Maja Roedenbeck: Uwe und das Mädchen
„Kann ich was zu trinken haben?“, fragte das Mädchen, und Uwe sagte: „Nee.“
„Warum nicht, ich hab’ Durst!?“, fragte das Mädchen, und Uwe sagte: „Is mir egal. Ich hab’ nee gesagt.“
„Aber zu Hause darf ich immer trinken, wenn ich Durst habe, nicht nur zum Essen!“, protestierte das Mädchen, und Uwe sagte: „Du biss aber hier nicht zu Hause. Gibt nicks. Happ wieso nicks.“
„Dann trink ich eben Wasser aus dem Hahn“, trotzte das Mädchen, und Uwe sagte: „Hahn bleibt zu.“
„Willst du mir etwa verbieten, mir mein Gesicht zu waschen?“, fragte das Mädchen, und Uwe sagte: „Will ich.“
„Und die Badezimmertür, die hältst du zu, damit ich nicht rein komm, oder was?“, fragte das Mädchen, und Uwe sagte: „Schließich ab und werfn Schlüssel vom Balkon.“
„Und das soll ich dir glauben, oder was?“, fragte das Mädchen, und Uwe sagte: „Wirste schon sehen. Unnuh halt die Klappe.“
Ein wuchtiger Mann war er, mit seinen Türsteherschultern. Ein schwerfälliger. Sein einundsechzigjähriger Bauch vom Weißbrot und vom Bier aufgegangen, sein Kinn und seine Ohrläppchen weich gewalkt vom ganzen Sitzen. Uwe überlegte, noch einen draufzusetzen. Würde sich gut anfühlen.
„Zu essen gibt’s heute auch nicks. Kann dir deine Mutter kochen.“
„Aber Mama holt mich erst um halb acht ab!“, rief das Mädchen, „Bis dahin bin ich doch verhungert!“
„Du weiß ja gar nich, was Hunger is“, sagte Uwe, „Die Schwatten in Afrika, die hamm Hunger.“
Das Mädchen wusste nichts über Afrika. Höchstens, dass die Leute da halb nackt rumliefen. Ganz schön ekelig. Das Mädchen wusste auch nicht, was es wegen Afrika zum Opa sagen sollte und wie es jetzt vom Hunger der Afrikaner zurück zu seinem eigenen überleiten sollte. Klang irgendwie so gewaltig, die Sache mit denen.
„Ich hab jedenfalls seit dem Frühstück nichts gegessen“, versuchte es, „da kann man schon mal Hunger haben.“
„Seit dem Frühstück hattse nicks gegessen, ich glaub ich heul gleich“, greinte Uwe. „So’n Fastentach tut auch ma ganz gut.“
Das Mädchen kapitulierte. Na und? Wenn der Opa gleich um fünf kacken ging, würde es sich einen Marsriegel aus seinem Nachttisch holen.
„Spielst du was mit mir?“, fragte es dann noch halbherzig, „Halma?“
Aber Uwe war gerade in Fahrt: „Nicks da Halma.“
Mann, das hatte er gebraucht. Dass er was sagte und bumms, dass das dann auch Gesetz war. Mann, hatte ihn die Tusnelda im Jobcenter heute morgen genervt. Halb so alt wie er, aber die Welt verstehen. Einem Einundsechzigjährigen erzählen wollen, was er noch mit seinem Leben anstellen sollte. Und dann noch so kackfrech, bloß weil die die Hand auf der Kasse hatte. Klar, da fühlte sich so ein Mäuschen dann schnell mal stark, wenn sie einem gestandenen Kerl die Moneten verwehren konnte. Mann, hatte den Uwe das aufgeregt. Mann, hätte er der gern seinen Schwanz in den Hintern gewummert, damit die endlich die Klappe hielt und die Moneten bewilligte. Aber das hatte warten müssen, die hatte am längeren Hebel gesessen. Uwe hatte sich klein machen müssen, wohl oder übel.
„Nicks da Halma“, wiederholte er und sagte dann noch, weil das so gut war: „Such dir selber watt zu spielen, ich geh jetz kacken. Is um fünf.“
Das Mädchen marschierte schnurstracks ins Schlafzimmer zum Nachttisch vom Opa und nahm sich einen Marsriegel. Und noch einen. War ihm ganz recht, das alles. Würde es die Mutter später zwingen können, ihm eine Currywurst zu kaufen und vielleicht sogar noch einen Adidasrucksack. Brauchte es nur trotzig zu sagen: „Ich geh’ morgen nicht zum Opa, der gibt mir nichts zu trinken. Der macht mir nichts zu essen. Der spielt auch nicht mit mir.“
Das Mädchen kannte das Drehbuch besser als das Einmaleins: Mutter hat schlechtes Gewissen, Mutter hat keine Zeit zum Selberkochen, Mutter hat keine Möglichkeit, Kind anderswo unterzubringen, Mutter kauft Kind Currywurst und Adidasrucksack, damit Kind weiter zum Opa geht und Mutter trotzdem lieb hat. Darauf ließ sich zählen, und das Mädchen war zufrieden damit. War doch gut, wenn man bestimmen konnte, was ging. Im Grunde tat ihm der Opa bloß einen Gefallen, indem er es vernachlässigte. Durfte er nur nicht merken, dann wäre es vorbei damit. Würde er aber auch nicht merken. Die Mutter hatte viel zuviel Schiss vor ihm, als dass sie ihn zur Rede stellen würde wegen dem Trinken und dem Essen und dem Spielen. Schiss hatte sie, das hing irgendwie mit den ausladenden Schultern vom Opa zusammen und mit früher. Mehr wusste das Mädchen nicht. War ihm auch egal. Man konnte nicht alles durchschauen.
Es hörte den Opa durch die offene Badezimmertür ganz furchtbar aufstöhnen und wusste, die Wurst kam noch nicht, der wäre da noch mindestens eine Viertelstunde beschäftigt. Es zerrte die Praline unter den Marsriegeln hervor und schaute sich die Brüste der nackten Frauen an, ein Paar dicker als das andere. Fummelte unter seinem Kapuzenhemd herum, ob da inzwischen was gewachsen war. War nicht. Fummelte trotzdem noch ein bisschen weiter. Würde ja nun irgendwann bald passieren müssen. Bei den anderen aus der Klasse konnte man ja auch zugucken, so schnell ging das mit den Brüsten.
Uwe quoll aus der Kloschüssel und drückte was das Zeug hielt. Warum kam diese verdammte Wurst nicht? Warum konnte nicht wenigstens die Wurst kommen, wenn er wollte, dass sie kam? Er stöhnte ganz furchtbar auf, knüllte die Lippen zusammen und drückte noch fester. Die Wurst kam trotzdem nicht. Jeden Tag um fünf ließ sich Uwe aufs Klo plumpsen und musste erleben, wie das, was er wollte, wieder nicht geschah. Die Wurst kam nicht. Seine irre-lila Wut wollte ihm die Bauchdecke von innen durchlöchern und an allen möglichen Stellen in die Freiheit rasen, aber die Wurst fand weder den Weg, noch die Motivation dazu. Die Wurst respektierte Uwe schlicht nicht mehr. Es war zum Wahnsinnigwerden, jeden Tag wieder, aber heute so sehr, dass Uwe früher als sonst aufgab und sich am Waschbecken hochzog. Den Klodeckel ließ er hochgeklappt, den Hintern ungewischt, die Hände ungewaschen, nur die Hose zog er halbherzig hoch und schlurfte auf die Diele. Zog die Nase hoch, schnalzte mit der Zunge. Hörte es aus dem Schlafzimmer knistern. Schlurfte rüber. Erblickte das Mädchen wie es zwischen Marsriegelhüllen auf dem Bett hockte, in der Praline blätterte und sich dabei unter dem Kapuzenhemd herumfummelte.
Endlich mal was, was Uwe beeinflussen konnte. Er nahm die vier Schritte zum Bett mit erstaunlich geräuschloser Behändigkeit, scheuerte dem Mädchen die flache Hand ins Gesicht, packte es bei den Oberarmen, hievte es von der Matratze hoch und warf es gegen die Heizung unter dem Fenster. Das gab vielleicht einen Gong. Dröhnte wie wenn so ein Mönch im Tempel auf einen dieser hängenden, bronzenen Teller drosch. Wenn man dem zwanzig Jahre alten Fernsehlautsprecher da trauen durfte.
Uwes Blick hatte beim Werfen die überbordenden Brüste einer Mutti, die in der Praline ihre Beine breit machte, erwischt. Er dachte an die Tusnelda vom Jobcenter und ihren Hintern und wie er ihr seinen Schwanz irgendwann da reinwummern würde und bemerkte nicht das Blut, das dem Mädchen den Hinterkopf verschandelte, als es sich schweigend aufrappelte und aus dem Schlafzimmer verschwand. Warf nur schnell die Praline und die Marsriegelhüllen zurück in die Nachttischschublade, damit seine Tochter später keine Fragen stellen würde. Hatte die demütigende Weigerung der Wurst schon vergessen. Fühlte sich ein bisschen gut. Ein bisschen so wie früher, als er noch gearbeitet hatte, bei den Verkehrsbetrieben damals, im Innendienst. Da hatte er nichts in sich rein fressen müssen, kein Männchen machen müssen, da war er Abteilungsleiter gewesen und hatte alles rausgelassen. Da hatten die anderen Männchen vor ihm gemacht.
Nur so ging das und nicht anders, Uwe sah das völlig klar. Diese Reinfresser waren doch allesamt Fälle für die Klapse. Er hatte die Dinge auf den Tisch gepfeffert, je unangenehmer sie waren, desto lauter hatte es geknallt. Und die hatten ihn geliebt dafür. Dass er gesagt hatte: „So wird das gemacht!“ Die hatten das dann auch genau so gemacht, und da hatte sich dann kein anderer den Kopf drüber zerbrechen müssen. War doch gut, wenn einer die Entscheidungen traf und die anderen einfach nur noch machen mussten, das war doch gut so. Effektiv.
Wenn das einer anders gesehen hatte, hatte Uwe den angebrüllt, bis der so klein gewesen war mit Hut, und dann war er nach Hause gegangen, und da hatten ihn Entscheidungen dann überhaupt nicht mehr interessiert. Da hatte er sich in den Sessel gehauen und sich die Schuhe von seiner Enkelin ausziehen lassen, wenn die Spaß daran gehabt hatte, und wenn nicht, dann eben nicht, dann waren sie ihm irgendwann von den Füßen gefallen.
Es war Uwe egal gewesen, was ihm Beate zum Essen brachte oder was im Fernseher kam, das hatte er alles einfach so hingenommen, da hatte sich keiner beschweren können, so umgänglich war er gewesen. Selbst wenn die Enkelin ihm ins Bild geturnt war oder im Kartoffelpüree ein Haar geklebt hatte, hatte ihn das nicht wild machen können.
Nur war Beate dann mit einemmal tot gewesen und die Tochter traumatisiert, und er hatte seinen Job bei den Verkehrsbetrieben verloren, weil die Scheißer plötzlich gemeint hatten, sie könnten ihm in seine Brüllerei reinreden. Und seine Tochter hatte ihren Job als Tagesmutter nicht mehr machen können, weil sie eben traumatisiert war, und hatte auf Raumpflegerin umgesattelt und ihm das Mädchen aufgehalst, jeden Nachmittag nach der Schule bis halb acht abends. Uwe begehrte, mehr als alles andere, an den Nachmittagen seine Ruhe.
Das Mädchen war noch bis ins Bad gekommen. Es hatte das alles sehr lustig gefunden. Das Gefühl zu schweben, als es der Opa hochgehievt hatte. Den dröhnenden Gong, als es mit dem Hinterkopf gegen die Heizung geknallt war, wie wenn bei den Mönchen im Tempel einer auf einen dieser hängenden, bronzenen Teller drosch. Vor allem: den Opa und die dicken Brüste in der Praline. Ob sein alter Pimmel, wenn er hart wurde, es noch schaffte, sich um mehr als neunzig Grad aufzurichten? Hundert vielleicht? Das Mädchen hatte noch überlegt wie es die Ohrfeige als zusätzliches Druckmittel bei der Mutter einsetzen könnte. Da musste doch noch was drin sein, eine Ohrfeige, das war doch grandios. Da musste doch noch was drin sein, warum fiel ihm bloß nichts ein, ihm fiel doch sonst immer was ein, aber irgendwie konnte es seine Gedanken gerade überhaupt nicht zusammenhalten. Aus irgendwelchen Gründen konnte es auch nur seine Stirn im Spiegel über dem Waschbecken sehen, nicht sein Gesicht, dabei war es doch keine fünf mehr. Kurioser Nachmittag. Kurz überlegte das Mädchen zu rufen: „Opa, kannst du mir mal kurz helfen?“, aber das schien dann auch nicht die Lösung zu sein. So wie der Opa heute drauf war, würde er sowieso nur wieder sein penetrantes „Nicks da!“ zurückbrüllen. Das Mädchen lachte laut auf. Wünschte sich noch, da wäre jemand, der mit ihm lachen könnte, merkte dann aber, dass ihm das Lachen im Hinterkopf stach. Dann wurde es rot und warm in seinem Nacken und die Welt schaltete sich aus.
Uwe schlurfte dem Mädchen hinterher, hörte es auflachen, plante, ihm dafür noch eine ins Gesicht zu scheuern. Aber auf halbem Weg zwischen Schlaf- und Badezimmer klingelte das Mobiltelefon, das in der Diele auf dem Sideboard lag. Uwe ging ran. Sagte: „Hallo?“, und als keiner antwortete noch mal: „Hallo?“ Mehr konnte er nicht sagen, weil das doch sein
Diensthandy war, das er schon längst hätte zurückgeben müssen. Ihn rief ja auch eigentlich keiner an, außer seiner Tochter, wenn sie – Verflucht noch eins! – absehen konnte, dass sie es nicht schaffen würde, das Mädchen um halb acht abzuholen. Aber es hätte ja doch auch einer seiner ehemaligen Kollegen oder Kunden sein können, der anrief und die Sache mit dem Diensthandy dann in der Firma petzen würde. „Hallo?“, sagte Uwe zum dritten Mal, und endlich kam was zurück: „Kannste dich nicht mit Namen melden?“, schimpfte der Anrufer und legte auf. Legte einfach auf.
Augenblicklich war das gute Gefühl wieder weg. Die Erinnerung an die Wurst kehrte zurück. Uwe platzte die Hutschnur. „Watt bildes du dir eingtlich ein, du Arsch?“, brüllte er in die schmutzige Atmosphäre der totenstillen Wohnung: „Wer hat dir erlaubt, mich zu duzen? An meim Telefon meld ich mich wie ich will, und wenn dich datt watt angehen täte, könnt ich dir auch sagen, warum. Aber datt geht dich nicks an. Du Arsch! Was bissn du für einer, sowatt macht man doch nich, einen anblaffen un dann auflegen. Du Arsch.“
Am Anfang hatte seine Schimpftirade ja noch ordentlich Pfeffer unterm Hintern gehabt. Aber so ganz ohne Publikum war es Uwe schwer gefallen, den bis zum Ende retten. Beim zweiten Arsch war dann schon längst die Luft raus gewesen aus der Nummer. Hatte ihn nicht mehr befriedigt, die Brüllerei. Den ganzen Tag würde er jetzt den Arsch nicht aus dem Kopf kriegen und sich wünschen, er hätte den am Schlafittchen und könnte ihm eine in die Fresse hauen. Jedes Mal, wenn er das Telefon sah, würde er sauer werden, weil dieser Arsch für immer gewonnen hatte, weil der ein für allemal das letzte Wort behalten würde.
Uwes Wut über seine Machtlosigkeit war so groß, dass sie ihn am Linoleumboden der Diele festfror, wenige Schritte vom Badezimmer entfernt, wo das Mädchen lag und es nicht mehr lange machen würde.