Henriette Dushe: Von der Faust im Magen
Unerträgliche Hitze und seit Wochen kein Niederschlag, der Dreck, Staub und Aggressivität aus der Stadt spülen würde. Schweiß und ohrenbetäubender Lärm im überfüllten Großraumabfertigungsbereich des Jobcenters Friedrichshain-Kreuzberg. Atemnot. Während sich junge Männer mit sogenanntem arabischen Migrationshintergrund lauthals über ein Musik plärrendes Handy hinweg beschimpfen und eine Mutter mit pädagogisch überfordertem Handlungshintergrund auf ihre nörgelnde Kinder Beschwörungen zischend einschlägt, wird der gesamte Warteraum Zeuge eines handgreiflichen Übergriffes auf eine entschleunigte Sachbearbeiterin durch einen Kunden mit deutlichem Aggressionshintergrund. Ein überalterter Wachschutz mit offensichtlichem Alkoholmissbrauchshintergrund wird eingeschaltet, als mein Name ausgerufen wird.
Das Anliegen wird brüllend verhandelt: Ohne Einreichung eines dringend erforderlichen Papieres, kein wohlwollender Bescheid zur Existenzsicherung, auch keine Vorerst-Bearbeitung, man habe genug zu tun, sagt das Gegenüber und zeigt mit fahriger Geste auf das Drumherum. Mein Blick bleibt beim Abbild zweier stattlicher Stuten über einem Schreibtisch am anderen Ende des Raumes hängen. Ich erörtere die Komplikationen mit der Ausstellung des absenten Papieres, die einzig fehlende Unterschrift kann auf Grund der momentanen Urlaubszeit nicht ausgestellt werden, dafür aber läge ein anderes Papier von der dafür zuständigen Behörde vor, dass diesen Sachverhalt bestätige. Ich erhalte die Anerkennung einer nicht selbst verschuldeten problematischen Sachlage. Als mir auch erkennbare Bereitschaft zur transparenten Mitarbeit bestätigt wird, löst sich meine angespannte Haltung leicht und befördert ein dankbar-devotes Lächeln auf mein Gesicht.
„Nicht soviel fragen, einfach machen“, kurz die Antwort auf die Frage nach dem Unterschied zwischen Renten- und Sozialversicherungsnummer, die mehrmals getrennt von einander im Antrag auf Arbeitslosengeld II abgefragt werden. Die Angst vor §66 SGBI/Absatz 1 bemächtigt meiner und löst einen angestrengten Bericht über ausgiebige Recherche aus, die die Vermutung nährte, dass es sich um ein und dieselbe Nummer handeln muss. „Richtig“, bestätigt das Gegenüber und wiederholt den ersten Leitsatz meiner neuen Lebensrealität: „Nicht soviel fragen“. Den möglichen Verweis auf irreführende Befragung des Antragsbogen verschluckend erinnere ich mich an die ehemalige Kollegin, die geistig randalierend am Telefon von ihrem Antragsabgabeversuch an einem anderen Departement der Agentur berichtete, bei dem sie zu einem 30stündigen Kursus verpflichtet wurde, der die Anleitung zum Ausfüllen des Antrages auf Arbeitslosengeld II beinhaltete. Ihren Hinweis auf das Absurdum, Anträge zu entwerfen, die 30stündige Studien benötigten, beantwortete ihr Gegenüber mit der Bemerkung, dass er Arbeit habe; mit Sperrzeiten drohte er bei ihrem Bekenntnis, dass sie glaube den Antrag in erheblich geringerer Lebenszeit ausfüllen zu können, schließlich hätte sie doch nur das eine. Während mir ein Laufzettel mit unendlichen Verweisen auf noch fehlende Unterlagen ausgestellt wird, schweige ich also und frage nicht. Alsbald treffe der positive Bescheid bei mir ein, so dass zum nächsten Monatsersten mit der Sicherung des Lebensunterhaltes gerechnet werden kann. Wieder das dankbare Lächeln, ein wenig schwächer als das erste, ich bin erschöpft vom Paralleluniversum der Halle mit ihrem Interieur, von Hitze und Lautstärke. Bei der Flucht aus dem Raum fällt mein Blick auf einen Wartenden, dessen Augen konzentriert auf der Taschenbuchausgabe von „Sartre und der Existentialismus“ ruhen.
Nach Wochen ein gewaltiger Umschlag im Postkasten, Absender ist der oder das Jobcenter, der mit hilfloser Angst erwartete Monatserste ist lange vergangen, das Bankkonto weit unterschritten, jede Tasche nach zurück gebliebenem Kleingeld durchwühlt, jede sich im Haus befindliche Pfandflasche gegen Bargeld eingetauscht. Doch der Umfang der Briefsendung erweist sich nicht in ausführlichen Berechnungen des zukünftigen Lebensunterhaltes, sondern im Versand zahlreicher Gesetzestexte, die auf die Folgen von Tatsachenverschleierung und Verweigerung aufklärender Mitarbeit hinweisen. Dem Misstrauensvotum auf der Spur der Griff zum Telefon, ich wähle die angegebene Nummer für eventuell auftretende Nachfragen, „Herzlich willkommen in Ihrem SGB-II-Servicecenter, vielen Dank für Ihren Anruf.“ Die automatisierte Stimme verspricht, mich mit dem nächsten freien Kundenberater zu verbinden, „Bitte bleiben Sie dran“, mein Blick aus dem Küchenfenster beobachtet einen, der die Mülltonnen im Hinterhof durchsucht, vergeblich, denn vor einer Stunde war schon ein anderer da. „Herzlich willkommen in Ihrem SGB-II-Servicecenter, vielen Dank für Ihren Anruf, wir sind gleich für Sie da.“ Als mein Blick auf die den Küchentisch blockierende Mahnung des entpersonifizierten Forderungsmanagements der Telekom fällt, lege ich auf, sammle die mich verwarnenden Papiere in die Tasche und mache ich auf den langen Weg zum Jobcenter Friedrichshain-Kreuzberg.
„Who the fuck ist eigentlich ein Assesment-Center“, frage ich die ehemalige Kollegin, die wieder in meiner Telefonleitung schwirrt. Bei ihrer 30stündigen Maßnahme zum Ausfüllen des Antrages ward sie unter Androhung des finanziellen Existenzentzuges gezwungen, gemeinsam mit den anderen Verurteilten im maßnahmeveranstaltenden Assesment-Center mit Schere und Klebstoff einen Turm aus Papier zu bauen, um zu zeigen, wie sie sich teamorientiert mit der Bewältigung unvorhergesehener Probleme kreativ auseinander zu setzen in der Lage ist. „Warum schreit und randaliert ihr nicht?“, frage ich mit F.K. Wächter und sie beteuert stolz, dass sie nicht geschrien hätte und auch nicht geweint, zumindest nicht dort. Die Erschöpfung sei das Schlimmste sagt sie, diese unendliche Lähmung, die sie dort ergreife und ich meine zu wissen, was sie meint, nur nenne ich es Entfremdung und ich spüre sie sogleich, die Faust in meinem Magen, die sich immer ballt, wenn ich mich in feindliche Zusammenhänge begeben muss, und sie wartet auch schon auf mich, in Zimmer 1038 des Jobcenters Friedrichshain-Kreuzberg, meine mir nun zugewiesene Kundenbetreuerin, Sachbearbeiterin, Fallmanagerin zu einem angekündigt-konstruktiven Gespräch zu meinem aktuellen „Bewerberangebot“. In Erinnerung an den konzentriert Sartre-Lesenden des letzten Agenturbesuches greife ich zu Camus` „Mensch in der Revolte“, zu Unrecht von Sartre verkannt und verspottet: „Ich leide also sind wir“ und die Absurdität als „Herz zerreissenste aller Leidenschaften“.
Mein Antrag auf Bewerbungskosten kann noch nicht angenommen werden, warum überhaupt schon so viele Bewerbungen versendet wurden, und ich verstehe trotz größter emphatischer Anstrengung das Gegenüber nicht. Die Fristen müssten eingehalten werden, ich sei noch keine sechs Wochen arbeitssuchend gemeldet, ob nicht erst mal eine Maßnahme zum Bewerbungstraining angemessen wäre, und: „Warten Sie doch erst mal, bis der wohlwollende Bescheid in Ihren Händen liegt.“ Aber wo bleibt er nur, der Bescheid, ich warte schon lang und verweise auf die katastrophal-finanzielle Lage und auf die Schreiben diverser Forderungsmanagement-Verwaltungen, die meinen Küchentisch blockieren, aber für die finanziell-existentiellen Fragen ist die Leistungsabteilung zwei Stockwerke über uns zuständig, die heute keine Sprechstunde hat.
Ich nutze die nächste finanziell-existenzlose Woche und kündige das Abonnement der Tageszeitung, das der Wochenzeitung, den Sportverein und auch den Benutzerausweis für die Staatsbibliothek verlängere ich nicht: Die „soziokulturellen“ Beiträge sowie die für „Nachrichtenübermittlung“, die mir mit meinem endlich eintreffenden Bescheid monatlich zugesprochen werden, umfassen insgesamt zwar 61,01 Euro, nur will der Beitrag für „Instandhaltung, Strom und Gas“ von 26,83 Euro die tatsächliche Rechnung nicht decken und auch meinen „Gesundheits- und Pflegeetat“ von 13,19 Euro überschritt ich mit einem einzigen Arztbesuch. Umverteilung ist gefragt. Gottlob schlägt der Betrag von 132,15 Euro für „Nahrung, Getränke und Genussmittel“ direkt in die Magengrube und zieht so zwangsläufig die erforderlich-enthaltsame Sparsamkeit mit sich. Der Bescheid umfasst auch einen Obolus für „Beherbergungs- und Gaststättenleistungen“, 10,31 Euro stehen für ein Kummerbesäufnis in öffentlicher Schankwirtschaft zur Verfügung, zudem ich sogleich aufbreche, das erste und zweite Glas leiste ich mir stolz und souverän, das dritte zahlt der Freundeskreis in fröhlicher Runde und ich werde gefragt, ob ich mich jetzt zur Unterschicht zählte oder ob ich es als zu problematisch empfände, diesen Begriff auf meine neue Lebensrealität anzuwenden. Es ist lange nicht mehr so heiß, schwül und staubig in der Stadt wie noch vor wenigen Wochen, der hitzige Sommer wurde von einem traumhaften Herbst abgelöst, mildes Licht verzaubert die frühen Abendstunden und die Farbe des Rotweines in meinem Glas. Die Aggressivität aber bleibt. Die Frage sei keineswegs aggressiv gemeint, ginge es doch nur darum, zu partizipieren am allgemein-allgegenwärtigen gesellschaftlichen Diskurs. „Partizipieren heißt teilhaben, und teilhaben beinhaltet die Möglichkeit zu gestalten“, sage ich und werde fast von einem „Ja und?“ erschlagen. „Teilhaben heißt gestalten, und gestalten braucht Gestaltungsfreiheit“, sage ich und frage, wann man sich entschieden habe, das allgemein-allgegenwärtige Meinungsgestöber als Diskurs zu bezeichnen. Jetzt trifft mich der Aggressionsvorwurf und ich komme nicht umhin, wütende Erregung einzugestehen. Ich weiche mit der Bitte um genaue Definition des Unterschichtsbegriffes aus und liefere sofort selbst eine Antwort: Die Bezeichnung der Bevölkerungsgruppe, deren individuelle und gesellschaftliche Gestaltungsfreiheit eingeschränkt, behindert oder unmöglich ist, was immer dann der Fall ist, wenn jede Öffentlichkeit ein Eintrittsgeld erhebt, wenn jede politisch-moralisch-ethische Haltung nur über den mündig-ausgewählten Einsatz der Kaufkraft ihren Ausdruck findet, „fair trade“ beginnt nicht in your heart, my dear, sondern mit dem gewinn aus der Erwerbstätigkeits-Lotterie, genauso wenig wie „charity care“ keine aus der Erkenntnis wachsende Tat darstellt, als vielmehr eine der Wahlmöglichkeit, wie sie nur ein möglicher Überfluss aus der Erwerbstätigkeitslotterie zur Verfügung stellen kann.
„Andere Kinder hungern“, sagt einer um das nervöse Schweigen humorvoll zu brechen. Er bestellt Schnaps, den er mir natürlich spendieren wird und werden muss. „Mir will es so vorkommen, als ob das, was dem Menschen abhanden gekommen ist, die Fähigkeit ist, sich ganz einfach das Ganze vorzustellen, als etwas, was völlig anders sein könnte“, sage ich, und: „dass die Menschen vereidigt sind auf die Welt, wie sie ist.“ Immerhin habe ich Zeit mir ausschweifend-poetische Gedanken zu meiner Lage zu machen, sagt ein anderer und will jetzt um des lieben Friedens willen anstoßen, da nehme ich das spendierte Glas zur Hand und entleere es in seinem Gesicht: Theodor W. Adorno, Einführung in die kritische Theorie, Pflichtveranstaltung im Grundstudium, da haben wir uns kennen gelernt, das war mal mehr als eine Worthülse für uns.
Zum sechsten, siebten, achten Mal im Jobcenter Friedrichshain-Kreuzberg, das Gefühl der Entfremdung will sich nicht auflösen, obgleich die Wege durch die lang-verzweigten Flure zu den jeweils zuständigen Sachbearbeitern, Kundenbetreuern, Fallmanagern mittlerweile vertraut erscheinen. Hart IV sei durchaus ein Fulltimejob, sagt ein Sachbearbeiter schaukelnd im Sachbearbeiterstuhl und lacht erfahren, als ich die zeitliche Umständlichkeit diverser Klärungsangelegenheiten vorsichtig bemängele. Der Antrag auf Reisekosten zu einem hoch dotierten Stipendiats-Aufnahmegespräch ans andere Ende der Republik wird abgelehnt, gefördert wird allein sozialversicherungspflichtige Arbeit; der Antrag auf eine Qualifizierungsmaßnahme zur Professionalisierung von Geisteswissenschaftlern wird abgelehnt, dafür sei man noch nicht lange genug dabei; der Antrag auf Bewilligung eines unter bezahlten Praktikums, welches das viel beschworene Netzwerk engmaschiger knüpfen soll, wird abgelehnt, Praktika vernichten Arbeitsplätze, dem trete man hier engagiert entgegen. Überhaupt biete mein Bewerberangebot zu wenig Angriffsfläche: „Wer in Geisteswissenschaft macht, darf später nicht klagen.“ Die Mutter fragt am Telefon, ob „etwas in Aussicht“ sei und ich bin mir nicht sicher, meint sie einen Mann oder den möglichen Gewinn aus der Erwerbslotterie. Der Berliner Tagesspiegel fragt den engagierten Leser eindeutiger: Sollen Hartz IV-Empfänger vermehrt im öffentlichen Dienstleistungsbereich eingesetzt werden, in der Security beispielsweise, in Nahverkehr oder Altenpflege, alles sei besser, als strukturlos zu Hause sitzen zu bleiben. Schickt sie in den Hindukusch, sage ich wenige Stunden später zu meiner Waschmaschine, die besorgniserregend-gurgelnde Töne von sich gibt und in der bald überfluteten Küche für immer ihren Dienst versagt. Ich ahne es schon und stelle ihn trotzdem, den Antrag auf Bezuschussung außergewöhnlicher Belastung, der Wochen später abgelehnt werden wird, die waschmaschinenlose Lage sei ohne problemlos von der erhaltenen Förderung zu bewältigen, „zeigen Sie Eigeninitiative, Sie sind jung und kräftig, vielleicht greifen die Eltern Ihnen unter die Arme, oder ein Callcenter vielleicht, ist ja kein Bordell.“ Auf einem der Flure des Etablissements Jobcenter Friedrichshain-Kreuzberg, wo ich trotz zunehmender Vertrautheit den Ausgang nicht gleich finden kann, gestatte ich mir ein pferdeähnliches Wiehern.
Sub-Totalitarismus des Sachzwanges, so meine Antwort auf den Verweis der Bibliothekarin, dass mein Gebührenkonto der öffentlichen Bibliothek überschritten ist, denn ab heute wird jede Magazinbestellung einzeln berechnet: Drei Bücher aus dem Magazin gleich einer Waschmaschinenladung im Waschsalon gegenüber. Tränen und ein unadressierter Schrei auf dem Weg in das Cafe, in das ein Freund zu Kaffee, Kuchen und Zeitung geladen hat, weil ich den Ausschluss aus der unbezahlbaren Öffentlichkeit nicht mehr aushalten kann. Dass ein 18jähriges Mädchen mit Kind von der Sozialfürsorge eine Wohnung mit Fernseher erhalte, die sie nicht selber bezahlen müsse, zeige, wie gut es uns ginge, auf jeden Fall besser, als es ihm zu seiner Jugend gegangen sei, sagt Altkanzler Schmidt im Interview der Zeitung, die wir einsehen. Ein weiterer Schrei der Empörung, gepaart mit Übelkeit. Dass es schon werden wird, sagt der Freund, und dass sich meine Mündigkeit nicht in Kaufkraft erschöpfe, zumindest nicht gänzlich und ob wir, um zu entspannen, vielleicht lieber Rotwein zum Kuchen nehmen sollten. Da ballt sich in meinem Magen die Faust, die sich immer ballt, wenn ich mich in feindliche Zusammenhänge begeben muss; mitten in der alten Lebensrealität überfällt mich plötzlich das Fremdheitsgefühl der neuen, des Paralleluniversums der langen Flure und weißen Stuten. Ich gebe dem Fluchtimpuls nach, bevor sich die Übelkeit über den Altkanzler ergeht.