Birgit Krenn: Fremde
Es ist vier Uhr morgens als Klara erwacht. Draußen ist es noch dunkel, nur der Vollmond bricht durch die zugezogenen Gardinen und verleiht den Gegenständen unheimliche Konturen. Es ist lange her, seit sie eine Nacht durchschlafen konnte. Nicht immer wird sie geweckt, manchmal ist es auch nur die Erwartung, die sie nicht schlafen lässt.
Der dumpfe Rhythmus schwerer Schritte, sinkt in die Zimmerdecke ein, der immer hastiger, immer härter wird. Sie liegt da, wie hingestreckt. Angespannt hält sie ihren Atem an. Sie wartet. Auf den nächsten Schrei, der kommen wird. Es sind immer mehrere. Nicht jede Nacht. Erst waren es Wochen, jetzt liegen nur noch Tage zwischen den Nächten, in denen sie ungestört, in denen sie allein sein kann. Allein in ihrem Schlafzimmer, allein in ihrem Bett, ohne den Schatten dieses Mannes, den sie nicht zu sich eingeladen hat. Sie sind nicht vorhersehbar. Nicht wann, nur, dass sie kommen werden. – Jetzt ist er wieder zu hören. Durchdringend, wie der eines Tieres, das verwundet und dem Tode nahe, noch ein letztes Mal zornig aufbegehrt. Der Schrei schießt durch ihr Blut, als hätte man ihr Gift injiziert.
In der ersten Nacht hatte sie Mitleid empfunden. Sie dachte, einen zu hören, den ein unerwarteter Schmerz übermannt hatte. Ein Kummer, der nur ihm allein gehörte und nicht für sie bestimmt war. Sie glaubte nicht daran, dass es Absicht war. Es war nicht seine Schuld. Auch die alte Dame, die zuvor über ihr gelebt hatte, hatte sie manchmal weinen gehört, oder lachen. Überhaupt hatte ihr Alltag sich in den ihren eingesponnen. Es war unvermeidlich. Zu nahe lebte man hier aneinander. Man gewöhnte sich an das Leben der anderen, die das eigene streiften, ob man es wollte oder nicht. Man nahm Rücksicht aufeinander, folgte einem unausgesprochenen Code, der die Privatheit des anderen respektierte, der einen jeden bei dem beließ, was ihm gehörte. Nein. Er konnte nichts dafür, dass sein Leben in das ihre einbrach, noch ehe sie einander begegnet waren. Und doch, ....da war auch eine unbestimmte Ahnung, eine Stimme in ihrem Inneren, die ihr zuraunte, dass seine Schreie auch irgendwie mit ihr zu tun hatten. So wie seine polternden Schritte eine Art Landkarte für sie zeichneten. Die Spuren seiner nächtlichen Wanderungen vermerkten, damit sie ihm, trotz allem, folgen konnte.
Sie war stolz auf sich gewesen, als sie vor zehn Jahren eingezogen war. Auf die eigene Wohnung, mit der sie endlich ihre Unabhängigkeit ausrufen konnte. - Nach der Scheidung. Damals hatte sie mit diesem kleinen Tick begonnen, der zu einem Ritual geworden war. Wenn sie von der Arbeit kam, suchte ihr Blick schon von weitem das Schildchen neben der Eingangstür, auf dem ihr Name stand. Ihr Name, ganz allein, ohne einen Bindestrich, der sie mit einem anderen Namen verband. Kein anderer als der ihre, der sie begrüßte und ihr versicherte, dass sie hier zu Hause war. Nur sie. Dass das auch so blieb, dafür sorgte sie.
Doch in letzter Zeit machte es ihr nicht mehr dieselbe Freude wie früher. Sie fühlte sich unangenehm berührt, von den dicken, wuchtigen Buchstaben, die sich in den leeren Schlitz über ihrem Schildchen eingeschoben hatten. Unübersehbar, in einem kräftigen Blau gehalten, stach sein Name ihr ins Auge. Es schien, als würde er den ihren von seinem Platz drängen. Immer war es der Name ihres Nachbarn, den sie zuerst las.
Sie versuchte sich von dem wenigen, das sie über ihn wusste, ein Bild zu machen. Seine Schreie, seine Handschrift zeugten von einer rohen Männlichkeit. Anderes wiederum gab ihr den Anschein eines weichen Mannes, der sich an Schönem erfreuen konnte. Wie die Tatsache, dass er Farbe für sein Namensschild verwendet hatte. Auch sein Türstock war in einem dunklen Blau gestrichen. Ein Blumenkranz schmückte die Wohnungstür, vor der eine weiche Fußmatte mit einem bunt gemusterten Motiv lag. Sie wusste, dass er ordentlich war, sich jeden Tag eine richtige Mahlzeit kochte, sein Geschirr nach dem Essen spülte, zwei Mal täglich duschte, jeden Tag seine Decken ausschüttelte und handwerklich begabt war, da sie abends und an den Wochenenden oft ein hämmern und bohren aus seiner Wohnung vernahm. Es wollte ihr nicht so recht gelingen, aus dem was sie hörte und dem was sie sah, ein stimmiges Bild zurecht zu basteln.
Die Schreie kamen wieder. Immer Nachts oder in den frühen Morgenstunden. Sie waren schwer zu ertragen. Wühlten sie auf und ließen sie mit pochendem Herzen verstört in ihrem Bett zurück, wenn sie schon längst verklungen waren. – Und dann, eines Tages, kam die Musik. Es war in einer Nacht wie dieser. Schwül und aufgeladen. Als sich ihr Pulsschlag beruhigt und sie gerade im Begriff war, erneut einzuschlafen, fiel sie mit ohrenbetäubender Gewalt über sie herein. Eine Musik, ohne Melodie und ohne Text. Nur der Bass, der auf ihr Herz trommelte als schlüge jemand auf sie ein, bis in die frühen Morgenstunden.
Als sie am nächsten Tag bei ihm klopfte, hielt er ihr die Tür weit auf. Man hätte es für eine Einladung halten können. Doch sein Anblick wischte ihr aufgesetztes Lächeln fort und die Worte, die sie sich zurecht gelegt hatte. Noch nie hatte sie sich von einem anderen Menschen so heftig abgestoßen gefühlt. Er war kleiner, als sie ihn sich vorgestellt hatte und doch, schien er ihr kräftig, drahtig zu sein. Sein ausgewaschenes Unterhemd, konnte die graue Behaarung seiner blassen Haut nur spärlich bedecken. Unter der dünnen Jerseyhose zeichnete sich deutlich sein Geschlecht ab. Eine unangenehme Spannung ging von ihm aus, in dem sie seine Abwehr und einen gleichzeitigen Hunger zu spüren vermeinte, der ihr unangenehm war.
Stumm blickte sie ihn an und dachte unvermittelt, dass nie eine Hand dieses Gesicht jemals zärtlich berührt hatte und es wohl auch niemals geschehen würde. Sie hatte den Eindruck seine ganze traurige Lebensgeschichte mit nur einem Blick in seinem Gesicht ablesen zu können. Seine Augen, sein Haar, seine Kleidung alles an ihm wirkte ausgeblichen und angestaubt. Sie stand einem Mann gegenüber, der vollständig vergessen, der nicht mehr wirklich war.
Da begriff sie die Farbe an seinem Türstock, die so lebensfroh wirkte und in Wahrheit doch nur eine Grenze markierte. Hinter dieser Tür lag eine Welt, in der es nichts Warmes, nichts Lebendiges gab, nur einen zornigen Widerstand gegen etwas, das für ihn nicht greifbar war. Doch sie empfand kein Mitgefühl. Am liebsten hätte sie auf der Stelle wieder kehrt gemacht. Nicht ein Wort, nicht ein einziges, wollte sie mit ihm wechseln. Sie zwang sich dazu. Mit eisernem Willen, presste sie die Wörter heraus, die unter seinen ausdruckslosen Blicken zu bedeutungslosen Tönen verkamen. „Ja, ja“, gab er zur Antwort, bevor er ihr die Tür vor der Nase zuschlug. In der darauf folgenden Nacht setzten seine Schreie schon früher ein und die Musik spielte noch als sie am Morgen das Haus verlies.
Danach begegneten sie einander öfter. Im Supermarkt, in der Straßenbahn und immer wieder, im Treppenhaus. Sie mühte sich ein Lächeln abzuringen, sich ihren Widerwillen nicht anmerken zu lassen, während er sich gar keine Mühe gab Freundlichkeit oder auch nur Höflichkeit vorzutäuschen. Keine der gewohnten Regeln schienen für ihn zu gelten und sie wusste nicht, wusste einfach nicht, wie sie ihm begegnen, nicht einmal wie sie ihn ignorieren konnte. Aber sie lächelte weiterhin und grüßte, wenn sie ihn sah. Auf keinen Fall wollte sie ihm zeigen, wie stark er sie berührte. Wie sehr sie unter ihm litt. Sie wollte niemals mehr wegen einem anderen leiden und schon gar nicht seinetwegen. Einem völlig Fremden. Was hatte sie nur mit ihm zu schaffen?
Seit sie nicht mehr richtig schlief war sie in der Arbeit fahrig und unkonzentriert. Es fiel ihr schwer mit den anderen wie früher zu tratschen und dabei ihre Arbeit zu tun. Sie redete weniger, es strengte sie zu sehr an. Einige Kollegen begannen bereits sich von ihr zurück zu ziehen. Sie machte Fehler. Der letzte war sehr kostspielig gewesen. „Bringen Sie ihr Leben in Ordnung“, hatte ihr Chef zu ihr gesagt. Es war kein gutgemeinter Rat.
Sie hätte es gerne getan, aber sie wusste einfach nicht wie. Ihr Leben war doch in Ordnung gewesen, bevor dieser Mann über ihr eingezogen war. Alles war so, wie sie es wollte. Sie liebte ihre Einsamkeit. Es war doch nicht ihre Schuld, dass es für ihn anders war. Jetzt wusste sie es nämlich mit Sicherheit. Er rief nach ihr. Mit allem was er tat, schien er sie zu rufen. Schien nur darauf zu warten, dass sie noch einmal an seine Tür klopfte und war fest entschlossen ihm diesen Wunsch zu verweigern. Doch sie wusste bereits, dass er den längeren Atem hatte. Sie konnte ihn nicht einschüchtern, nicht von sich fortschieben, wie sie es mit den anderen getan hatte. Es war so einfach gewesen. Er aber hatte sein Leben damit verbracht sich bemerkbar zu machen, gegen sein Verschwinden anzukämpfen. Er war härter als sie und mit ihr verbunden, wie kein anderer, der ihr jemals etwas bedeutet hatte. Er bedeutete ihr gar nichts und doch konnte sie sein Leben nicht von dem ihren fern halten. Auf eine verdrehte Art waren Sie einander so nahe, wie Liebende, so nahe, wie man einem Fremden nicht sein möchte.
„Warum passiert das ausgerechnet mir?“, dachte sie. So wichtig war es ihr gewesen alleine zu sein. Jetzt war sie es und fühlte sich entsetzlich hilflos dabei. Es gab niemanden der ihr hätte beistehen können, niemanden, der ihn sonst noch hören konnte. Die übrigen Schlafzimmer lagen zu weit entfernt. Nur sie beide, waren übereinander geschichtet, in ihren Kartons aus Pappmarsche.
Ihr Atem geht flach. Angespannt lauscht sie weiter auf die Schritte über ihr. Die eines Raubtieres, das rastlos sein Gefängnis durchquert. Etwas liegt in der Luft. Etwas ist anders als sonst. Sie spürte die aufsteigende Panik, die ihr wie eine Warnung vorkommt.
„Every day is so wonderful “, brüllt plötzlich Christina Aguilera direkt über Klaras Bett, “And suddenly, it's hard to breathe...“ Unvermittelt zieht sie die Decke enger um sich, trotz der Hitze, als ob nur noch die Steppdecke ihn von ihr fern halten könnte. „Now and then, I get insecure from all the pain, I'm so ashamed..” Sie merkt, dass sie weich wird. Etwas wie Versöhnlichkeit empfindet, weil er ihr heute eine Melodie und einen Text geschenkt hat. Dann lacht sie hart auf und denkt: “Ich werde verrückt. Mein Gott, ich werde wirklich verrückt.“ Christina Aguilera bleibt davon unberührt. „You are beautiful no matter what they say..”
Sie stellte ihn sich vor, wie er im verdunkelten Raum steht. Seinen nackten Oberkörper vom Mondlicht durchflutet, die Arme ausgebreitet. Sein Gesicht, schmerzverzerrt von der Anstrengung geliebt zu werden. Wie er sich müht, seinen Hunger in ihrer Stimme, ihren Worten zu stillen. Klara hört, wie er sich dreht, als würde er die Zeilen wie eine Mullbinde um seinen Körper wickeln, unter der Heilung möglich wird. „You are beautiful no matter what they say..” Nun schon zum fünften Mal. Wie eine Beschwörung.
Dann endlich bricht es aus ihr heraus. „Hören Sie auf! Hören Sie endlich auf!“, brüllt sie gegen Christina an. Die Musik wird leiser, aber Klara kann nicht mehr aufhören zu schreien.
„Lassen Sie mich doch endlich in Ruhe!“ Aus den Schreien wird ein Flehen, das irgendwann in ein Wimmern übergeht und schließlich erschöpft verstummt. Es ist vollkommen still. Kein Mucks dringt aus der Wohnung über ihr. Auch sie wagt kaum zu atmen. Seine Schritte setzen erneut ein. Er durchquert den Raum, geht in das Vorzimmer. Ihr Herz beginnt zu rasen, als die Tür über ihr ins Schloss fällt. Seine Schritte hallen im Treppenhaus. Dann ist es wieder still. Sie erschrickt nicht, als sie sein Klopfen hört. Sie öffnet auch nicht. Erst als es lauter und fordernder wird. Sie fühlt sich unendlich hilflos und allein. Endlich zermürbt von dem Kampf, den sie in ihrem Inneren gegen ihn ausgetragen hat. Wie eine Marionette kommt sie sich vor, als sie sich ohne Licht zu machen auf die Haustür zubewegt.
„Was wollen Sie?“ fragt er. Er hat seine ordinäre Jerseyhose an. Auf ein Hemd hat er vollständig verzichtet. „Meine Ruhe“, sagt Karla, „Ich will alleine sein.“
„Niemand ist gerne alleine.“
„Ich schon.“ Ihre Stimme ist nur noch ein kraftloses Flüstern. Er macht einen Schritt auf sie zu. Noch einmal erschrickt sie, als sie die Veränderung in seinem Gesicht bemerkt. Wie es sich glättet, wie verstörend weich es wird, als er die Hand an ihre Wange hebt und ihre Tränen wegwischt. Reglos bleibt sie stehen. Sie kämpft gegen die aufsteigende Übelkeit und denkt an Theo. Den letzten, den sie weggeschickt hat. „Ich brauche dich,“ hat er ihr ins Ohr geflüstert, als sie erschöpft neben einander lagen. „Ich brauche niemanden“, hatte sie ihm zur Antwort gegeben und sich weggedreht, damit sie seinen verwundeten Blick nicht sehen musste und ihn dafür gehasst, dass sie ihn so verletzten konnte. Schmerzhaft wird ihr bewusst, wie sehr er sie geliebt hatte.
„Sehen Sie, es tut nicht weh. Ich tue Ihnen nichts.“, sagt der Mann. Sie bemerkt das leuchtende Blau seiner Augen und die vor Aufregung geröteten Wangen. Jetzt streicht seine Hand über ihre nackte Haut, streift die feinen Träger des Nachthemds von ihren Schultern. Sie zittert, doch sie wehrt sich nicht. Sie will nur, dass es aufhört.