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Franziska Kelly: Das Schweigen des Lammragouts 

 „Ah. Oh. Mmmh. Ja. Ach... “
Selig lächelte er mir zu. Wie mich das anekelte. Diese Töne. Dieses genussvolle Schmatzen. Ich schüttelte mich innerlich und dachte an das letzte intime Desaster: Er war wieder zusammengeschnurrt... So schnell konnte man gar nicht gucken, wie das passierte. Soeben hatte ich noch gehofft, wenigstens dieses Mal würde es was werden. Bitte wenigstens ein Mal pro Monat. Aber nein, er war wieder erschlafft, bevor ich auch nur an ein lustvolles Aufstöhnen meinerseits denken konnte!
Dabei hätte ich Vollidiotin mir das eigentlich ausrechnen können. Schließlich hatte er mir gleich beim ersten Rendezvous „gebeichtet“, dass er ‚ein eher ängstlicher Mensch’ sei. Ich reagierte typisch weiblich: gerührt.
Also knallte ich in das Muster meiner Erziehung, blieb drin stecken und sprang auf Plakatives an: Ein so erfolgreicher, gut aussehender Mann! Akademiker. Porschefahrer. Kultiviert und hinreißend beim Flirten!
Zu spät hatte ich erkannt, dass eine solche Flirt-Vorspeise, die keinen anständigen Hauptgang zustande bringt und mit der Zeit selbst die munterste weibliche Libido zum Schweigen verurteilt, unbedingt ausgelassen werden sollte. 
Unser „erstes Mal“: Ich war kurz davor, als er „ängstlich“ wurde. Na gut, gehen wir eben spazieren –  verliebt, Hand in Hand ... Später holte ich zwei halbe Grillhähnchen aus der Imbissbude von nebenan. Wir hörten klassische Musik, und er war glücklich über den schönen Abend. Ein Abend ganz nach seinem Geschmack.
Nach seinem.
Wie mein exzellentes Lammragout, das er nun laut stöhnend genoss. Das Fleisch hatte über Nacht in Rotwein gelegen. Was man währenddessen nicht alles hätte anstellen können …
Aber nein, ich hatte mich auf die Zutaten des Ragouts konzentriert: gehackte Oliven mit Paprikastreifen gefüllt, Knoblauch, Zwiebeln und natürlich saure Sahne. So konnte ich ihn sicher befriedigen.
Mich nicht.
Ich versuchte, mich an jenes Mal zu erinnern, wo es einigermaßen geklappt hatte. Es wurde nichts mit der Erinnerung. Meine beste Freundin würde sagen: „Du verdrängst da was.“ Verdrängen, Bedrängnis, Bedrängen. Ach, wenn mich doch jemand endlich bedrängen würde! Völlig ungequält und locker, angstfrei, ungehemmt und ohne Rezept. Er sammelte Rezepte. Fürs Bett hatte er auch eines.
Eines. Mehr nicht.
Misslang dies, bemühte er seine Finger. Aber damit konnte er es auch nicht. Ich schon. Doch ich wollte ihn nicht verletzen, also ließ ich das in seinem Beisein. Im Laufe der Jahre hatte ich jedoch begonnen, mich zu wehren, wenn er an mir herumhantieren wollte. Es führte ohnehin zu nichts.
Umso geschickter hantierte er jetzt mit Messer und Gabel. Da schnurrte nichts zusammen, fiel nichts herunter. Das beherrschte er. Hier zeigte er eine kaum zu bändigende Lust.
Mir war der Appetit vergangen.
Wieder diese Töne. Dieses genussvolle Schmatzen... Wie gerne hätte ich  laut geschrieen: ‚Wenn ich die mal so ungehemmt im Bett hören würde! Ich schmecke nämlich viel besser als ein Lammragout!’
Aber ich schwieg, weil ich ihn nicht noch mehr verängstigen wollte.

Endlich war er fertig. Zufrieden strich er sich über den gefüllten Bauch. „Ich bin zu dick“, klagte er. „Ich sehe aus wie ein Mops.“
Stimmt, dachte ich und stand auf, um den Tisch abzuräumen. In der Küche füllte ich zwei Rotweingläser mit zähflüssigem, duftendem Barolo. Todsicher wollte er dieses verlockende Gutenacht-Hupferl. Ich auch. Der Rotwein dämpfte zumindest meine heftigsten Bedürfnisse, weil ich sehr schnell sehr müde davon wurde. So war es dann auch. Wir gingen ins Bett. Natürlich nur, um einzuschlafen. „Mmmmh, das war ein gutes Essen, mein Schatz“, seufzte er noch einmal, bevor er seine Ohren mit rosa Wachs verstopfte und großväterlichst meinen erotischen Hintern tätschelte. Ich hätte ihm dafür am liebsten eine geklebt.

***

„Kann ich den Porsche haben?“
„Natürlich, Schatz. Aber denk dran: Er muss demnächst zur Inspektion. Fahr vorsichtig.“
„Mach ich!“
Vergnügt sprang ich aus dem Haus, zwei Rock ’n’ Roll-CDs in der Hand. Die Fahrt zu meiner Freundin würde super werden. Das Wetter war spitze. Und so konnte ich das Verdeck versenken, die Stereoanlage voll aufdrehen und das Gaspedal durchtreten.
Die Auffahrt auf die A 8 nahm ich wie immer mit Bravour und natürlich auf der äußersten Fahrbahn. Im Rückspiegel sah ich, dass noch einige Porsche- und Mercedes-Wagen abzuwarten waren. Aber dann! Dritter Gang und ab die Post! Bevor der Drehzahlmesser den roten Bereich sprengte, schaltete ich in den Vierten. Der Rock ’n’ Roll dröhnte mir zusammen mit den Motorgeräuschen in den Ohren. Ach, war das herrlich!
In der zweiten steilen Kurve wurde mir jedoch mulmig. Ich hatte gut 200 Sachen drauf. Aber das war es nicht, mit dem Porsche fuhr ich oft so schnell. Ich schaltete die Musik aus, um mich auf die Geräusche des Motors zu konzentrieren. Doch der klang wie immer. Ich bremste leicht runter; der Wagen schlingerte ein wenig. Mir wurde heiß. Was konnte das nur sein? In der dritten Kurve hatte ich das Gefühl, Eier statt Breitreifen unter dem Fahrgestell zu haben. Endlich hatte ich eine Ausfahrt erreicht und beschloss, umgehend eine Werkstatt aufzusuchen.
Meiner Freundin musste ich leider absagen.
„Tja, die Gelenkstangen sind ausgeschlagen. In der nächsten Kurve wären Sie bei hoher Geschwindigkeit womöglich rausgeflogen“, diagnostizierte der Mechaniker sachlich.
„Und wenn ich langsam fahre? Ich würde nämlich gerne noch zurückfahren.“
„Das geht, vorausgesetzt, Sie fahren nicht schneller als 100. Aber merken Sie sich: Es ist Ihr eigenes Risiko!“
„Gut. Danke“, antwortete ich noch und verließ geknickt die Werkstatt. So ein Mist! Die Reparaturen an diesem Modell kosteten immer ein Heidengeld. Damit war der nächste Urlaub gefährdet. Ich brauchte aber dringend Tapetenwechsel und Erholung. In den vergangenen Monaten war ich so angespannt geworden, immer häufiger hatte ich Rückenschmerzen, Kopfschmerzen, quälte mich herum mit Schlaflosigkeit.
Schlaflose Nächte...
Ach, wie gerne ich schlaflose Nächte hätte! Mit eingezogenem Kopf öffnete ich die Wagentür. Da ließ mich ein gellender Pfiff zusammenzucken. Ich drehte mich um und sah drei richtig gut gebaute, junge Männer in Drillingsanzügen. Sie zwinkerten mir zu. Ich sah genauer hin und befand, dass ich sie in meinem Zustand vermutlich gut alle drei auf einmal gebrauchen könnte. Seufzend drehte ich mich wieder weg und schwang mich möglichst elegant ins Auto. Wie eine Schnecke machte ich mich auf den Rückweg.

„Na, hattest du einen schönen Tag, mein Schatz?“
Er küsste mich in seiner altväterlichen Art: freundlich, völlig unverfänglich, ernüchternd.
„Ja, danke“, log ich und wunderte mich über mich selbst. Hey! Was machte ich denn da? Wieso erzählte ich ihm nicht sofort von ...
„Oh, weißt du was, Schatz?“, unterbrach er mein inneres Zwiegespräch. „Heute bin ich richtig beflügelt aus der Uni gekommen. Stell dir vor: Nachher bringen sie im Radio diese „Schatzsuche“, dieses intellektuelle Rätsel, das so schwierig ist. Ist das nicht toll? Das wird ein schöner Abend. Ich lege uns schon mal Papier und Bleistift zurecht. Einverstanden?“
Ich nickte und trank das erste Glas Weißwein auf ex. Heute war er mit Kochen dran und lief auch schon beflissen in der Küche hin und her. Ich schloss die Augen und dachte an die drei knackigen Automechaniker. Versprühte ich wirklich noch so was wie Erotik? Oder waren die genauso frustriert wie ich? Nein. Das war ziemlich unwahrscheinlich. Ergo …
„Schatzilein?“, rief er da bestens gelaunt und streckte seinen Kopf um die Ecke. Sein treuherziger Hundeblick traf mich.
„Ja?“
„Also pass mal auf...!“ Oh, nein! Jetzt kniete er auch noch vor mir nieder! „Allllsoooo ...“, machte er mit Babystimme und strich mit einem Zeigefinger auf einem meiner Oberschenkel entlang; die erogenen Zonen zielsicher verpassend. „Ahm …“ Er lächelte verlegen. „Ich dachte mir, dass wir am Wochenende mal wieder was Schönes tun könnten!“
Ich horchte auf!
„Was hältst du von einem Ausflug zu dieser Burg, auf der wir vor drei Jahren schon einmal waren? Die ist ganz neu restauriert!“
Ich seufzte.
„Nein?“ Er guckte enttäuscht.
„Doch. Es ist sicher sehr interessant. Ich bin nur etwas abgespannt.“
„Mein Armes!“, fuhr er in Babystimme fort, holte einen Hocker und legte meine Beine darauf. „Ich mach dafür was gaaaanz Leckeres zu essen! Und du bleibst schön hier und ruhst dich aus.“ Er küsste mich auf die Stirn und verschwand wieder in die Küche.

Dieser Abend, neben dem Radio, mit Papier und Bleistift, war in der Tat etwas für Intellektuelle. Theoretisch gehörte ich ja auch zu diesem Kreis. Aber eben nur theoretisch – und vor allem nicht körperlich.
Er war jedoch in seinem Element; sprang zwischen den Bücherschränken hin und her, zog dieses oder jenes Speziallexikon heraus, blätterte in Anthologien, Enzyklopädien und wer weiß noch wo.
Bei einer Frage, sie betraf das Gebiet der Erotik, fand er kein passendes Buch. Ich lächelte gequält, als ich ihn ratlos vor einem Bücherregal stehen sah. Nein, auf dem Gebiet hatten wir weder Theorie, geschweige denn Praxis im Haus. Auf die Idee, mich zu fragen, kam er natürlich nicht. Obwohl ich die Antwort auf Anhieb gewusst hätte: Die Polynesier und Polynesierinnen machen es in der Hocke. Aber vielleicht war es auch ganz gut, dass er mich nicht fragte. Seinen kindischen Blick nebst dem erstaunten Ausruf: „In der Hocke? Wie soll das denn gehen?“, hätte ich vermutlich nicht überlebt. Im schlimmsten Fall hätte ich mich womöglich zu einer unsportlichen Antwort hinreißen lassen und ihn dadurch wieder verängstigt!

„Guten Morgen, Schatz. Aufstehen! Die Sonne scheint. Hast du gut geschlafen?“
Unwillig grunzend drehte ich mich weg.
„Warte, mein Herz, ich bring dir einen Becher Kaffee ans Bett.“
Ich biss in mein Kissen.
„Sooo. Hier ist dein Kaffee. Na, komm, gleich geht es dir besser.“
Ich hatte Mühe, mich vom Kissen zu lösen.
„So ist es brav.“ Er strich mir mit seiner schönen Hand über den Kopf. Oh, bitte, fall über mich her!, dachte ich und sah ihn an. Nein, besser nicht, entschied ich nach dem sanften, liebevollen Blick, den er mir schenkte, und quälte mich aus dem Bett.
„Mein Chef hat eben angerufen“, plauderte er munter drauf los, während ich mit noch verhangenem Blick auf der Bettkante hockte. „Ich soll am Wochenende einen Vortrag in Norddeutschland halten. Er selbst kann nicht. Irgendwas ist mit seiner Frau.“
Vermutlich will sie am Wochenende keinen Vortrag, sondern was Handfestes, dachte ich böse.
„Das Honorar ist wirklich ausgesprochen gut! Den Ausflug auf die Burg können wir ja nachholen“, sagte er und lächelte mir aufmunternd zu.
Ich versuchte, mit einem Lächeln zu antworten.
„Du, Schatzi?“ Jetzt hatte er wieder auf Babystimme geschaltet. „Wenn ich doch dann so weit weg bin und Geld verdiene... Ob du dann noch mal dieses unvergleichliche Lammragout machen könntest? Das war sooo lecker!“
Ich sah auf. Sein Dackelblick ging mir auf die Nerven. Ich war derart aggressiv, dass ich ihn hätte würgen können.
„Logisch“, brummte ich und ging ins Bad.

Den Rest der Woche verbrachte ich damit, seine Vortragsentwürfe gegenzulesen. Von der ausgeschlagenen Gelenkstange hatte ich noch immer nichts erzählt. Er hingegen entschuldigte sich mehrmals täglich dafür, dass ich am Wochenende mit meinem alten Benz rumgurken müsste, wo doch der schicke Porsche viel besser zu mir passte.
Am Freitag war das Manuskript fertig. Ich auch. Drei Mal hatte ich mir den Probevortrag angehört. Es war eine einzige Katastrophe mit ihm. Immer wieder verhaspelte er sich, sprach zu leise oder verstrickte sich zwischen einhundert Ähs und Ähms. Mir taten die Zuhörer und Zuhörerinnen jetzt schon leid. Dabei war das Skript exzellent! Vielleicht etwas kopflastig. Aber durch eine entsprechende Vortragsweise hätte man das bestens kaschieren können. Er würde es verschlimmern. Da war ich sicher.


Samstagmorgen.
Er stieg in seinen Porsche, geschniegelt und gebügelt wie immer. Einfach perfekt sah er aus! Ja, er war ein  attraktiver Mann. Schwarze Haare, dunkle Augen, gut geschnittener Bart, die Haut von Natur aus leicht gebräunt. Toll. Eigentlich.
„Tschüüüss, mein Schatz.“ Er küsste mich auf die Wange wie eine Schwester. „Morgen Abend bin ich ja wieder da. Und dann geben wir uns genüsslich dem Lammragout hin. Ich freue mich jetzt schon darauf. Wenn du wüsstest, wie!“
Das waren seine letzten Worte. Ich winkte ihm brav hinterher und ging dann zum Metzger.

Sonntagabend.
Das Ragout lag schweigend in der Pfanne und köchelte leise vor sich hin. Es wurde acht Uhr. Es wurde neun Uhr. Um zehn klingelte es Sturm an der Haustür. Ich rannte nach unten. Vor der Tür standen zwei bildhübsche, junge Polizeibeamte. Sie machten ein ernstes Gesicht: „Wir haben leider eine schlechte Nachricht für Sie ...“


Langsam ging ich zurück in die Wohnung.
Aus der Küche drang ein phantastischer Duft. Ich ließ mir das Ragout schmecken. Schweigend und gar nicht mehr verspannt.

**

Rezept für Lammragout:
800 g Lammfleisch
1/2 l Rotwein
4 Zwiebeln
2 Knoblauchzehen
10 grüne Oliven mit Paprikafüllung
100 ml saure Sahne
1 EL Speisestärke
Olivenöl
Pfeffer
Salz
Das Fleisch in grobe Würfel schneiden und 12 Stunden in Rotwein marinieren.
Fleisch herausnehmen, trocken tupfen und kräftig von allen Seiten in etwas Olivenöl anbraten.
Zwiebeln und Knoblauchzehen schälen, in kleine Stücke hacken und mit dem Fleisch anbräunen lassen.
Das Ganze mit der Rotweinmarinade ablöschen, Oliven hinzugeben und ca. eine halbe Stunde schmoren lassen.
Nach Ende der Garzeit die saure Sahne mit der Speisestärke verrühren und in die Sauce geben. So lange köcheln lassen, bis die Sauce die gewünschte Cremigkeit erhält und dann mit Pfeffer und Salz abschmecken.
Dazu Reis (oder für Schwaben und Schwäbinnen eben: Spätzle).