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Christian Lund: Das Galgenmädchen 

Er saß an seinem Computer und starrte mit roten und müden Augen auf den Bildschirm. Seit Tagen hatte er nicht richtig geschlafen. Das Zimmer hinter ihm war dunkel. Nur auf dem Schreibtisch brannte eine kümmerliche Kerze in einem Windlicht. Geisterhaft tanzten Schatten über die Wände. Aus dem Schwarz der Boxen rechts und links des Zimmers erklang ein Cure-Konzert. Robert Smith begann gerade mit „Pictures of you“.
   Eiskalt fühlten sich seine Hände an. Immer wieder ballte er sie zu Fäusten, damit sie wieder durchblutet wurden.
   Der Abend war einsam. Einsam wie die Tage und Nächte zuvor. Einsam wie die Monate des letzten Jahres. Einsam wie schon lange.
   Dieser Chat zog ihn magisch an. Nicht einen Abend konnte er die Finger davon lassen. Die kalten, klammen Finger, die sich zu Fäusten ballten.
   Er klickte auf ihren Namen und ließ sich die Informationen anzeigen: „Galgenmädchen. Wer hängt mich nackt. Registriert seit: Mittwoch, den 29.10.2003. Letztes Lebenszeichen: Freitag, den 05.12.2003 um 23:09:46. Poweruser: not available. Kontakt: Email an Galgenmädchen.“
   Er schloss das Popup-Fenster. Er hatte schon von dem autoerotischen Phänomen gehört. Menschen empfinden sexuelle Lust, wenn sie sich erhängen. In diesem kurzen Moment, bevor sie sich auf die Reise ins Land der Toten begeben. Wenn ihnen die Luft abgedrückt wird. Ein Seil ihnen die Kehle zuschnürt. Das Bettlaken zweckentfremdet wird. Allzu oft sind dabei schon Menschen in den Tod gegangen, nur um den sexuellen Kick zu spüren. Nur wenige finden den Weg zurück. Und die Kraft, die Fesseln der Lust zu lösen. Galgenmädchen. Der Name hörte sich so traurig an. Er wollte sie sprechen.
   Er schrieb.
   „Hallo Galgenmädchen, stehst du auf Atemnotsex? Macht dich das geil, wenn die Schlinge sich um deinen Hals zieht?“
   Ein Klick, und die Nachricht war unterwegs. Er wartete eine Weile, aktualisierte dann das Chatfenster und sah ihre Antwort.
   „Hi, ja… ich will mich heute nackt an den Galgen hängen.“
   Er schluckte. Im Chat stand er oft vor der Frage: Realität oder Rollenspiel? Perversionen gab es zuhauf. Doch meist nicht real. Wenn sich da jemand ein Rollenspiel ausgedacht hatte, war das geschmacklos. Doch besser, als es real zu versuchen. Vielleicht ließ sich das herausfinden. Er schrieb zurück.
   „Hast du so etwas schon mal gemacht? Das will ordentlich vorbereitet werden. Oder willst du dabei draufgehen?“
   Dreiundfünfzig Sekunden später die Antwort.
   „Ich bin am Vorbereiten. Ich mag das Risiko.“
   War das ein Rollenspiel? Oder die kalte Realität? Erregen tat sie ihn damit nicht. Andere vielleicht.
   „Wie oft hast du’s schon versucht?“ Vielleicht hatte sie wenigstens Erfahrung mit dem, was sie da plante. Dann konnte man zumindest halbwegs davon ausgehen, dass sie sich abgesichert hatte.
   Er musste drei Minuten warten, bis die Antwort auf seinem Bildschirm flackerte: „Ist das erste Mal.“
   Er sah ein Mädchen vor seinem geistigen Auge, wie es emsig dabei war, sich einen Strick zu knüpfen und ihn am Dachbalken ihres Zimmers aufzuhängen, während ein Stockwerk darunter ihre Eltern selig in ihrem französischen Doppelbett schliefen.
   Jetzt wollte er wissen, ob sich hinter ihrem Namen tatsächlich eine solch kranke Idee verbarg oder ob es bloß ein Zeitvertreib eines gelangweilten Jugendlichen und damit nicht ernst zu nehmen war. Andererseits: wie kommen Jugendliche auf solche Gedanken? Leben wir ihnen das vor? Die Gedanken sind frei?
   „Erzähl mir davon, wie du dich vorbereitet hast.“ Schon die Frage war obszön. Genauso gut hätte er einen potentiellen Selbstmörder, der sich mit einer Pistole das Gehirn aus dem Kopf pusten wollte, fragen können, wie er sich vorbereitet hatte. Wo er die Pistole gekauft hatte. Ob er die Kugeln im selben Geschäft bekommen hatte. Ob er einen Waffenschein besaß. Wo er sich erschießen wollte. Ob er dabei sitzen oder stehen oder liegen wollte. Ob er mit offenen oder geschlossenen Augen schoss. Ob er sich Sorgen machte, wer das Blut danach aufwischen musste.
   „Ich binde jetzt den Strick an der Decke fest.“
   „Nein, ich meine, was du vorher getan hast. Wie hast du den Tag verbracht? Musstest du den ganzen Tag daran denken, was du heute machst? Aus welcher Gesinnung machst du das? Empfindest du dabei sexuelle Lust? Wirst du feucht bei dem Gedanken?“
   Sie schien zwei Minuten zu überlegen.
   „Ich bin den ganzen Tag barfuss und bin nervös. Ja, ich denke immer daran. Ich will den geilen Kick.“
   Seine Augenlider waren schwer vor Müdigkeit, aber er konnte jetzt nicht gehen. Wenn sie das ernst meinte. Wenn. Er überlegte, ob Hilfe zu holen war. Aber er machte sich nur lächerlich, wenn dabei herauskam, dass ein pubertierender Junge auf der anderen Seite saß und sich totlachte. Totlachen. Welch makaberes Wort. Außerdem: an wen sollte er sich wenden? Polizei? Wohl kaum. Webmaster? Vielleicht. Aber was konnte der schon ausrichten? Sie war nicht mal Poweruser. Damit war sie wahrscheinlich auch nicht mit den richtigen Daten registriert. Außerdem hätte der Webmaster viel zu tun, wenn er allen sexuellen und anderen Kuriositäten in diesem Chat nachginge. Und chatten würde hier auch niemand mehr wollen, aus Angst, die Polizei vor der Tür zu haben, nur weil man mal einen Scherz gemacht hat. Alle Wege verliefen ins Nichts. Er konnte nichts anderes tun, als sie bei Laune zu halten. Oder vielleicht konnte er sie in ein Gespräch verwickeln, so dass sie schließlich den Hauptgedanken vergaß. Das war schwerlich vorzustellen, aber seine einzige Chance. Noch einmal sah er sich die Info zu ihrem Namen an: wer hängt mich nackt.
   Wie konnte man dabei den geilen Kick empfinden? Zu spüren, wie der Strick sich enger um den Hals zieht und die Luft weniger wird. Das ist der Moment, in dem man panisch mit den Füßen den Boden zu erreichen versucht. Aber den Stuhl, auf den man gestiegen ist, hat man umgetreten, wie man es in den Filmen immer sehen kann, und er liegt unerreichbar fern. Und irgendwann in diesen Sekunden soll sich der sexuelle Kick ereignen? Unvorstellbar. Unvorstellbar vor allem die grausamen Empfindungen, wenn der sexuelle Kick von der Todesangst überrollt wird und einer Todesgewissheit Platz macht. Unausweichlich ist der Tod. Er schüttelte den Gedanken von sich ab und widmete sich wieder dem Gespräch.
   „Was hast du jetzt gerade an? Wo hast du den Strick gekauft? Woran hängst du den Strick auf?“ Er hätte nicht an den Selbstmörder mit der Pistole denken sollen. Jetzt stellte er genau diese Fragen.
   „Ich hab nur ein Tuch um. Den Strick hab ich im Baumarkt gekauft. An einem Haken an der Decke mach ich ihn fest.“
   „Gibt es eine Zeit, wann du es tun willst?“
   „Ja, eigentlich punkt null Uhr, aber ich weiß nicht, ob ich den Mut habe.“
   Er beugte sich nach vorne ins Licht der Kerze und sah auf seine Armbanduhr. Es war dreiundzwanzig Uhr und zweiundzwanzig Minuten. Er hatte noch Zeit genug.
   „Ich hoffe sehr, dass du keinen Mut hast, weil ich befürchte, dass du keinen in deiner Nähe hast, der dich retten kann. Der Todeskampf ist kein Kick mehr, das kannst du mir glauben. Kann ich dich noch abhalten?“
   Er schickte seine Nachricht ab und bekam sofort eine von ihr zurück: „Noch da?“
   Schnell tippte er zurück: „Natürlich bin ich noch da… ich werde nicht gehen.“ Er hatte wohl zu lange mit seiner Antwort gezögert. Das durfte ihm nicht wieder passieren. Sie wurde ungeduldig. Der Zeitpunkt rückte näher. Dreißig Minuten noch.
   „Galgenmädchen ist nicht bekannt.“ Erschrocken sah er auf die Nachricht des Systems. Sie hatte den Chat verlassen. Dann war es doch nur ein Rollenspiel gewesen? Oder der pubertierende Junge war von seinen Eltern unterbrochen worden, die vom Theaterbesuch nach Hause kamen. Trotzdem beschlich ihn weiterhin ein mulmiges Gefühl.
   Er aktualisierte das Fenster. Wieder. Immer wieder.
   Fünfzehn Minuten vor null Uhr war Galgenmädchen wieder online.
   „Ich dachte schon, du hättest es schon getan… als du grad off warst.“ Keine nette Begrüßung, aber er wollte gleich wieder auf das Thema kommen, weshalb er sich die ganze Zeit um sie gekümmert und gesorgt hatte.
   „Mist, es hat mich jemand durchs Fenster gesehen, als ich den Strick an der Decke festmachte.“
   Hoffnung keimte in ihm auf. Sein Herz schlug wilder. Kam ihm jemand zur Hilfe? Nein, die Frage musste lauten: kam ihr jemand zur Hilfe? Hatte jemand gesehen, was sie da vorbereitete? Aufgeregt antwortet er: „Was ist passiert? Hat er dich davon abgehalten? Die Polizei geschickt? Angerufen?“
   Die Zeit, die er auf die Antwort warten musste, schien lang zu werden. Dabei konnte sie gar nicht lang werden, denn in etwa zehn Minuten trafen sich beide Zeiger der Uhren dieser Zeitzone auf der Zwölf.
   „Nein, er glotzt immer noch durchs Fenster. Er hat mich voll nackt gesehen.“
   Ein Spanner. Ein dämlicher Spanner. Der wahrscheinlich seit Tag und Nacht am Fenster steht und darauf wartet, dass sich jemand in den gegenüberliegenden, hell erleuchteten Fenstern entkleidet. Und auf dieses Mädchen von gegenüber hatte er sowieso schon ein Auge geworfen. Er beobachtete jeden ihrer Schritte, den er von seinem Fenster aus sehen konnte. Als sie in den letzten Tagen mit einem Strick unter dem Arm nach Hause kam, hatte er gleich wieder diese Fessel-Phantasien, die ihn schon seit einigen Monaten verfolgten. Er konnte sich gut vorstellen, wie sie nackt auf dem Bett lag, die Gliedmaßen jeweils mit einem Strick…
   Er konzentrierte sich wieder auf den Chat vor ihm und schaltete sein Kopfkino aus. Er schrieb einfach eine der letzten Nachrichten noch einmal ab: „Ich hoffe sehr, dass du keinen Mut hast, weil ich befürchte, dass du keinen in deiner Nähe hast, der dich retten kann. Der Todeskampf ist kein Kick mehr, das kannst du mir glauben. Kann ich dich noch abhalten?“
   Keine Minute später: „Nein, ich will es tun.“ Noch sieben Minuten.
   Er unternahm einen letzten verzweifelten Versuch. Hoffungslos. Am Boden zerstört. „Und was ist, wenn du es unter meiner Aufsicht tust, so dass dir nichts passieren kann? Immerhin fragst du in deiner Info, wer dich nackt hängt. Also suchst du doch jemanden, der dir dabei hilft, oder nicht? Ich würde mich anbieten, damit dir nichts passiert. Wie bist du überhaupt auf den Gedanken gekommen?“ Ein letzter Appell an ihre Vernunft. Er würde ihr niemals helfen wollen, sich den sexuellen Kick zu verschaffen, aber bis es soweit war, konnte er professionelle Hilfe holen. Er glaubte nur, dass all seine Versuche keinen Erfolg brachten. Noch vier Minuten.
   „Ich mag das Risiko dabei. Den Gedanken hatte ich schon, seit ich vierzehn bin.“ Was musste sie in der Kindheit erlebt haben, um in diesem Alter solche sexuellen Phantasien freizusetzen? Noch zwei Minuten.
   Null Uhr.
   „Aber bis heute hast du’s noch nie getan. Warum also heute?“ Sah sie die Zeit nicht?
   Eine Minute über die Zeit.
   „Weil ich es jetzt einfach tun will.“ Der Wille war noch immer ungebrochen.
   Dafür brach bei ihm die pure Verzweiflung durch: „Du bist absolut verrückt. Wie kann man für den sexuellen Kick so mit seinem Leben spielen? Hast du was Schriftliches hinterlassen, damit derjenige, der dich findet, weiß, warum du es getan hast?“
   Zweieinhalb Minuten über die Zeit.
   Er dachte an ihre Eltern, diese Ahnungslosen. Er dachte an eventuelle Geschwister, die den Wahnsinn nicht begriffen. Wer konnte ihnen das erklären? Er sah ihr Bild auf dem Kaminsims im Wohnzimmer stehen. Er dachte an den Mann, der auf der anderen Straßenseite am Fenster stand und geil das nackte Mädchen betrachtete und sich dabei nicht wunderte, warum sie den Kopf so schief hielt. In solchen Momenten wünscht man jedem Spanner ein Fernglas und ein Telefon in die Hand.
   „Ja, das habe ich.“ Drei Minuten über die Zeit. Sein Kopfkino machte sich wieder an die Arbeit. Er sah den Brief mit schwarzer Tinte auf dem Schreibtisch liegen. Eine typische Mädchenhandschrift. Sie hatte ihr bestes Papier genommen. Sie rechnete mit ihrem Ableben. Sie ging nicht davon aus, dass sie es überlebte. War es ihr egal? War es tatsächlich ein gut geplanter und hinter einer sexuellen Perversion versteckter Selbstmord, der es den Hinterbliebenen leichter machen sollte? Er sah aber auch den auf dem Computer geschriebenen Brief, den man eigentlich nicht sah, weil der Bildschirmschoner ihn verdeckte. Hier waren einfach nur ein paar Wörter wild in den Computer getippt. Nichts Überlegtes.
   Er fragte sie: „Was hast du geschrieben?“ Er hoffte, sie würde ihm den Brief in den Chat kopieren. Sieben Minuten über die Zeit.
   „Dass ich es wegen des sexuellen Kicks getan habe.“ Achteinhalb Minuten über die Zeit.
   „Hast du es handschriftlich geschrieben oder auf dem Computer?“ Er musste die Bilder in seinem Kopf klären. Zehn Minuten über die Zeit.
   „Ich hab es handschriftlich geschrieben.“ Zwölf Minuten über die Zeit. Der Gedanke mit dem Brief auf dem Computer verschwand in seinem Kopf und machte dem Brief mit schwarzer Tinte auf dem Schreibtisch Platz.
   „Wie lang ist der Brief geworden und an wen hast du ihn gerichtet?“ Er schöpfte wieder Hoffnung. Dreizehneinhalb Minuten über die Zeit.
   Keine Antwort.
   Vierzehn Minuten über die Zeit verlässt sie den Chat. Das System meldete wieder: „Galgenmädchen ist nicht bekannt.“
   Er aktualisiert immer wieder das Fenster. Doch sie kehrt nicht zurück.
   Um halb eins öffnet er ein letztes Mal die Info über sie. „Galgenmädchen. Wer hängt mich nackt. Eingeschrieben seit: Mittwoch, den 29.10.2003. Letztes Lebenszeichen: Samstag, 06.12.2003 um 00:14:44. Poweruser: not available. Kontakt: Email an Galgenmädchen.“