Siegfried Paul: Tonja (Zürich: Platz 4)
Eines Tages stand sie vor der Tür.Sie sei gerade aus London gekommen und nur kurz in der Stadt, sagte sie, in diesem leicht schwebenden, mir wohlvertrauten Ton, der sie nie verließ. Kann ich bei dir übernachten? fragte sie und kam nicht auf den Gedanken, daß ich nein sagen könnte. Ich hatte nie Nein gesagt.
Sie trug schwarze Turnschuhe, ein blaßrotes Kleid und eine ausgeblichene Jeansjacke. Ihr ganzes Gepäck bestand aus einem Rucksack mit Lederriemen. Die blau-grünen Augen lächelten, als ich beiseite trat und mit einladender Geste den Weg in die Wohnung freigab. Da ich erst vor kurzem eingezogen war, kannte sie die Wohnung nicht, dennoch bemerkte ich kein Zögern, als sie den Rucksack noch auf der Türschwelle fallen ließ und an mir vorbei in die Küche ging, dort den Kühlschrank öffnete und den Weißwein herausnahm. Ich wußte, daß du mich nicht verdursten läßt, sagte sie und nahm einen Schluck direkt aus der Flasche. Sie stellte die Flasche auf den Tisch, die Kühlschranktür blieb offen, ließ die Jeansjacke von den Schultern gleiten und war schon wieder aus der Küche, als ich ihren Rucksack auf dem Stuhl ablegte und die Kühlschranktür schloß.
Im Flur verstreut lagen ihre Schuhe, das Kleid auf der Schwelle zum Bad, ein schwarzer Slip auf den weißen Fliesen. Sie stand in der Badewanne und ließ heißes Wasser auf den Körper prasseln. Ich betrachtete sie. Als sie die Augen öffnete und mich sah, lächelte sie. Husch, sagte sie und machte eine graziöse Bewegung mit der Hand. Ich legte ihr ein Handtuch auf den Rand des Waschbeckens und verließ das Bad.
Ich ging zurück in die Küche, nahm ein Weinglas aus dem Schrank und stellte es neben die Flasche. Dann fiel mir der Rucksack auf. Da ich das Wasser im Bad mit unverminderter Heftigkeit rauschen hörte, hatte ich ein paar Minuten Zeit. Im Rucksack fand ich saubere Unterwäsche, eine Jeans, einen schwarzen Pullover. In einem kleinen Etui Zahncreme, Bürste und eine Nagelfeile. Ein zerlesenes Exemplar von Bretons Nadja auf deutsch, als Lesezeichen eine Bahnfahrkarte für den heutigen Tag, ausgestellt in Zürich. Die Brieftasche, deren Nähte sich zu lösen begannen, enthielt Schweizer Franken im Wert von fast tausend Euro und ihren Reisepaß. Auf dem Foto hatte sie noch lange Haare und das Aussehen eines Schulmädchens: Antonia van der Loh, geboren in Amsterdam. Ich kannte sie unter dem Namen Tonja.
Plötzlich merkte ich, daß es still geworden war. Ich legte die Brieftasche zurück zwischen die Kleidungsstücke, als ich einen scharfkantigen Gegenstand spürte, einen Schlüssel. Ohne nachzudenken, steckte ich ihn ein. Ich ging zum Fenster und blickte auf die Straße hinunter, wo in endloser Folge die Autos fuhren. Als ich Tonja hereinkommen hörte, drehte ich mich um, sie hatte das Handtuch um den Körper geschlungen, die kurzen, schwarzen Haare glänzten noch feucht. Sie strahlte eine kindliche Frische und Sorglosigkeit aus. Und gleichzeitig war da eine Wehmut in ihren Augen, die sie älter erscheinen ließ, viel älter als mich.
Ich machte zwei Schritte zum Tisch, füllte das Weinglas und reichte es ihr. Danke. Jetzt geht es mir schon besser. Ich dagegen hatte immer noch kein Wort gesagt, seitdem ich ihr die Tür geöffnet hatte. Ich fragte sie nicht, warum sie ausgerechnet zu mir gekommen war, nicht einmal, woher sie meine Adresse hatte.
Nachdem sie einen Schluck getrunken hatte, bemerkte sie den Rucksack auf dem Stuhl, stellte das Glas auf den Tisch und begann, in der Tasche zu wühlen. Aber sie holte nur einen roten, mit Spitzen besetzten Slip heraus, legte ihn neben das Weinglas. Dann zerrte sie die Jeans hervor, wobei ein paar Münzen auf den Fußboden fielen und herumrollten, bis sie irgendwo mit einem leisen Nachklingen zur Ruhe kamen. Ich rührte mich nicht, tastete nur vorsichtig nach dem Schlüssel in meiner Hosentasche. Dreh dich mal kurz um, sagte sie, gefolgt von einem ironischen Bitte.
Im Widerschein des Fensters konnte ich undeutlich ihren nackten Körper erkennen wie auf einem blassen Negativ, ihre Bewegungen, als sie die Jeans über die schmalen Hüften zog. Dann blickte ich wieder auf die Straße, auf die rasenden Autos. Abrupt drehte ich mich um: Ich muß gehen. Meine Stimme klang heiser und gereizt, als wären es nicht meine Worte. Ich ging an ihr vorbei, nahm meine Jacke und öffnete die Wohnungstür. Ohne mich noch einmal umzudrehen, sagte ich, sie solle sich wie zu Hause fühlen. Dann rannte ich die Treppe hinunter.
Ich fuhr zum Hauptbahnhof, ich war mir sicher, daß der Schlüssel zu einem Schließfach passen würde, Tonja war aus Zürich gekommen. Im Fach mit derselben Nummer wie auf dem Schlüssel lag ein unscheinbares, braunes Kuvert. Ich entnahm es und verschloß das Fach wieder. Verstohlen blickte ich mich um, das Kuvert flößte mir Unbehagen ein, es mochte Geld enthalten, Briefe oder Fotos, doch ich widerstand der Versuchung, es zu öffnen. Etwas wie Scham hielt mich zurück. Im nächsten Raum, tausend Nummern weiter, legte ich den Umschlag in ein leeres Fach. Jetzt hatte ich zwei Schlüssel.
Als ich am späten Abend in die Wohnung zurückkehrte, hörte ich Stimmen, aber es war nur der Fernsehapparat, dessen flackerndes Licht das Zimmer erleuchtete. Tonja schlief. Sie hatte sich in mein Bett gelegt, wie sie alles für sich in Anspruch nahm, die Menschen in gleicher Weise wie deren Besitz. Die Bettdecke verhüllte gerade ihren Hintern und das linke Bein, sie schlief auf dem Bauch, die Arme um das Kissen geschlungen, ihr nackter Rücken erglänzte im unsteten Rhythmus der Fernsehbilder. Da sie die Diagonale des Bettes nutzte und mir keinen Platz ließ, zog ich es vor, auf dem Sofa zu schlafen. Ich drehte die Lautstärke langsam herunter, um Tonja nicht aufzuwecken, dann ließ ich die Bilder verschwinden. Es war jetzt still in der Wohnung. Ich steckte ihren Schlüssel zurück in den Rucksack und versuchte einzuschlafen.
Wo ist der Kaffee? hörte ich sie rufen. Ich hatte Schwierigkeiten, mich zu orientieren, da ich noch nie eine Nacht auf dem eigenen Sofa verbracht hatte. Unfertig und müde fühlte ich mich. Schranktüren wurden geöffnet und wieder geschlossen. Hab‘ ihn schon. Ich ließ die Augen geschlossen, obwohl an Schlaf nicht mehr zu denken war. Aber ich täuschte mich. Ich erwachte ein zweites Mal, als Tonja mit munterem Elan ins Zimmer kam und den Duft von Kaffee, Toast und Spiegelei mitbrachte.
Guten Morgen. Ihre Stimme war eine Spur zu fröhlich, als daß ich freudig antworten konnte, ich murmelte nur etwas entsprechendes. Dann erst öffnete ich die Augen – und erblickte den roten Slip. Außerdem trug sie ein kurzes Hemd, das weit über dem Bauchnabel endete. Tonja setzte das Tablett mit dem Frühstück ab, tänzelte um den Tisch herum und küßte mich. Guten Morgen, wiederholte sie mit der gleichen irritierenden Fröhlichkeit. Café au lait, nicht wahr? Schon reichte sie mir eine Tasse mit heißem, milchbraunem Kaffee.
Halbnackt, als wären wir ein vertrautes Paar, unbefangen, als wäre ich unempfänglich für ihre Reize, bewegte sie sich vor meinen Augen. Verstörend und aufreizend zugleich. Ich dagegen kam mir unbeholfen und schwach vor unter ihrem wachsamen Blick, während sie mit gesundem Appetit in den Toast biß. Ich zog meine Jeans an, die neben dem Sofa auf dem Boden lag, ein Schluck Kaffee gegen den schlechten Geschmack im Mund, ich ging ins Bad. Im Spiegel mein übernächtigtes, unrasiertes Gesicht, und als ich merkte, daß der Schlüssel nicht mehr in der Hosentasche war, kam Erschrecken hinzu, den ich nur mit viel kaltem Wasser fortspülen konnte. Ich duschte und rasierte mich.
Tonja hatte sich inzwischen angezogen, ihre Jeans und ein hellblaues Hemd mit einem Muster, das mir bekannt vorkam, es war mein Hemd. Den Rucksack geschultert stand sie in der offenen Wohnungstür und wollte gerade gehen: Es kann spät werden, du brauchst nicht auf mich zu warten. Sie spitzte ihre Lippen zu einem angedeuteten Kuß, lächelte und schloß die Tür mit Schwung. Die Selbstverständlichkeit, mit der Tonja mein Leben bestimmte, verblüffte mich immer wieder, obwohl ich es besser wissen sollte. Schnell zog ich mich ebenfalls an, um ihr zu folgen.
Auf der Straße war sie nicht. Ich eilte zur nächsten Straßenecke, und da sah ich Tonja etwa hundert Meter vor mir. Mit derselben fast schwebenden Leichtigkeit, die sie auch sonst auszeichnete, bewegte sie sich durch die Straßen. Ihr linker, freier Arm schwang im Rhythmus ihrer Schritte, die rechte Hand hielt den Rucksack. Der schlanke, knabenhafte Körper in den engen Jeans tanzte wie zu einer unhörbaren Melodie.
Nie zuvor war ich einer Frau auf diese Weise gefolgt. Es war infam. Und es war aufregend, wie durch ein Schlüsselloch zu sehen. Tonja drehte sich nicht um. Dennoch hielt ich Abstand, um nicht gesehen zu werden.
Sie ging nicht zum Bahnhof, sondern in eine andere Richtung, sie blieb vor Schaufenstern stehen, änderte die Richtung wie eine Spaziergängerin, die sich treiben läßt. Schließlich kamen wir in ein Stadtviertel, das mir nicht vertraut war, in eine Straße mit kleinen, unaufgeräumten Läden. Tonja betrat ein Eisenwarengeschäft, ich überquerte die Straße, um mehr zu erkennen, auf die Gefahr hin, daß sie gleich wieder herauskäme. Durch die verstaubte Scheibe konnte ich sehen, wie sie mit einem Mann sprach. Er schüttelte den Kopf. Tonja sagte wieder etwas, ihr rechter Arm bewegte sich nach vorne in Richtung des Mannes. Jetzt nickte dieser langsam, er wandte sich ab und verschwand im hinteren Teil des Ladens.
Tonja blieb stehen und wartete, wandte nur einmal kurz den Kopf zur Seite und blickte zur Straße hinaus, als habe sie mich gesehen. Ich zog mich wieder zurück auf die andere Straßenseite. Nach einer Viertelstunde kam sie heraus und ging zielstrebig in die Richtung, aus der wir gekommen waren. Ich konnte mich gerade noch in einer Toreinfahrt verbergen, als sie an mir vorüberging. Und als ich wieder auf die Straße trat, war Tonja nicht mehr zu sehen. Ich eilte zur nächsten Ecke, doch dieses Mal blieb sie verschwunden.
Sie kam nicht zurück, weder am Abend noch in der Nacht. Ich wartete lange, trank die Flasche Weißwein leer und schlief irgendwann auf dem Sofa ein.
Am nächsten Morgen blieb es still in der Wohnung, mein Bett war unberührt. Im Bad erinnerten nur das blaßrote Kleid und der schwarze Slip daran, daß Tonja dagewesen war. Vielleicht würde sie einmal wiederkommen, um ihre Sachen zu holen. Ich setzte mich an den Schreibtisch, um die Arbeit fortzusetzen, die ich zwei Tage zuvor unterbrochen hatte. Ich versuchte, nicht mehr an Tonja zu denken, und es gelang für ein paar Stunden.
Es war später Nachmittag, als es an der Wohnungstür klingelte. Mein erster Gedanke war Tonja, und freudig öffnete ich die Tür, doch es standen nur zwei Männer davor.
Ja, bitte? – Antonia van der Loh, ist sie da?
Nein. Ich meine, wer sind Sie?
Ich bin nicht reaktionsschnell und nicht gewohnt, mit solchen Situationen umzugehen. Als ich die Tür schließen wollte, hielt der eine Mann einfach dagegen und drückte mich zur Seite. Was fällt Ihnen ein? versuchte ich mich zu wehren, als Antwort schlug er mir ins Gesicht, so einfach, als würde er eine Fliege verscheuchen. Ich stolperte zurück und spürte den Geschmack von Blut im Mund.
Wo ist sie? Er sprach ganz ruhig, als wäre es eine normale Unterhaltung. Ich antwortete nicht. Sie hatten jetzt beide die Wohnung betreten und die Tür wieder geschlossen. Ich war allein mit ihnen. Ein Gefühl von Unwirklichkeit erfaßte mich. Wo ist der Umschlag? Er sprach einfach weiter, ohne ungeduldig zu werden. Freundlich klang die Frage, die ich doch nur zu beantworten brauchte.
Ich weiß nicht, wovon Sie reden, sagte ich endlich und tastete mit der Hand zur Lippe, die ein wenig schmerzte. Der Mann trat auf mich zu, so daß ich unwillkürlich zurückwich bis zum Schreibtisch. Der zweite Mann war ins Schlafzimmer gegangen, ich hörte, wie etwas umgestoßen wurde. Ich rührte mich nicht, als der Mann ganz dicht an mich herankam und ich seinen Atem im Gesicht spürte. Mit einer beiläufigen Bewegung wischte er einen Stapel Papier vom Schreibtisch, flatternd verteilten sich die Seiten auf dem Fußboden. Mehr brauchte es nicht.
Sagen Sie ihr, wir geben ihr 24 Stunden. Sein Atem verursachte mir Übelkeit. Er wandte sich um, als der zweite Mann ins Zimmer kam und bedeutungsvoll den Kopf schüttelte. Ich machte eine Bewegung, und vielleicht dachte er, ich würde ihn angreifen, denn ansatzlos schwang sein Arm zurück und traf seine Hand wieder mein Gesicht, heftiger dieses Mal, der Schmerz so unerwartet und stark, daß meine Augen sich mit Tränen füllten und ich mich zu Boden sinken ließ. Völlig erfaßt von diesem Schmerz, diesem befremdlichen Erleben, merkte ich kaum, wie die beiden Männer die Wohnung verließen.
Es dauerte einige Zeit, bis ich mich beruhigt hatte und die Schmerzen im Mund sich in ein heißes Etwas verwandelt hatten, das ich aushalten konnte. Die Blutstropfen auf dem weißen Papier am Boden wirkten sonderbar und wie aufgemalt. Erst im Bad sah ich, daß auch mein Hemd blutverschmiert war, doch nachdem ich mein Gesicht vorsichtig mit kaltem Wasser gereinigt hatte, zeigte sich nur ein schmaler Riß im Mundwinkel, der sich größer anfühlte, wenn ich mit der Zunge dagegen stieß.
Seltsamerweise fühlte ich mich stolz, als ich meine Wunde betrachtete. Ich zog ein frisches Hemd an, sammelte das Papier auf, legte die Matratze wieder zurecht, die der zweite Mann umgedreht und gegen den Schrank geworfen hatte. Der leise pochende Schmerz begleitete mich über die nächsten Stunden, bis es Mitternacht war. Tonja kam nicht.
Sie kam auch nicht am nächsten Tag. Mittags verließ ich die Wohnung und ging ins Café gegenüber, um zu sehen, ob die Männer wiederkämen. Ich wollte nicht allein in der Wohnung sein. Doch nichts geschah.
Die Stunde der Drohung ging vorüber, es wurde dunkel, ich blieb im Café. Nach einigen weiteren Stunden, kurz vor Mitternacht, ging ich zurück in die Wohnung, ich machte kein Licht. Ich legte mich ins Bett und schlief ein.
Irgend etwas weckte mich, ein Geräusch, ein Luftzug, eine Bewegung, es war jemand im Zimmer. Als ich schreien wollte, legte sich eine feste, aber zugleich zärtlich-warme Hand über meinen Mund, daß ein heller Schmerz mich durchzuckte. Es war Tonja. In meinem Bett. Als sie merkte, daß ich mich entspannte, nahm sie die Hand von meinem Mund und ersetzte sie durch ihre Lippen. Ihr Mund küßte mich so sanft, daß der Schmerz langsam verging. Tonja war in meinem Bett, nackt unter der Decke.
Während sie mich küßte, fühlte ich ihre Hand auf meiner Brust, ein Schenkel legte sich über mein Bein, bewegte sich aufwärts, und schlangengleich glitt ihr ganzer Körper über den meinen, während sie mich küßte und mit den Händen meine Schultern hielt und ich gefangen war in ihren Armen und sich ihr Körper langsam auf mir bewegte. Ich ließ es geschehen. Ich ließ alles geschehen.
Nur einmal unterbrach sie den langen Kuß, ihre Lippen flüsterten an meinem Ohr: Das war eine gute Idee mit dem zweiten Schlüssel. Und dann küßte sie mich wieder, und ich verstand nichts. Ich wußte nur, daß Tonja bei mir war, wie ich es mir immer gewünscht hatte.
Am Morgen war sie fort, auch das Kleid und der Slip waren nicht mehr im Bad, nur ihr Buch lag auf dem Küchentisch. Während ich noch an die vergangene Nacht zurückdachte und nicht recht begreifen konnte, daß Tonja nicht mehr bei mir war, blätterte ich in dem Buch und las den unterstrichenen Satz Ich bin die umherirrende Seele. Da mußte ich lächeln.