Nike Bös: Nach Katrina
Das Schießen erledigte er mit der gleichen Routine und entspannten Konzentration, mit der er früher als Ministrant dem Priester Weihrauch und Aspergill angereicht oder während der Wandlung mit den Altarschellen geläutet hatte. Eine unendliche Ruhe überkam ihn dann und die hoffnungsvolle Überzeugung, seinen Platz gefunden zu haben. Keine nervösen verzweifelten Blicke mehr in Carols Richtung, die in der ersten Reihe saß, ihr engelhaftes, blond umrahmtes Gesicht eingesperrt zwischen der frostigen Miene ihres Vaters und dem verklärten Blick ihrer Mutter, den sie immer in der Kirche zur Schau trug, als erwartete sie, jeden Moment von Gott persönlich heilig gesprochen zu werden. Kaum zu glauben, dass sein verknöcherter Geschichtslehrer und dessen blutleere Frau eine solche Tochter hatten. Carol trug eine Bluse, die ihr fast zu eng war und ihren phänomenalen Busen betonte, von dem jeder Schüler der Holy-Cross-Highschool träumte, und ihr Rock war zwar von einer züchtigen, sonntäglichen Länge, ließ aber dennoch so viel von ihren großartigen Beinen sehen, dass es gut war, dass er die Wandlungsglocken in der Hand hielt und sich auf seine Aufgabe konzentrieren musste. Er lauschte den Worten des Priesters, und an den vertrauten Stellen, die ihm als Zeichen zum Einsatz dienten, schellten er und die Jungen, die neben ihm beim Altar knieten.Im Kampf hatte er festgestellt, dass seine Gabe, sich so vollkommen auf eine Tätigkeit zu konzentrieren, ihm dabei half, die Angst im Zaum zu halten. Wenn er sein M16 anlegte, zielte und schließlich schoss, war kein Platz mehr in seinem Hirn für Furcht. Er drückte ab und tötete mit einem ähnlichen Gefühl der Ruhe und meditativen Konzentration, das er als Thuriferar empfunden hatte.
Die Landschaft lag in einer unendlichen Weite aus Sand und Geröll vor ihm, aus deren Mitte sich in etwas mehr als 100 Yards Entfernung weißgraue zweistöckige Häuser zu einem namenlosen Dorf erhoben. Der Wind wehte roten Staub vor sich her, der durch Ritzen und Schießluken ins Innere des Humvees drang. Schweiß und Dreck liefen ihm als schmutziges Rinnsal in die Augen. Er blinzelte und zielte. Die Figur, der er erst das Knie zerfetzte, und, während sie zusammensackte, eine Kugel in den Brustkorb jagte, war nicht viel größer als die Blechbüchsen, auf die man auf Jahrmärkten schoss. „Mach ihn alle!“, schrieen ihm seine Kameraden zu. „Guter Schuss, Gunny.“ Er war der beste Schütze in seinem Platoon, pflückte den Feind mit einer Leichtigkeit von Hausdächern und aus Hinterhalten, als hielte er einen Joystick in der Hand und säße vor einem Computer. Dabei hatte er solche Spiele nie gespielt. Für ihn hatte es immer nur die Schule, die Kirche und die Musik gegeben, alle drei mit dem großen Vorteil, dass sie mit seinem Zuhause nichts zu tun hatten. Die Hausaufgaben erledigte er in der Schulbibliothek oder im Haus des Pfarrers, das ihm immer offen stand, manchmal auch auf den Stufen zu Bobby's Café, wo sich ein paar alte Jazzer nachmittags manchmal bei Eistee zu einer Jamsession trafen. Weil er Bobby so treu ergeben war wie ein Hund, ihm beim Saubermachen und Aufräumen half, jagte man ihn nicht davon und ließ ihn zuhören. Harold behauptete, er habe noch mit Satchmo gespielt, was von einem Teil der Truppe mit ehrfürchtigen Seufzern bedacht und dem anderen als Humbug und Angeberei abgetan wurde. Manchmal, wenn Bobby Whisky spendierte, und die alten Herren besonders gut aufgelegt waren, ließen sie ihn singen. George, den sie Old Daddy riefen, und der sich oft am Mississippi herumtrieb, hatte ihm einmal zufällig zugehört, wie er am Fluss entlang gelaufen war, Steine ins Wasser geworfen und St. Louis Blues gesungen hatte. „Wer hätte das gedacht“, hatte Old Daddy ihm zugerufen, „weiß wie die Unschuld, mit einem Maul so schief, dass einem beim Hinsehen ganz schwindlig wird, aber singt wie ein Vögelchen.“ Er war zwölf gewesen, noch mit der hohen Stimme eines Knaben, und das Lied, das eigentlich für eine weibliche Stimme geschrieben worden war, war ihm in der Kehle gelegen wie ein Schluck guter Whisky, zumindest hatte Old Daddy es seinen Jungs so beschrieben.
An jenem Nachmittag am Fluss hatte er sich erschrocken umgedreht und war davon gerannt. Fast zwei wochenlang hatte er sich nicht einmal mehr in die Nähe von Bobby’s Café gewagt, aber dann war die Sehnsucht nach Musik und Gesellschaft größer geworden, als die Scham beim Singen erwischt worden zu sein, und irgendwann hatte er sich heimlich angeschlichen, als die Truppe schon begonnen hatte zu spielen, die Hände in den Hosentaschen, den Blick gesenkt. So ging er fast immer, nicht nur, wenn er gerade besonders verlegen war. Mit einem Gesicht, dessen Nase eingedrückt und dessen Kiefer auf der rechten Seite so aussah, als wären seine Knochen aus Knetmasse und jemand wäre darüber gelaufen, wich man den Blicken der Menschen lieber aus. „Deine Fresse sieht aus wie ein schlechter Scherz, Mann“, sagte Bob oft. „Wenn du nicht mein beschissener scheißfrommer Bruder wärst, könnt ich mir vor Angst glatt ins Hemd machen.“ Alle in der Nachbarschaft wussten, dass er seinem Vater sein entstelltes Gesicht zu verdanken hatte. Immerzu trafen ihn verschämte mitleidige Blicke. „Kein Wunder, dass nur ein paar alte Nigger deine Visage ertragen“, meinte sein Bruder. „Der Alte hätte besser noch ein paar Mal zugeschlagen, dann wärst du vielleicht krepiert und dein Anblick wäre uns erspart geblieben.“ Aber sein Vater hatte noch rechtzeitig, bevor seine schwangere Frau ohnmächtig zusammengebrochen war, aufgehört, und einige Monate später war er mit einem eingedrückten Gesicht zur Welt gekommen.
Nach seiner Geburt war es nicht besser geworden, so lange er sich erinnern konnte, war er immer auf der Flucht vor den Schlägen und Tritten seines Vaters gewesen. Nach Hause traute er sich erst spät am Nachmittag, wenn der Alte schon schlief oder zu betrunken war, um ihn noch zu erwischen, und morgens verließ er das Haus in aller Herrgottsfrühe, noch bevor der andere seinen Rausch ausgeschlafen hatte. Die wenigen Stunden, in denen sein Vater fast nüchtern war, waren gefährlicher als alles, was nach dem ersten geleerten Glas kam.
„Hey, Junge, komm, sing uns den St. Louis Blues“, hatte ihm Old Daddy zugerufen, als er ihn im hintersten Winkel der Veranda des Cafés entdeckt hatte. „Yeah“, riefen auch die anderen. „Old Daddy meint, du wärst ein kleiner Singvogel“, sagte Harold, blies in die Trompete und entlockte ihr die ersten Noten des Stückes. Mit den Füßen stampfte er den Rhythmus auf den Holzboden, Old Daddy setzte die Klarinette an, Bernard griff in die Seiten des Kontrabasses, und als sein Einsatz kam, sang er mit schweißnassen Fingern und einem Herz, das so stark klopfte, dass es seinen Brustkorb fast sprengte: „I hate to see that evening sun go down.“ Als er geendet hatte, klopfte ihm Bobby anerkennend auf die Schulter: „Gut gemacht, Junge.“ Und Old Daddy sagte: „Bald mal wieder.“ Als er sich später davonschlich, hörte er wie Bernard zu den anderen sagte: „Kein Wunder, dass der Junge was vom Blues versteht. Lebt als Weißer in der schwärzesten Ecke vom Lower Ninth Ward, mit diesem Säufer und Schläger zum Vater. Von der Mutter sagt man, dass ihr der heilige Jesus näher steht als die eigenen Kinder. Und dann sein Gesicht.“
„Schieß das Schwein ab, Gunny“, schrieen seine Kameraden. Der Humvee hatte sich den Häusern bis auf 40 Yards genähert. Der Feind rührte sich nicht mehr, auf den Dächern und am Boden lagen Tote, nur ein einsamer Mann in einer staubigen Uniform stand mit erhobenen Händen auf dem Dach eines Hauses und rief etwas. „Knall ihn schon ab, das ist bestimmt eine Falle.“ „Yeah, mach ihn alle, Gunny.“ Das M16 drückte auf die Schulter, die Macht der Waffe wog schwer, auch über ihn. 40 Yards sind zu wenig, um die Bartstoppeln im Gesicht eines Mannes zu erkennen, den man im Begriff ist zu töten, aber 40 Yards reichen aus, um aus ihm mehr als eine Blechdose zu machen. Er sah wie die erhobenen Hände des Feindes zitterten, ein dunkler Fleck malte sich in seiner Hose ab. „Der verdammte Motherfucker pisst sich in die Hosen, Mann.“ „Komm schon, Gunny, erlös die arme Sau.“ Einmal, als sein Vater ihn ganz fürchterlich verdroschen hatte, und er sich in eine Ecke des Wohnzimmers geflüchtet hatte, war der Alte mit einem Schürhaken hinter ihm her gerannt. Da hatte er die Kontrolle über seine Blase verloren und sich in die Hosen gepinkelt, und auf dem verschlissenen Teppich hatte sich eine kleine Pfütze aus Urin gebildet. Der Vater hatte den Eisenhaken fallen gelassen, fast nüchtern hatte er einen Moment lang ausgesehen, und war aus dem Haus gestürzt. Er war damals vielleicht acht, und obwohl er sich kein zweites Mal einnässte, wenn sein Vater ihn schlug, hatte er sich noch oft ähnlich ohnmächtig gefühlt wie an jenem Tag. „Mach schon, Gunny.“ Die Jungs in seinem Humvee waren fast freudig erregt und hysterisch, er selbst so ruhig, dass er darüber erschrak. So also fühlte es sich an, wenn man das Leben eines anderen vollkommen in der Hand hatte. Er musste nicht schießen, konnte den anderen leben lassen, wenn er nur wollte. „Mach ihn kalt!“ Er legte das Gewehr neu an, zielte und zog am Abzug. Kopfüber fiel der Mann vom Dach. Seine Kameraden klatschen begeistert Beifall. Irgendwann werde ich hierfür bezahlen, dachte er noch flüchtig, bevor sich der Humvee wieder in Bewegung setzte.
Jahre später, der Krieg ist schon lange vorbei, aber das Sterben auf seiner Seite hat erst danach richtig angefangen, bezahlt er. Es ist sein dritter Einsatz im Irak. Volle drei Jahre gehört er der Armee, wenn er auf ihre Kosten aufs College will. Seine Einheit ist unweit von Bagdad stationiert, und an einem Morgen, Anfang September, fährt der Jeep, hinter dessen Steuer er sitzt, über eine Antifahrzeugmine, die den Wagen von unten aufreißt wie eine Sardinenbüchse und ihn Meter weit durch die Luft schleudert. Er traut sich nicht, nach seinen Beinen zu sehen, Splitter haben ihn am Hals getroffen, aus der tiefen Wunde sickert ihm Blut ins T-Shirt seiner Uniform, das Atmen fällt ihm schwer und er kann nicht sprechen. Vor vier Tagen ist Hurrikan Katrina über seine Stadt hinweggefegt und hat sie fast ersäuft. Vom Lower Ninth Ward, seinem alten Viertel, ist nicht mehr viel übrig, New Orleans liegt im Sterben, und es scheint, dass er ihrem Beispiel folgen soll. Aber sie überleben, beide, zwar mit Verlusten und Narben, von denen man sich nie wieder so ganz erholt, aber es gibt sie noch.
Sein Vater ist im Lower Ninth Ward ertrunken. Den Evakuierungsbefehlen hatte er sich widersetzt. Während der Bergungsarbeiten finden Soldaten seine aufgeschwemmte Leiche im Elternschlafzimmer, wo er sich verbarrikadiert hatte. Mutter hat es noch rechtzeitig aus der Stadt geschafft und wohnt seitdem bei ihrer Schwester in Jackson. Bob ist seinem Beispiel gefolgt, auch irgendwann zur Armee gegangen und jetzt in Afghanistan.
Mutter hat ihn zwei Mal besucht, aber sie bleibt nie lange. Sie sagt, sie könne Houston nicht ertragen. Was er an Houston vor allem nicht erträgt, ist, dass sein alter Radiosender, WWOZ, der seit einigen Monaten wieder Programm ausstrahlt, nur schwer zu empfangen ist. Ärgerlich spielt er am Drehknopf des Kofferradios, das ihm Old Daddy, den es ebenfalls noch Texas verschlagen hat, mitgebracht hat. Bobby ist angeblich wieder in der Stadt, Bernard während der Evakuierung an einem Herzinfarkt gestorben, und um das Schicksal von Harold ranken sich Gerüchte. „Ich wette, er hat sich in Mobile bei seinem Bruder verkrochen, isst gekochte Shrimps und bläst noch immer den Big-Easy-Blues auf seiner Trompete“, meint Old Daddy, wenn er ihm Gesellschaft leistet, sie in der Hitze Eistee trinken und WWOZ hören.
Einmal hat Carol ihn besucht. Als sie noch zur Schule gingen, hat er ihr Nachhilfestunden in Mathematik gegeben. Eine ganze Menge Schüler der Holy-Cross-Highschool hatte sich damals vergeblich vor ihm um den Job bemüht. Als er sich vorstellte, sah Carols Vater ihn nur flüchtig an und nahm ihn dann an. Er sah offensichtlich zu beschissen aus, um über Geometrie und Algebra die Unschuld seiner Tochter ernsthaft zu gefährden.
Sie studiere in Houston Literaturwissenschaft, erzählt Carol nervös und weiß nicht, wie sie ihn ansehen soll. Mit seinem schiefen zerschlagenen Gesicht hat sie nie Probleme gehabt, hat ihm immer offen in die Augen geschaut, aber mit seinen fehlenden Beinen und seiner leisen krächzenden Stimme – die Minensplitter haben seinen Kehlkopf ganz schön zugerichtet – hat sie offenbar Probleme. Ihr Verlobter, ist in Karbala stationiert. Und er weiß, dass sein Anblick ihr eine mögliche Zukunft vor Augen hält, vor der sie sich fürchtet. Sie bleibt eine Dreiviertelstunde, füllt sein Glas immer wieder mit Wasser, das er aus Höflichkeit leer trinkt und so am Ende ihres Besuchs an nichts anderes als seine volle Blase denken kann. Carol ist noch schöner, um die Hüften hat sie etwas zugelegt, und die Sorge um den Geliebten zeigt sich in ihren Augen in einer Verletzlichkeit, die ihm früher nicht aufgefallen ist. Es sei schön gewesen, ihn wiederzusehen, sagt sie zum Abschied, während sie höflich seine Hand schüttelt und auf ihre Schuhspitzen starrt. „Ich komme bald wieder.“ Sie wissen beide, dass sie lügt und lächeln verlegen. „Mach’s gut, James.“
Am späten Nachmittag kommt Old Daddy vorbei, er hat Bier ins Krankenhaus geschmuggelt, und sie hören Nachrichten. In Bagdad hat sich wieder jemand in die Luft gesprengt. „Es ist doch erstaunlich“, sagt der alte Mann abwesend, „dass Amerika mächtig genug ist, mit Hunderttausenden in fremde Länder einzufallen, aber wenn im eigenen Land ein Hurrikan wütet, hilflos und ohnmächtig dabei zusehen muss, wie eine ganze Stadt absäuft.“ Das Radio rauscht, und er dreht am Drehknopf. „Ich muss hier bald raus, Old Daddy“, kräht er mit seiner kaputten Stimme. Er denkt an den Mann, der sich ergeben wollte und den er vom Dach des Hauses geschossen hat. Seine Kameraden wollten ihn schießen sehen, aber das entschuldigt nichts. Erbarmungslosigkeit ist eine häufige Schwäche der Mächtigen. Er findet, dass er es besser als andere hätte wissen müssen, und doch ist er nicht gewappnet gewesen. „Da ich keine Prothesen will, gibt es keinen Grund mehr, mich hier länger zu behalten.“ Er würde seine Strafe absitzen. Old Daddy nimmt einen Schluck Bier und sagt. „Ich hab mir schon so etwas gedacht. Du kommst zu mir. Ich hab zwei Zimmer. Beschissener Sozialbau und in Houston, aber besser als nichts.“ Er nickt dankbar.
Ein paar Wochen später zieht er um. Old Daddy holt ihn im Veteranenhospital ab. Sie bieten ein komisches Paar: ein alter Schwarzer in Jeanslatzhosen und ein junger Weißer ohne Beine und mit schiefem Gesicht. Brummig verstaut der Taxifahrer Rollstuhl, Kofferradio, und eine Tragetasche im Kofferraum und fährt sie nach Hause. Die Wohnung hat eine Küche, zwei winzige Zimmer, ein Bad im Gang, dessen Tür so schmal ist, dass der Rollstuhl nicht hindurchpasst und er es auf Händen benützen muss, und einen Balkon, auf den er fährt und das Radio auf einen Plastiktisch stellt, während Old Daddy sich in der Küche zu schaffen macht. Zur Feier des Tages gibt es Gumbo mit Riesenshrimps. „Ein Rezept meiner Mutter“, erzählt der alte Mann vergnügt, während er das Essen serviert. „Dreh mal das Radio lauter, ich glaube, sie spielen deinen Song.“ Bessie Smith singt gerade:„Cause my lovin' baby done left this town“. Old Daddy lächelt und sagt: „Fast so, als wären wir wieder zuhause in New Orleans, mein Junge!“ „Ja, fast“, stimmt er zu.