennen gelernt hatten. Wobei wir uns schon damals unterschieden, denn ich trug immer eine große Packung bunter Kondome mit mir herum. Andrea nicht.
Und trotzdem waren wir brave Mädchen, zumindest damals; wir besuchten ein tolerantes kleinstädtisches Gymnasium, wir schrieben unsere Klassenarbeiten mit Amphetaminen, tranken billigen Rotwein vor dem Kunstunterricht.
Aber als die Zeit des Abiturs kam, das wir beide mehr schlecht als recht bestanden, als sich die Frage stellte, wie es weiter gehen sollte, als unsere gutbürgerlichen Eltern unisono auf den Besuch von Fachhochschulen und Universitäten drängten – da begannen wir uns auseinander zu bewegen. Räumlich trennten wir uns, denn ich ging studieren, in ein kleines verschlafenes Universitätskaff im Schwäbischen. Andrea zog nach Berlin, natürlich, wo gerade die Mauer gefallen war, und ich war neidisch, dort sprudelte das Leben wie eine durchgeschüttelte Flasche Sekt, dort schien alles sehr viel interessanter zu sein.
Dagegen war das Leben im Universitätsstädtchen beschaulich, rückwärtsgewandt. Die Studenten dort zelebrierten alle vergangenen Jugendkulturen durch, sie waren Beatniks, sie waren Hippies, sie lasen Fromm und Reich und redeten klug daher. Ich begann, mich für Literatur zu interessieren und für die Jungen, die mit Anfang 20 Pfeife rauchten und Lederflicken auf ihre Cordanzüge nähten, eine Parodie der Intellektuellen vorvergangener Zeiten. Ich las ihnen zuliebe Sartre, Camus, zog mir schwarze Rollkragenpullover an, wurde Simone de Beauvoir, suchte durch verrauchte Kneipenluft und altmodische dicke Hornbrillen hindurch meinen Sartre. Wollten anders ein, intellektuell, mäßigte das Trinken, die Drogen. Schrieb erfolgreiche Hausarbeiten, belegte Prüfungen. Verlor den Kontakt zu Andrea, sah sie nur selten, flüchtig.
Vielleicht war es mir ganz recht, ihr nicht länger zuzusehen. Sie hatte die Kurve nicht gekriegt, nicht begonnen, den Kopf zu benutzen, nicht Ausschau nach den jungen Intellektuellen mit den Hornbrillen gehalten. Sie war nicht in Jazzclubs gegangen, hatte nicht über Philosophie diskutiert an langen Abenden mit Kommilitonen, wenn der billige Wein in Pappbechern ausgeschenkt wurde, nicht auf Kissen gesessen in kleinen Studentenbuden, deren grelle Schreibtischlampen mit einem Batiktuch abgedunkelt wurden, hatte nicht aus Steinen und Brettern avantgardistische Regale gebaut und die mit Büchern vom Flohmarkt voll gestellt. Sie hatte sich nicht in überfüllte Vorlesungssäle gezwängt, die schwanger waren vom Geruch des neuen Essens, das die Kleinstadt eroberte, Döner Kebab. Sie war nicht zu schwullesbischen Filmabenden gegangen, und sicher hatte sie sich nicht irgendwann doch etwas Schickes zum Anziehen gekauft, etwas in gedeckten Farben, das man provokationsfrei bei der Beerdigung der Patentante tragen konnte oder auch auf einer Taufe.
Manchmal waren wir zufällig zur gleichen Zeit in unsere Heimatstadt, an diesen trägen Tagen um Weihnachten herum, oder zu Ostern. Bei mir war es das drückende Gefühl des schlechten Gewissens, das mich veranlasste zu kommen, meine Eltern zu besuchen, meinen ersten Neffen anzusehen. Bei ihr war es das Verlangen, ein bisschen Geld abzustauben.
Sie sah schlecht aus. Das konnte ich sehen, konnte es immer stärker in ihren eingefallenen Wangern lesen, in den dunklen Schatten um die Augen. Was die jugendliche Haut bei ihr noch weggesteckt hatte, als wir noch nicht volljährig waren, was ihr mit 16, mit 18 noch genau das bisschen Verruchtheit gegeben hatte, das sie brauchte, um gleichzeitig unschuldig zu wirken, ja, fast niedlich; all das war verschwunden. Jedes Mal, wenn ich sei wiedersah, schien sie um Jahre gealtert. Wir trafen uns zufällig, beim Einkaufen, beim Herumlaufen in eisigen Gassen, wenn man die Festtagsstimmung nicht mehr ertragen konnte; wir gingen zusammen ein Bier trinken. Manchmal stand sie auch am nächsten Tag bei mir vor der Tür, kam herein, durchwühlte hemmungslos die Hausbar meiner Eltern, das Arzneischränkchen im Bad.
Häufig fand ich das lustig. Dann fühlte ich mich wieder wie ein junges Mädchen, frech und verwegen, dann suchten wir unserer alten Sachen heraus, ich hatte noch vieles aufbewahrt, zogen uns die besprayten Lederjacken an, die hohen Stiefel, nur die Miniröcke nicht mehr, denn mir waren sie zu eng geworden und ihr, die immer magerer wurde von Jahr zu Jahr, zu weit.
Aber irgendwann kam der Tag, das war ich 23 oder 24, da sträubte sich alles in mir, als sie an der Tür stand. Sie lächelte, und ich sah, dass ihr ein Stück von einem Vorderzahn abgebrochen war, und das sah nicht verwegen aus oder cool, sondern ein bisschen asozial, und erschrak leicht über mich, denn ich dachte – asozial, pfui Teufel. Dabei wollte ich doch nie sozial sein, ein gemeinsames Ding machen mit den Bonzen, den Politikern. Aber langsam, langsam, war ich doch so weit, dass mein Studium ein vorhersehbares Ende hatte, ich hatte mir schon überlegt, was ich machen könnte danach. Ich war nun auch schon fast ein Jahr mit einem der hornbebrillten Studenten zusammen, die Fromm lasen und Sartre, ich mochte das gemeinsame Frühstücken mit ihm, wenn er in meinem WG-Zimmer übernachtete, ich war nie beim ihm, er bewohnte nur 14 Quadratmeter in einem Wohnheim. Wir aßen gekochte Eier, wir lasen zusammen in der Zeit, stritten uns über das Feuilleton. Wir spielten ein bisschen, wie es sein mochte, in einigen Jahren, wenn er Referendar war oder Lehrer. Wenn es nicht Liebe war, so doch Gewohnheit, samtig und geborgen. Andrea hätte das nicht verstanden. Ich erwähnte ihn ihr gegenüber nicht. Ich hielt sie davon ab, die Hausbar auseinander zu nehmen, ich hatte vorsichtshalber eine Flasche billigen Wodka gekauft, damit sie bei mir im Zimmer blieb, nicht das Haus durchsuchte.
Sie schien damit zufrieden, lächelte ihr leicht zerbrochenes Lächeln, trank den Wodka aus der Flasche. Meine Strumpfhose kratzte, ich fühlte mich komisch in meinem alten Kinderzimmer, auch wenn ich die Jugendposter abgenommen hatte, da waren Spuren, Aufkleber, Schmierereien mit schwarzen Filzstiften, Symbole der Anarchie, Obszönitäten. Andrea deutet darauf und lachte, und ich murmelte, ich hätte es schon überstreichen wollen, aber ich war so selten hier, und das seien doch Erinnerungen. Sie lachte noch einmal und sagte etwas, vielleicht Museum.
Manchmal schwieg sie lange, wenn ich sie fragte, wie sie nun lebte, immer noch in Berlin, mal in Kreuzberg, mal in Mitte, mal am Prenzlauer Berg, mal billig zur Miete, mal bei einem Typen, mal bei mehreren Typen, mal in einem besetzten Haus, auch mal auf der Straße, meist im Sommer. Das ist so wild, sagte sie dann und lachte, so romantisch, wenn die Sonne über den Bäumen aufgeht im Tiergarten, und ich fragte mich, ob es wohl Krätze war, wenn sie sich mit den Fingernägeln, von denen der Nagellack bröckelte, auffällig am Hals kratze, bis es Striemen gab, die rot leuchteten. Manchmal schwieg sie, lenkte ab, begann ein Gespräch über alte Freunde, die sie getroffen hatte, spottete über die dicken Bäuche und den seligen Blick der ersten schwangeren Klassenkameradinnen, schaudernd berichtete sie, einen alten Freund gesehen zu haben, Banklehre, Anzug, Krawatte mit Querstreifen. Mit Querstreifen! wiederholte sie, und da musste ich auch kichern.
Und manchmal erzählte sie dann doch von sich, streckte die Beine aus, aß eine Hand voll Chips, seufzte, fühlte sich wohl. Trank noch einen Wodka. Rollte geschickt und schnell einen Joint. Erzählte eifrig und mit leuchtenden Augen von dem Irren, der bei ihr im besetzten Haus gewohnt hatte, der dachte, er sei der Erzenegel Gabriel, der auf der Straße alles mögliche verkündigt hatte. Sie zählte davon, wie sie mit einer Band zusammengelebt hatte, drei Männer und zwei Frauen, und jeder hatte was mit jedem, und sie fragte mich, ob ich schon mal mit deiner Frau Sex gehabt hätte, und ich stammelte, ja, zwei oder drei Mal mit Studentinnen von der Uni, mit Latzhosenträgerinnen, harten Frauen, und das war alles gelogen. Sie erzählte davon, dass sie Drogen probiert hatte, nein, nicht das übliche Zeug, das auch, ja, und sie lachte nervös, nein, sie meinte diese indianischen Lianen, da begegnet dir dein innerer Dämon, und du kämpfst mit ihm, das sei spannend. Und sie erzählte, dass sie ein halbes Jahr durch Polen getrampt sei. Wieso Polen, meinte ich, und sie zuckte mit den Achseln. Die Grenzen sind nun offen, und der Schnaps da, na, der kostet ja gar nix, sagte sie. Sie erzählte schräge Geschichten von alten Mütterchen, die ihre wahren Großmütter seien, die ihr eklige Pfannkuchen gebacken hätten, und sie hätte sie dennoch geliebt, obwohl sie polnisch gesprochen hätten und kein Wort deutsch. Manchmal erzählte sie so, dass ich das Gefühl hatte, ich sei dabei, und ich dachte, Mensch, wenn sei doch schreiben könnte, alles das aufschreiben! Dann lachte sie nur. Wozu, sagte sie dann. Ich mache ja nicht mal Fotos.
Der Niedergang von ihr wurde schneller, als sie die 25 überschritt, und die letzten 2 oder 3 Jahre, die ich sie sah, musste ich jedes Mal den Impuls unterdrücken, wegzulaufen. Einmal in dieser Zeit lag sie morgens im Straßengraben vor unserem Haus, ich schrie leise auf, so sehr hatte mich das überrascht, sie war weiß wie Schnee, die Augen weit offen, ich dachte, sie sei tot. Es war kühl gewesen, wenn auch nicht eisig, eine feuchte Dezembernacht. Aber sie lebte, sie war sogar wach, sie sah mich an, die Augen nur schwarze Pupillen, und sie sagte, hast du die Nacht gesehen, sie wirklich gesehen, und ich stand da und sah sie an, wusste nicht, was ich tun sollte, zog halbherzig an ihrem Arm. Geh weg, Ungläubige, sagte sie mit einer unheimlichen Stimme, und ich rief den Krankenwagen. Ein andermal fuhr ich gerade zur nächsten Stadt, das war auch wieder in der Weihnachtszeit, da hörte ich vor mir Hupen, schon bald sah ich sie, wie sie den Mittelstreifen entlang lief. Ich hielt an, überredete sie, einzusteigen, sie sagte kein Wort, tat aber, was ich sage. Ich sah, dass sie aus einem Schnitt an der Wange blutete. Sie roch unangenehm. Du musst mehr auf dich aufpassen, sagte ich, Mensch. Du musst mehr aufpassen. Sie guckte mich nicht an. Als sie ausstieg, sagte sie nur heiser, was ich doch für eine Scheispießerkarre hätte, ich sei ein blödes Spießerweib. Ich sei ein Klischee, nichts weiter. Ich sagte nichts, ließ sie aussteigen.
Und das war das letzte Mal, dass ich sie sah damals. Da war ich 27 oder 28.
Jetzt bin ich zehn Jahre älter. Ich habe studiert und meinen Hornbrillenträger geheiratet, mich dann wieder scheiden lassen. Inzwischen habe ich mit einer Frau geschlafen, und ich habe auch diese indianische Liane probiert, und beides war nicht so spannend, wie ich gedacht hatte. Ich hatte ich in das Leben eingewöhnt wie in eine alte Strickjacke, es war mir bunt, warm und manchmal kratzig.
Und dann habe ich Andrea wiedergetroffen. Völlig überraschend. Und auch gar nicht in unserem Heimatort, sondern in dem kleinen Unistädtchen, wo ich immer noch wohne. Ich hatte sie nicht erkannt, sie war mollig geworden. Ihre Haut, die immer narbig und grau erschienen war, mit Pusteln und Flecken, wo der Körper sich gegen Drogen gewehrt hatte, spannte ihr fest und rosa über dem Gesicht, ihre Haare waren lang und aschblond und glatt. Sie hielt ein Kind an der Hand, das war auch gut genährt, mit langen aschblonden Haaren. Sie lächelte mich an, wer ist das, dachte ich, dann erkannte ich sie, obwohl selbst ihre scharfen, bösen Augen blauer geworden waren, sanft fast. Wir gingen in ein Café und sprachen lange, obwohl ich am Anfang gezögert hatte, ich den Wunsch, sie zu ignorieren, unterdrücken musste. Sie erzählte von einem Zusammenbruch und Kliniken, von dem Pfleger, den sie geheiratet hatte, von ihrem Kind, der kleinen Julie, und ja, es sei noch eins unterwegs. Sie sei nun glücklich, nicht mehr so getrieben, endlich daheim, glücklich, zufrieden, daheim, ja, daheim.
Ich lächelte, bis ich Zahnschmerzen bekam, und trank Kaffee und aß von den Bagels, das war jetzt nämlich modern in meinem Unistädtchen, Bagels essen. Ich sagte nicht viel. Ich sah sie an und dachte an ihre Geschichten von den polnischen Omas, die sie so gerne erzählt hatte, und dem Erzengel Gabriel. Ich begann, mich einsam zu fühlen, so alleine, so alt wie noch nie zuvor, während Andrea von ihrem Kind sprach und ihrem Mann.
Nach einer Stunde konnte ich nicht mehr, ich behauptete schnell, ich müsste dringend zu einem Termin, weg, weg, und ja, natürlich könnten wir uns mal treffen, oh, sie wohne jetzt hier, wie schön, super, ich rufe sie an, und ich stürzte aus dem Café, ohne mir ihre Nummer geben zu lassen, rannte immer schneller durch die alten Gassen bis zum Fluss, hielt mich da am Geländer fest und weinte so laut, dass sich die Spaziergänger nach mir umdrehten.
Leb wohl, Andrea.