Ferdinand Taler: Fischer: Es war mal wieder...
Es war mal wieder Samstagnachmittag und es gab keinen Plan. Mit Laura war schon seit vier Monaten Schluss und ich saß daheim rum. Die anderen waren übers Wochenende an die Ostsee gefahren. Ich hatte arbeiten müssen bis etwa gegen vier. Zu der Zeit war viel los, ich hatte einen Job und war in der Lernphase für meinen Studienabschluss in Politologie. Aber jetzt war ich fertig. Behalten würd ich eh nichts mehr können, ich musste was anderes machen. Ende Mai, schönes Wetter, Stimmung noch positiv. Ich hab den Laptop hochgefahren, ins Internet rein. Erst mal Emails – nichts Persönliches von irgendjemandem, der relevant ist. Rüber ins StudiVZ. Auch nichts. Dann auf meinen Account bei den Lokalisten. Keiner der Freunde online, nichts im Postfach, nicht mal jemand, der auf mich geklickt hätte – das kann man ja sehen. Mich beschlich eine Ahnung, dass der Abend gefährlich langweilig werden könnte. Sowas wie allein ins Kino, dann allein ins Corduroy und dann die Restnacht allein vor dem Fernseher. Ich begann, bei den Lokalisten-Usern zu suchen. Zuerst hab ich mir ein paar von den neuen Accounts angeschaut, dann neue Tagebücher und was es sonst noch für Zeug gibt. Vielleicht die einzige Chance, etwas auszulösen, das an diesem Samstag noch zu einem Date führen könnte. Realistisch gesehen war der Abend gelaufen. Es ist nicht so, dass sich in solchen Communities lauter spannende Menschen aufhalten. Diejenigen, die ständig mit ihrem Profil, irgendwelchen Community-Chats oder eigenen Blogs beschäftigt sind, haben offensichtlich keine wirklichen Freunde und nichts zu sagen. Inhaltsleeres Geplapper, manchmal unabsichtlich lustig. Gerade mal pubertierende Mädchen benutzen oft Tierfotos in ihrem Profil. Frauen bis Mitte zwanzig setzen gerne Mal ihr Alter mit in den Namen, so was wie Süßemaus24. Süße Maus30 habe ich noch keine gefunden. Jüngere Männer heißen wie Comicfiguren, ältere wie Schauspieler oder Filmfiguren: FunTomas, Jack Nicholson, Brad Pitt 47, wobei die anderen 46 nicht zu entdecken waren. Hat nicht lang gedauert und ich war auf Namensuche. Seit ich mit Laura zusammen war, meine ich immer, dass Mädchen mit diesem Namen schön sein müssten. War aber nichts unterwegs. Dann viel mir ein, dass ich vor vier Wochen eine Frau kennen gelernt hatte, die Josephina hieß. Zuerst kam nichts. Hab mir vorgestellt, was für einen Kurznamen sie wohl benutzen könnte. Cremefarbene Lederjacke, BWL-Studentin, hübsch und überraschend natürlich. Eine Frau, die ständig ins Grüne fährt, gar nicht so nachtaktiv ist. Klassische Berlin-Mitte-Frau. Jossi hab ich gedacht würde passen. Oder Joss. Plötzlich tauchte dieser Name auf. Nein, nicht Joss. Joschi. Es war ein Mann, ja, mit einem kryptischen Bild in seiner Bildergalerie, auf dem seine Hände waren. So dürermäßig, aber nicht gefaltet sondern ineinander gelegt. Um die fünfzig hätte ich die geschätzt, die Hände, und ich fand es einfach nur interessant, dass ein Fünfzigjähriger seinen Account bei den Lokalisten hat und was wohl in einem Profil steht von jemandem, der die Hände faltet. Das war auch sein einziges Bild. Alter stand 99 und das hieß wohl, dass er sein richtiges Alter nicht angegeben wollte. Bei ‚womit ich mein Geld verdiene’ stand tatsächlich ‚Macht ausüben’ und das fand ich ja schon mal arschig lustig. Dann kam ich ins Stocken. Sein letztes Buch war Eric Claptons Autobiographie und sein letzter Film im Kino ‚Der ewige Gärtner’. Es war halt so, dass ich zufällig ein Interview mit Fischer am Rande der Berlinale mitbekommen hatte und da hat er bei einer Frage genau diese zwei Titel angegeben. Habe mich dann natürlich gefragt, ob es sein könnte, dass Fischer einen Account bei den Lokalisten hat? Und wenn ja, für was? Wird darüber kaum seine Netzwerke pflegen. Zum Spaß gebe ich Büti ein – nichts. Dann ein paar Variationen. Büdi, Koffer, Büko. Natürlich nichts. Die Roth hab ich auch ausprobiert und nicht gefunden. Zurück zu Joschi. Ich las das Profil genau und stellte fest, dass es wirklich möglich wäre. Alles ganz witzig geschrieben, ein bisschen locker, mal mit Zweideutigkeiten, in so jovial-männlicher Tonart, mal ganz ‚wichtig-wichtig’. Bei ‚wo wohne ich’ schrieb er zum Beispiel ‚im Grünen’. Geld verdiente er als Privatier, für Lieblings-Fernsehserien hatte er ‚keine Zeit’. Hu. Lieblingslied war irgendein Schubertlied. Auch hu. Seinen Tanzstil bezeichnete er als ‚wild, manchmal unkontrolliert’. Wen ich schon immer mal treffen will: ‚dich’. Alles würde zu Figur des Politikers passen. Ich habe beide Biographien gelesen; weil ich Politik studiere, nicht aus starkem Interesse an der Person. Also hat da entweder jemand gut recherchiert und einen gefälschten Account angelegt, oder er ist es wirklich: Fischer hat einen Lokalistenaccount, um aufzureißen.
Eigentlich hatte er ja vor ungefähr zwei Jahren geheiratet - sollte doch ne Zeit reichen, auch für die körperlichen Bedürfnisse. Aber mit so ’ner Karriere schwappt das Selbstvertrauen irgendwann wohl über – und wenn man raus ist aus diesem Geschäft braucht man dann alle paar Monate ne Affäre, um das Selbstbild zu erhalten. Ich ganz aufgeregt. Das war ein Gefühl, als ob ich eine Schatzkarte gefunden hatte. Oder wie Bob Woodward kurz vor der Aufdeckung der Watergate-Affäre. Irgendwie, dachte ich mir, muß man das doch nutzen können. Nein, nicht Erpressung oder so. Er war ja schon draußen, nicht mehr aktiv. Das hätte keinen mehr wirklich interessiert. Was fragen. Dinge, die mich interessieren. Wie das so funktioniert, mit der Macht. Was Putin wirklich will. Ob wir vor einer Rezession stehen. Ob Bush eine Marionette ist. Was der echte Grund für die Irakinvasion war. Wie die Welt funktioniert hinter dieser politisch korrekten Pseudodiskussion, die uns die so genannten seriösen Zeitungen ständig auftischen. Aber erstmal musste ich Kontakt aufnehmen, rauskriegen, ob er’s ist - ein gefälschter Account musste her. Klar war, dass Fischer mit nem Typen nicht reden würde. Der wollte hier aufreißen, also würde ich zu einem virtuellen Superweib werden. Ich brauchte einen Köder, der dem Fisch gefällt. Der musste glaubhaft sein und anziehend. Fischers Frau ist ziemlich jung und sehr südländisch. Eine hübsche Medientusse mit Migrationshintergrund. Die davor war ein Amelie-Fried-Typ; aber ohne diese Betroffenheitsausstrahlung. Das hieß zumindest, dass er sich nicht auf eine Haarfarbe festlegt. Wegen der Abwechslung ließ ich sie jetzt wieder blond sein. Jurastudentin, reiches Töchterchen mit Hobbys Reiten und Polo, das würde ihm imponieren und könnte eine vergleichbare Selbstwertneurose erahnen lassen. Alter 27 Jahre, noch fest, alles in allem, fester jedenfalls als seine mittdreißigjährige Schabrake. Europäisches Recht als Schwerpunkt, irgendeinen richtig guten Dozenten als ihren Doktorvater. Ein paar Semester nach England – klar Mr. Außenminister – zu einem bekannten Rechtsphilosophen nach Cambridge. Lieblingsbuch und letzte Bücher irgendwas, dass ahnen lässt, dass sie nicht zu kopflastig ist. Etwas, das unter der Gürtellinie kribbeln kann. Diese Israelin, die Shalev, Liebesleben. Das war gut. Das Buch passte, wenn’s auch nicht gerade aktuell war. Und hinterher das Neue von Charlotte Roche, der ehemaligen Viva-Moderatorin. Hab ich nicht gelesen, aber da muß irgendwas mit Lesben und ungewaschenem Sex drinstehen. Genau richtig für eine Frankfurter Geldadelsschnepfe, die intelligent war und karriereorientiert, aber auch in der Horizontalen gut funktionierte. Eine die auf Macht steht und vielleicht auch auf passende Spielchen. Name: Clara. Jetzt brauchte ich Bilder. Passend zu seinen Händen hätte ich natürlich auch ein Detail nehmen können. Ich musste aber aussagekräftig sein. Gesicht im Anschnitt, mit Hut. Über Google hatte ich in Nullkommanix ein paar nette Bilder. In ihre Bildergalerie natürlich ihr Lieblingspferd. Ich nannte es Gerd. Gerd, das Pferd. Dieser kleine Witz war gefährlich. Zuletzt musste ich meiner Figur ein kleines Netzwerk verschaffen. Ein paar Freunde auf den Lokalisten. Ich rief meinen jüngeren Bruder an, der schon verheiratet ist. Jetzt hatte ich ihn, seine Frau und mich. Das reichte erst mal.
Dann habe ich ihm eine Nachricht geschrieben. ‚’Wie alt muss man sein und wie viel Zeit muss man haben, um Eric Claptons Biografie zu lesen. Reicht ein Samstagabend?’, hab ich gefragt. Das konnte man als echte Frage verstehen und als Provokation. Irgendwas zum Anbeißen halt, was Besseres ist mir auf die Schnelle einfach nicht eingefallen. Ich habe SMS-Funktion eingestellt – wenn er antworten würde, schickte das System sofort eine SMS - und hoffte, dass er das Wochenende da ist, reingeht, sich meldet. Ansonsten hatte ich noch immer keinen Plan für den Abend und bin schnell Abendessen kaufen gegangen – Tiefkühlpizza und was zu trinken.
Ich war an der Kasse im Supermarkt, da vibriert das Handy – SMS – Joschi hat dir eine Nachricht gesendet. Das war ein besseres Gefühl, als eine Mail von Laura zu bekommen – auf die ich seit bald vier Monaten warte. Ich nichts wie zurück und hoch in meine Wohnung, Pizza in den Ofen geworfen, an den Computer, rein zu den Lokalisten.
‚Erfahrungen vererben sich nicht – jeder muss sie alleine machen.’
Das war Wahnsinn. Ich kannte das Zitat nämlich. Das war Tucholsky. Ich kenn wirklich nicht viel, aber das kannte ich. Schnell ins Internet auf zitate.de und schon hatte ich ein Passendes – auch von Tucholsky: ‚Erfahrung heißt gar nichts. Man kann eine Sache auch 35 Jahre falsch machen.’
Wenn er es war, dann hatte er jetzt genau das Gefühl, was er brauchte. Fischer war doch ein Underdog, einer von unten, der seinen Minderwertigkeitskomplex nie ganz verloren hatte. Ohne Abi, keine Ausbildung, Taxifahrer ecetera. So eine schöngeistige, blonde, bisschen überhebliche Reiche müsste doch genau eine sein, die jemand wie er gern beflecken wollen würde. Die Frage war, ob er es glauben würde, dass jemand wie Clara einen Lokalistenaccount halten würde. Ob er mir all das abnehmen würde. Eigentlich gehörte meine ‚Clara’ am ehesten auf ‚Smallworld’, auch so eine Community, aber exklusiver, glauben die User zumindest. Es dauerte ein bisschen, dann kam die Retoure:
‚Du bist frech. Und du bist nicht dumm. Das mag ich.’
Das war ja schon ganz schön verwegen. Gmahde Wiesn, wie der Bayer sagt – ich komme ursprünglich aus Ingolstadt. Joschi wollte es wissen. Ohne Kontrolle, wer da was macht und ob das echt ist. Vielleicht wird die Politik ja zu unrecht als Minenfeld bezeichnet und alle sind nett zueinander, halten sich in feierlichen Stunden an den Händen und so. Joschi jedenfalls war gutgläubig. Und er hat unsere schlappen dreißig Jahre Altersunterschied souverän überspielt. Dann also frech weiter.
‚Du bist älter. Und nicht dümmer. Das könnte ich mögen.’
‚Wie können wir das jetzt rausbekommen’ kam zurück – ich war enttäuscht. Nicht sehr intelligent, dachte ich mir. Schnell und plump. Aber ich war großzügig. Ich hatte ein Ziel. ‚Was?’ hab ich gefragt. Dann erst mal weg vom Computer. Ich habe mich gezwungen, in Ruhe meine Pizza zu essen, ein Glas Wein zu trinken, wenn auch ziemlich schnell. Und noch eines. Der Fisch muß zappeln. Die nächste Mail war schon im Eingang: ‚Naja, wie willst du rausbekommen, ob du mich mögen könntest?’
‚Wie wärs mit einem Bild?’, hab ich gefragt. Es dauerte. Es dauerte eine ganze Weile. Entweder wußte er nicht, dass man über Lokalisten keine Dateien schicken kann und suchte nach einem Weg oder er überlegte sich, ob er überhaupt was schicken sollte. Nach knapp zehn Minuten kam die Antwort. ‚Wie’. Er wollte also schicken. Ganz schnell habe ich einen GMX-Account angelegt und ihm mein ‚Privatmailkonto’ zukommen lassen. Clairevulgaer@gmx.de. Dich mach ich fertig, Fischlein.
Drei Minuten später ein Eingang auf meinem neuen GMX-Konto. Fischer auf einem recht privaten Foto. Am Badestrand. Zu privat, um genau zu sein. Erstaunlicherweise körperlich mehr fit, als ich gedacht hatte. Nach seinem langen Lauf zu sich selbst war er inzwischen ja wieder aufgegangen wie ein alter Karpfen. Trotzdem ekelte mich ein bisschen. Ich meine, ein Strandfoto. Das wär mir selbst bei einem Internetflirt mit ner Frau als erstes Foto ein bisschen zu konkret. Ich meine, wir sind ja nicht auf einer Schwulenseite, wo schnell mal Bilder von Schwänzen über die Server laufen. Das hieß aber, dass er eindeutig und klar körperlich werden wollte. Ein bisschen vermessen fand ich’s noch dazu. Dachte ein fast Sechzigjähriger wirklich, dass die, sagen wir mal jugendliche Blonde, auf seinen erschlaffenden Männerkörper abfährt? Egal. Ich schrieb zurück.
‚Pfiffig. Und wer sagt mir, dass du wirklich der Mann auf dem Foto bist?’
‚Ausprobieren’, kam zurück.
‚Meine Handynummer hat acht Stellen. Die Vorwahl ist 0176’, hab ich ihm geschrieben.
Er: ‚Was willst du?’
‚Was ich will?’, fragte ich zurück. ’Was willst du denn?’ Kaum versendet, hab ich mich über mich selbst geärgert. So geht das nicht. Ich tu ja so, also ob ich die große Liebe finden möchte. Zum Schluss hört er auf, weil ich wie auf Beziehungssuche rüberkomme. Wie schnell man doch diese Frauen-Sicherheitsdenken-Versorgernummer verinnerlicht, wenn man selbst eine spielt. Das musste anders werden. Seine Antwort fiel auch dementsprechend aus: ‚Ich hab dich für abenteuerlustiger gehalten.’
Ich war mir nicht sicher, ob ich jetzt schon wirklich ernst fragen könnte. Ich wollte es vorsichtig probieren: ‚Beweis mir erst mal, wer du bist. Erzähl mir was, dass nur du weißt. Etwas über Macht. Etwas, das nicht in der Zeitung steht.’
Es dauerte mindestens eine Viertelstunde, dann kam folgendes:
‚Demnächst wird der Sicherheitsrat der UN die Sanktionen gegen den Iran verschärfen. Chinesen und Russen werden sich der Stimme enthalten. Vordergründig geht es um atomare Wiederaufbereitungsanlagen, um die Angst vor Nuklearwaffen in den Händen der Mullahs. In Wahrheit aber wird das Bemühen der Iraner um einen neuen Ölhandelsplatz torpediert, der in Euro abgerechnet werden soll. Iran fördert soviel Öl, dass die neue Börse relevant sein könnte. Daneben könnten sich kleinere Förderländer oder – sagen wir mal – dem Westen oder den westlichen politischen Systemen eher vorsichtig gesinnte Länder wie zum Beispiel Venezuela für den neuen Handelsplatz entscheiden. Damit haben Europäer und Amerikaner ein Problem. Der Euro wird steigen, weil die Nachfrage nach Euros größer wird. Der Export für Europa wird schwieriger. Zeitgleich bekommt der Dollar ein Problem, beziehungsweise, sein Problem verstärkt sich. Da es weltweit mehrere hundert Milliarden US-Dollar gibt, die von unterschiedlichsten Ländern in Banknoten als Reserve gehortet werden um Öl zu kaufen, haben die Amerikaner quasi bedrucktes Papier gegen Geldwert und die daraus folgenden Zinsen gegeben. Ein Bedeutungsverlust des Dollars als weltweite Währungsreserve bedeutet für die US-Notenbank einen Einnahmerückgang. Auf gut deutsch. Die US-Regierung wird auf einem riesigen Haufen bedruckten Papier rumsitzen. Es geht also nur um die Angst vor einem Einnahmeverlust der Amerikaner. Und der Europäer. Und wenn die Iraner das wahr machen, dann wird das wohl der nächste Krieg.’
Ich war platt. Das wusste ich nicht. Ich beließ es dabei und hab nicht mehr geantwortet. Was hätte ich denn noch sagen sollen? Auch Joschi war zu stolz, sich zu melden.
Aber manchmal, wenn ich zu den Lokalisten reingehe, klicke ich auf seinen Account. Dann frage ich mich, ob er es wirklich ist, und was er sich wohl noch gedacht hat, nachdem nichts mehr kam. Vielleicht war Gerd auch einfach zuviel. Gerd das Pferd.