Daniel Oliver Bachman: Wissen Sie, ich existiere ja nur nebenbei (Zürich: Platz 2)
Sie kommen in Anzug und Krawatte. Sie kommen im kleinen Schwarzen. Sie kommen mit Hüten auf dem Kopf und sie kommen mit einem Schirm in der Hand. Sie setzen sich, sie wollen essen. Sie sagen nicht, sie wollen essen. Sie sagen, sie wollen dinieren. Das bringt mich auf die Palme. Das bringt mich ja sowas von auf die Palme.
Okay, hier ist die Geschichte. Alles darin dreht sich ums Losgehen. Einfach losgehen. Einfach losgehen und alles hinter sich lassen. Das kann ja nicht so schwer sein. Fuß vor Fuß setzen. Dann Fuß vor Fuß vor Fuß. Dann immer so weiter.
Losgehen halt. Und dann steht man doch manchmal da. Steht da und schaut dumm aus der Wäsche. So ist es bei den meisten. So ist es am Ende immer.
Schon klar, eine Geschichte sollte man nicht am Ende beginnen. Aber jetzt, wo Sie mich eingeladen haben.
Wie, das heißt nicht eingeladen?
Das heißt vorgeladen?
Wenn Sie meinen, dann vorgeladen. Da kann ich ja nicht anders, oder? Da beginne ich die Geschichte, wo andere gewöhnlich das Ende sehen. Da beginne ich beim Sterben. Beim Sterben bleibt was stehen. Was anderes geht los. Ich kann´s Ihnen flüstern, mitunter schauen die Leute da ganz schön dumm aus der Wäsche. Sagen noch schnell was Schlaues, für die Nachwelt: „Mehr Licht“, sagen sie, „auch du, Brutus“, sagen sie, „es ist vollbracht“, sagen sie. Ja, das kommt gut. Damit schafft man es in die Geschichtsbücher. Bei uns Normalos ist das anders. Rechts ist frei“, sagte der Beifahrer. „Was blinkt da für´n Lämpchen?“, der Pilot. „Kritische Masse? Vergiss die Kritische Masse“, der Atomphysiker.
Doch die meisten sagen nichts. Weil sie gar nicht mehr dazu kommen.
Was ich sagen werde? Fuß vor Fuß. Dann Fuß vor Fuß vor Fuß. Dann immer so weiter.
Das könnte mir gefallen.
Selbstverständlich, Sie haben Recht, Ordnung muss sein. Sie brauchen einen Namen. Das Protokoll braucht einen Namen. Nun, sagen wir … mein Name ist Müller. Genau, Müller. Magda Müller. Zwei große M, das sieht nach Festigkeit aus. Nach Festigkeit und Anstand. Beruf? Kaltmamsell. Sieht auch nach Festigkeit und Anstand aus. Außerdem kann ich Aufgewärmtes auf den Tod nicht ausstehen. Familienstand? Verheiratet. Festigkeit und Anstand sowieso.
Ob ich einen Espresso will?
Weil Sie jetzt einen nehmen?
Weil Sie einen nehmen soll ich auch einen nehmen?
Nur weil Sie…?
Was soll das heißen, das sei doch keine große Sache? Was soll das heißen, ich soll wegen einem Espresso keinen Negeraufstand machen? Das bringt mich eben auf die Palme. Die da sitzen, in Anzug und Krawatte, im kleinen Schwarzen. Die wollen auch Kaffee. Sie sagen aber nicht Kaffee. Sie sagen Cafe ristretto. Sie sagen Latte macchiatto oder Cappucino oder Espresso, so wie Sie. Sie sagen, wir wollen einen Espresso. Das bringt mich sowas von auf die Palme.
Ihnen ist das egal? Sie nehmen trotzdem einen? Na, dann bin ich mal nicht so. Geben Sie schon her. Die ist doch viel zu voll, die Tasse. Hoppala! Jetzt nicht mehr.
Jetzt laufen Sie nach einem Lappen.
Jetzt putzen Sie.
So viel Aufregung wegen so wenig Kaffee.
Aufgewärmt ist der obendrein.
Aufgewärmtes kann ich auf den Tod nicht leiden.
Wie meinen Sie das, jetzt fangen wir nochmals von vorne an? Wie meinen Sie das, Familenstand verheiratet sei falsch. Einmal verheiratet immer verheiratet, ist das nicht so? Nein? Sie sehen das anders? Da bin ich aber gespannt.
Verwitwet, sagen Sie? Mein Familienstand ist verwitwet? Na, wenn Sie das sagen. Da will ich mich nicht streiten. Wenn Sie das sagen, dann eben verwitwet. Das heißt aber dann doch auch wieder ledig?
Ich soll nicht immer das letzte Wort haben? Sie stellen hier die Fragen? Ist ja schon gut, regen Sie sich nicht auf. Sich aufregen ist schlecht für den Blutdruck. Aber es wäre trotzdem schön, wenn wir uns auf ledig einigen. Ledige Witwe, das könnte mir gefallen.
Wie, Kinder?
Keine, Gott sei´s getrommelt und gepfiffen.
Wohnort? Wohin mich Fuß vor Fuß führt. Und Fuß vor Fuß vor Fuß.
Habe ich Ihnen eigentlich schon von der Bratsche erzählt? Nein? Das interessiert Sie jetzt nicht? Deshalb sind wir nicht hier? Ich bitte Sie, wir haben doch Zeit. Haben wir nicht? Ich vielleicht, aber Sie nicht? Sie Armer. Trotzdem, die Bratsche. Ein schönes Instrument. Sie hat was Schmerzhaftes. Eine Bratsche zu halten hat was Schmerzhaftes. Der linke Arm muss eingedreht werden. Ich sage nur Schleimbeutelentzündung. Griffhand und Finger sind gespreizt. Ich sage nur Arthrose. Aber der Klang. Oh, der Klang. Voll und weich und dunkel, selbst in hohen Lagen. Wild und rauh und drohend in der tiefsten Saite. Die Bratsche ist das am meisten verkannte Instrument im Orchester. Die Kaltmamsell ist das am meisten verkannte Instrument in der Hotelerie.
Ja, Bratsche habe ich eigentlich schon immer gespielt.
Ich soll von Pflanzen sprechen und nicht über Musik? Warum soll ich von Pflanzen sprechen? Warum soll ich nicht über Musik sprechen wenn ich über Musik sprechen will…
… so lassen Sie mich doch…
… lassen Sie mich!…
… lassen Sie mich avec que la marmotte…
… Herrgottnochmal, avec que si, avec que la, avec que la marmotte, nein, das ist keine Musik für ein Orchesterinstrument, la marmotte ist der Dudelsack. Sie haben richtig gehört, der Dudelsack. Für den hat der Beethoven was Feines komponiert, dafür hat der Goethe was Feines geschrieben. Hören Sie. Jetzt hören Sie doch: „Ich komme schon durch manche Land, avec que la marmotte, und immer was zu essen fand, avec que la marmotte…“ Was? Was sagen Sie? Natürlich kann man das Lied auf der Bratsche spielen. Natürlich spiele ich das Lied auf der Bratsche. Weil es mir gefällt. Weil es ums Essen geht.
Oh, jetzt haben Sie mich in die Falle gelockt. Sie Schelm. Jetzt sprechen wir doch übers Essen. Ja, das Essen. Die Leute in Anzug und Krawatte. Im kleinen Schwarzen. Mit Hüten und Schirmen. Die kommen, die setzen sich, die wollen dinieren. Die bringen mich auf die Palme, ja, jetzt sprechen wir darüber. Sie haben´s geschafft, Sie Schelm. Sie Schlem. Manchmal vergesse ich die Worte. Manchmal verdrehen sie sich in meinem Mund. Die sind schlau, die Worte, sind wie Sie, sind wie alle Schlemme dieser Welt.
Wie alle Schlämme.
Körperkontakt habe ich im übrigen immer vermieden.
Meine Hand drauf.
Ich soll weiter sprechen? Übers Essen soll ich sprechen? Übers Dinieren, über Leute, die mich sowas von auf die Palme bringen? Wissen Sie, irgendwann sind wir alle erlöst. Irgendwann werden wir nicht mehr essen müssen. Können Sie sich das vorstellen? Eine Welt, in der keiner was isst, eine Welt, die keinen Appetit kennt? Da bleibt viel Zeit fürs Bratschespielen. Gottchen, Herr Goethe muss was Neues schreiben. Weil es überflüssig wird, Essbares aufzutreiben.
Zum Thema, zum Thema, ich soll wieder zum Thema kommen? Ich bin beim Thema. Würden die Leute nicht dinieren, wäre unser Gespräch überflüssig.
Würde, wäre.
Sie Schlem, grinsen Sie nicht so auf ihren Stockzähnen. Sie erfahren es noch früh genug. Mit Chrysanthemen habe ich angefangen. Flavonnoide sind da drin, Sesquiterpenlactone. Nicht dass ich glaube, es interessiert Sie. Sie sollten es trotzdem wissen. In dieser Welt, in der keiner eine Ahnung hat, was er isst. In der keiner bemerkt, wenn er Chrysanthemen isst. Das hat was bratschenmäßig Verkanntes, finden Sie nicht? Spinatsalat mit Radieschen - Kaltmamsell, übernehmen Sie! Im Hotel bin ich für ungewärmt genossene Speisen zuständig. So steht das in der Berufsbeschreibung: Eine Kaltmamsell ist für ungewärmt genossene Speisen zuständig. Salate sind ungewärmt genossene Speisen.
In der Regel.
Regeln sind wichtig.
In einen Spinatsalat mit Radieschen kommt Petersilie rein, ein ganzer Bund, außerdem Weissweinessig und Senfkörner.
Alles schön durchmischen.
Geriebene Chrysanthemen fallen da gar nicht auf.
Auf fällt die Benommenheit nach dem Essen. Was sage ich, nach dem Dinieren. Herren in Anzug und Krawatte taumeln. Damen im kleinen Schwarzen haben Kaukrämpfe. Gereizte Schleimhäute. Heulend verlassen sie das Restaurant. Den Salat verdächtigt keiner.
Komisch eigentlich.
Die Kaltmamsell geht unbefragt nach Hause.
Zur ihrer Bratsche.
Dort spielt sie „avec que si, avec que la, avec que la marmotte.“ Das spielt sie die ganze Nacht.
Ich sehe es Ihnen an, Sie kommen auf den Geschmack. Die Vorladung scheint sich zu lohnen. Aber Sie ahnen ja nicht, weshalb sich alles in meiner Geschichte ums Losgehen dreht. Einfach losgehen und alles hinter sich lassen. Fuß vor Fuß zu setzen. Dann Fuß vor Fuß vor Fuß. Und dann immer so weiter. Vielleicht verstehen Sie es, wenn der Bulgarische Schäfersalat ins Spiel kommt. Selbstverständlich bereitet den die Kaltmamsell zu. Bulgarischer Schäfersalat ist eine ungewärmt genossene Speise. Bei Bulgarischem Schäfersalat können Herr Schirm und Frau Hut ganz wunderbar dinieren. Feta und gelber Schafskäse kommt da rein. Fleischtomate und Salatgurke. Zwiebel und Schinken. Eier und Oliven. Da wird es bunt in der Schüssel. Keiner achtet auf die paar Brutknöllchen der Butterblume.
Oh geliebter Ranunculus!
Oh namensgebendes Glucosid Ranunculin!
Jetzt spitzen Sie die Ohren? Jetzt überprüfen Sie den Rekorder, ob er alles aufnimmt? Jetzt hören Sie ganz genau zu? Glucosid Ranunculin geht enzymatisch gespalten in hochgiftiges Protoanemonin über. Pro-to-an-em-onin. Das entzündet den Verdauungstrakt. Die Niere. Lähmt das Zentralnervensystem. Da schauen die Leute ganz schön dumm aus der Wäsche. Sagen nix Schlaues mehr, nix für die Nachwelt. Sagen vielleicht noch, mir ist so schlecht, sagen, das tut so weh! Dann zittern sie und fallen sie und ringeln übern Boden.
Dann machen sie nichts mehr.
Ich sage Ihnen, für ein Hotel ist das keine gute Werbung.
In einem vollbesetzten Restaurant sieht das gar nicht gut aus.
Und die Kaltmamsell?
Die geht nach Hause und spielt auf der Bratsche: „Ich komme schon durch manche Land, avec que la marmotte, und immer was zu essen fand, avec que la marmotte. Avec que si, avec que la, avec que la marmotte. Avec que si, avec que la, avec que la marmotte.”
Ja, Chef, es gibt Regeln. Gut, dass Sie fragen. Regeln sind wichtig. Regel Nummer Eins: Ich für meinen Teil vermeide jeden Körperkontakt.
Hand drauf, Chef!
Hand drauf, Fehc!
Hand drauf, Hecf!
Regel Nummer Zwei: Ich für meinen Teil bevorzuge Kartoffelsalat Tartar.
Regel Nummer Drei: Bei Kartoffelsalat Tartar achtel ich die Kartoffeln immer in Längsrichtung. Andere machen das anders, aber was kümmern mich Andere. Ich achtel Kartoffeln in Längsrichtung, koche sie in Salzwasser. Dann gut auskühlen lassen. Dann Mayonnaise mit Bouillon verrühren, Schnittlauch schneiden, Eier schälen, Petersilie und Cornichons hacken. Dann alles zusammen mit Kapern und gewürfeltem Schinken über den Salat geben. Dazu etwas Satanspilz, auch Blutschwamm genannt. Der wächst in lichten Laubwäldern, gerne unter Eichen, nicht das ich glaube, es interessiert sie. Weissgrauer halbkugeliger Hut. Kurzer Stiel, karminrot, wenn man draufdrückt, wird er grünblau. Muscarin ist da drin, ein starkes Kapillargift. Bei Muscarin können Sie die Uhr stellen: Fünfzehn Minuten bis Herr Schirm und Frau Hut dumm aus der Wäsche schauen.
Bie sie anfangen zu schwitzen.
Mächtigen Tränenfluss kriegen.
Bauchschmerzen sowieso und nicht zu knapp.
Starker Durchfall, nun ja. Der lässt sich nicht vermeiden. In einem Hotel, in einem Restaurant sieht das gar nicht gut aus. Da sitzen Menschen und wollen dinieren, und dann so was.
Atropin könnte helfen.
Atropin würde helfen.
Atropin, aus Blättern und Wurzeln der Tollkirsche.
Atropa Belladonna. Welch bratschenhaft schönes Wort. Kann übrigens auch bei schmerzhafter Regelblutung eingesetzt werden. Aber das interessiert Sie jetzt ganz sicher nicht.
Sie Schlem.
Sie Melsch.
Sie Leschm.
Und wer hat schon Atropin zur Hand, wenn sie zittern, wenn sie fallen und übern Boden ringeln? Wenn dann nichts mehr ist?
Das Warum?
Sie wollen das Warum?
Ja, haben Sie denn nicht zugehört?
Der Gast ist der natürliche Feind des Kochs.
So einfach ist das.
Zu einfach ist das?
Seltsam. Niemand will die einfache Wahrheit hören.
Alle wollen es kompliziert.
Weil das so ist, können Sie mir glattweg den Buckel runterrutschen, Sie Schlemm.
Rutschen Sie mir den Buckel runter und gewöhnen Sie sich an den Gedanken, dass Menschen nicht die Herrscher über Pflanzen sind.
Sondern deren Knechte.
Rutschen Sie mir den Buckel runter und gewöhnen Sie sich an den Gedanken, dass auch Sie schon bald dumm aus der Wäsche schauen.
Warum?
Schon wieder das Warum!
Ganz einfach: Sie hätten den Kaffee nicht trinken dürfen.
Vor allem nicht nach einem Lappen laufen.
Eine wie mich kann man keine Sekunde aus den Augen lassen.
Will man nicht dumm aus der Wäsche schauen.
Will man keine Cyanobakterien im Kaffee.
Tschuldigung, im Espresso.
Der aufgewärmt war.
Aufgewärmtes kann ich auf den Tod nicht leiden.
Cyanobakterien, richtig. Blaugrüne Algen genannt. So ziemlich das Giftigste, was ich kenne. Das liegt am Anatoxin-a. Anatoxin-a ist ein potenter cholinerger Agonist, nicht weil ich glaube, es interessiert Sie… aber sehen Sie doch!
Sehen Sie!
Anatoxin-a führt zu fibrillären Zuckungen!
Sehen Sie!
Zu muskulären Krämpfen!
Sehen Sie!
Zu Zähneknirschen, Brüllen, unkontrollierten Ruderbewegungen!
Nein, nein, nein! Weg da! Ich für meinen Teil vermeide jeglichen Körperkontakt!
Anatoxin-a führt zu Schaum vor dem Mund.
Anatoxin-a führt zum … Tod.
Der tritt durch Atemlähmung ein.
Sehen Sie: da bleibt keine Zeit, noch was Schlaues zu sagen.
Da bleibt keine Zeit für einen Gedanken an die Nachwelt.
Deshalb beginne ich meine Geschichten immer am Ende.
Deshalb beginne ich meine Geschichten mit der einfachen Wahrheit.
Weil den Leuten einfach keine Zeit bleibt.
Die da kommen in Anzug und Krawatte. Die dinieren möchten im kleinen Schwarzen.
Die da zu viele Fragen stellen.
Den Rekorder mache ich aus. Die Aufnahme lösche ich. Keiner braucht die mehr. Ich für meinen Teil existiere ja nur nebenbei. Nur nebenbei existiert die Kaltmamsell. Das am meisten verkannte Instrument in der Hotelerie.
Doch die muss jetzt los. Die muss los und alles hinter sich lassen. Die muss weiter. So viele Leute wollen noch dinieren. Die Kaltmamsell hat ja so viel zu tun.
Ich komme schon durch manche Land, avec que la marmotte, und immer was zu essen fand, avec que la marmotte. Avec que si, avec que la, avec que la marmotte, setze ich Fuß vor Fuß.
Dann Fuß vor Fuß vor Fuß.
Dann immer so weiter.