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Stephan Waldscheidt: König 

Macht kindischen Spaß, im Müll zu wühlen. Dreck hat so etwas Sanftes, etwas, was einen auffängt, dem man sich ganz ergeben kann. Über Rufer, in der Thermik, schweben Fetzen und Vögel. Er besaß auch mal ein Segelflugzeug, eine Janus, Zweisitzer; als er das Ding verkaufte, hatte er den zweiten Sitz schon eine Weile nicht mehr gebraucht.
Heute ist er das dritte Mal in der temporären Umladestation, wo sie den Abfall der Stadt in Container verladen und nach Mannheim schaffen. Auf der alten Deponie vis-a-vis brummen die Windräder, und obwohl die Sonne von der anderen Seite kommt, spürt Rufer die Schatten der Rotoren über sich hinweghuschen. Nur ein paar Meter weiter scharrt die Krähenfrau in einem Haufen mit Akten und Papieren, mit Bündeln von Zeitungen, Kartons. Immer trägt sie dasselbe: ein schwarzes Abendkleid, dem man die Flecken und Flicken und Löcher erst aus der Nähe ansieht; Wind zerrt an den Säumen. Ihr Gesicht ist eingefallen, die Haut gilb, auf ihrem Kopf thront eine Halde verfilztes Haar. Dennoch, ein bisschen sieht sie aus wie Bärbel.
„Wie alt sind Sie?“ Rufer fährt zusammen, er selbst hat die Frage laut gestellt, seine eigenen Gedanken unterbrochen. Widerfährt ihm häufiger, in letzter Zeit. Die Frau ignoriert ihn – auch das passiert ihm immer häufiger –, sie gräbt weiter, wirft zerknülltes Papier, papierne Lappen hinter sich, Rufer vor die Füße.
Eine Raupe dröhnt heran, schiebt Müll wie schmutzigen Schnee auf Rufer zu, vor, über seine Füße. Er springt in Sicherheit, ein Papierchen ist ihm am Schuh kleben geblieben, er zupft es ab. Der Fahrer brüllt die Frau an, doch die kramt weiter, taub vielleicht oder blöd. Rufer will das Zettelchen wegschmeißen, doch die Schrift auf dem verschmierten Stück Papier hält ihn ab. Während der Raupenfahrer herunter steigt und die Frau zur Seite stößt, liest Rufer, liest ein zweites Mal, sieht im Augenwinkel, wie der Fahrer die am Boden Liegende tritt, sieht nicht hin. Lachend steigt der Fahrer zurück auf seine wummernde Maschine. Vielleicht, denkt Rufer, hätte ich ihr helfen sollen, ja, vielleicht. Ein drittes Mal liest er die Kinderschrift.
„H I L F E ! ! !“, steht da, unterstrichen und durch drei Ausrufezeichen verstärkt: ein Schrei aus dünner Tinte. Darunter: „Entführt! Ich heiße Clara Benske aus der Kerberstraße 21C. Ich bin in einem dreckigen Badezimmer, ich glaube im Keller. Der König hat mich an die Heizung gekettet. Ich“
Der Rest ist abgerissen.
Rufer fährt zusammen, als ihn die Hupe der Müllraupe anblökt, weicht aus, stolpert und fällt in einen Haufen Kleider, Glas und Holz.
„Alle taub“, brüllt der Fahrer fröhlich und winkt einem Kollegen, sich den im Dreck liegenden Rufer anzusehen.
Rufer scharrt hastig in den Haufen nach dem Zettel.
„Weg da!“ Abermals rollt die Raupe an, schon wirft sich die Mülllawine unter Rufer auf.
„Nein!“, schreit er. „Warte, da ist ...“ Ihm fällt nichts ein, wie er seinen Fund nennen soll. Der Müll schiebt sich weiter, begräbt Rufers hektisch umhersuchenden Hände, seine Unterarme mit schmierigem Sperrholz, mit etwas Faulem, einer Hose, etwas Hartem, Schweren – Rufer springt auf, zurück.
„Da, für deinen verlorenen Schatz.“ Eine Münze flippt auf Rufer zu, er fängt sie auf, doch sie springt aus seiner Hand in den Müll, versinkt.
Clara Benske, Clara Benske, Clara Benske.
Schon verschwimmt der Name in Rufers Gedächtnis. Die Straße. Färber- , nein, Kerber-. Egal. Der Name wird genügen, so viele Kinder werden nicht entführt. Der Name.
Clara Benske. Sie ist blond. Clara, so heißen nur blonde Mädchen. Clara. Clara Benske. Blond.
Er sieht sie vor sich, sieht aus ihren Augen: verschmierte Kacheln gegenüber, spürt den vom Rütteln an den Handschellen aufgeschürften Arm, er ist so dünn, ein Ärmchen, ein Zweig, spürt ihre Fersen, wie sie über die Fliesen rutschen, spürt den Hunger, die Angst, die viel zu groß ist für so ein kleines Mädchen. Er hört Schritte die Treppe herunter stampfen.
„Steigen Sie jetzt aus oder was?“ 
Rufer blickt sich verwirrt um, wird schon zur Seite geschubst, fällt auf den Bahnsteig, die Türen der Tram schließen sich zischend. Seine Tüten. Er blickt sich um, er hat sie vergessen, in der Bahn oder auf dem Umladeplatz, weiß nicht, wie er hierher gekommen ist. Marktplatz, die Pyramide, er trottet aus dem Gedränge, lässt sich auf eine Bank unter Oleandersträuchern fallen.
Clara. Clara Benske.
Er könnte ein Held sein. Die nächste Polizeiwache liegt drüben an der Ecke, beim Kaiserhof, keine fünfzig Meter weg. Sie würden ihm glauben, sie müssen. Und wenn sie ihm, dem Schatzsucher im Müll, die Geschichte nicht abnehmen, dann dem Abteilungsleiter Rufer, der er mal war, dreiundzwanzig Leute unter sich, das komplette Rechnungswesen. Und kennt er Clara nicht von irgendwoher? Von einem Plakat, aus der Zeitung, dem Fernsehen? Diese Engländer, an der Algarve, die haben halb Europa auf die Beine gebracht, als man ihnen die Tochter aus dem Ferienbungalow entführte, jeder weiß, wie die Kleine aussieht, kennt ihre riesigen Augen. Es hieß ja sogar mal, die Eltern hätten ihr Kind aus Versehen getötet.
„Wissen Sie, was mit dem Mädchen passiert ist?“, fragt Rufer eine Frau mit zwei Einkauftaschen, die sich auf die Bank neben seiner setzt. Sie sieht ihn nicht einmal an, klammert nur ihre Taschen fester und eilt davon. So etwas geschieht ihm häufiger in letzter Zeit: Er redet, laut, deutlich, langsam, aber dennoch will keiner mit ihm sprechen. Und sah die Frau eben nicht ein bisschen aus wie Bärbel?
„Stinke ich?“, fragt er zwei Studenten, die ihre Räder vorbeischieben; die tun so, als hätten sie ihn nicht gehört. Sie wissen ja nicht, dass er ein Held sein könnte.
Er steht auf, reibt sich seine Schuhe an der Hose ab und geht hinüber zur Wache. Vor der Treppe zum Eingang zögert er. Eine junge Polizistin kommt heraus, will an ihm vorbei.
„Entschuldigen Sie, Frau Polizeihauptmeister.“
Sie fährt zusammen, baut ihr Polizeilächeln auf, wartet, zwei Stufen über ihm. Anfang dreißig ist sie, nicht zu jung für Kinder, und blond, blond wie Clara.
„Entschuldigen Sie“, sagt Rufer noch einmal, und schon das reicht aus, um das Lächeln der Polizistin gefrieren zu lassen. Er sieht genau, was sie sieht, o ja, einen Mitvierziger sieht sie, der durch seine Halbglatze ein paar Jahre älter wirkt, seine Haare gehören dringend geschnitten, sie sieht ein abgetragenes Sakko über der schlackernden Stoffhose von Aldi, die noch immer verschmierten Schuhe. Und sie riecht ihn auch. Noch kein Penner, aber einer auf dem Weg dorthin: Verliererstraße. Gerberstraße, Färberstraße – Kerberstraße.
„Ja?“, fragte die Polizistin. Sie könnte Claras Mutter sein. Nein, sie sieht eher aus wie Bärbel, ja, Rufers ehemalige Geliebte, wegen der ihn seine Frau verlassen hat. Würde die Polizistin seine Geschichte von dem Zettel glauben? Oder würde sie ihn verdächtigen?
„Haben Sie ein Problem?“, fragt sie. Den Ton kennt er, Bärbel klang so.
„Ich suche seit drei Jahren eine Stelle, ja, ich bin Hartz IV. Ich war Ausfahrer, Lagerhelfer, Interviewer. Ist auch schon über ein Jahr her. Aber so verzweifelt, dass ich mir mein Geld auf weniger anständige Weise verdienen würde, bin ich nicht. Ich hatte dreiundzwanzig Leute unter mir. Leute wie ich haben so etwas nicht nötig.“
„Sicher“, sagt die Polizistin mit Polizistengeduld. „Sicher.“
„Können ... können Sie mir sagen, wie spät es ist?“
Die Polizistin deutet hinauf auf die Turmuhr der Marktkirche.
„Keine Brille“, sagt Rufer, er ist stolz auf seinen Einfall.
Endlich lächelt die Polizistin und sie sagt Rufer, wie spät es ist.
„Noch nicht mal so spät“, sagt Rufer. Außer vielleicht für Clara.
Rufer geht im Regierungspräsidium nebenan aufs Klo und wäscht sich die Hände. Sauberkeit ist wichtig; so lange einer noch saubere Hände hat, hat er die Hoffnung nicht aufgegeben.

Mit der S 4 fährt Rufer fast bis zu der Adresse von Claras Zettel, ein Hochhaus in Durlach, in der Nähe des Bahnhofs; er konnte gerade noch den Kontrolleuren entwischen. Keine schlechte Gegend, keine gute Gegend, eine für ganz normale Leute, einer seiner ehemaligen Mitarbeiter wohnt hier irgendwo; er selbst hatte ja mal ein eigenes Haus in Herrenalb. Festen Schrittes und mit erhobenem Kopf geht Rufer auf den Eingang von Nummer 21C zu. Er pfeift vor sich hin, doch. Es soll so aussehen, als ob er hierher gehört. Vielleicht wird das Gebäude von der Polizei überwacht? Falls Clara noch nicht zu lange verschwunden ist. Die müssen doch am besten wissen, ob dieser alte Spruch stimmt: dass der Täter stets an den Ort seiner Tat zurückkehrt.
Eine Frau kommt ihm auf dem Weg zum Haus entgegen, einen kleinen Jungen an der Hand; Rufer grüßt sie, und die Frau, überrascht, grüßt zurück. Rufer lächelt. Weil er doch hierher gehört, ihn verdächtigt niemand. Am Eingang angekommen, lässt er seinen Blick – nicht zu auffällig – über die Namen auf der Matrix aus Klingeln schweifen. Sechsunddreißig Parteien wohnen in dem Haus. Und da, da steht es: Benske.
Ein Schweißtropfen rinnt ihm kühl vom Kragen den Rücken hinab. Die Tür öffnet sich und berührt ihn an der Schulter, er sieht gar nicht erst hin, wer da herauskommt, bückt sich und bindet seinen Schuh. Ein guter Schnürsenkel und bisher das einzige, was er gestohlen hat. Ohne ihn zu beachten, gehen die beiden Kinder davon, und Rufer steht auf, sein Magen pumpt Säure in seinen Rachen. Sanft streicht er über den Namen Benske auf der Klingel, so sanft, wie man über das Haar eines Mädchens fährt.
Die Stimme erschreckt ihn: „Ja?“
Er musst aus Versehen zu fest gedrückt haben.
„Hallo?“, tönt es abermals aus der Gegensprechanlage.
„Ja, hallo“, sagt Rufer, viel zu laut. Er schließt die Augen. „Ich komme vom Marktforschungsinstitut CommPlex und führe eine Umfrage durch. Sie wurden zufällig ausgewählt. Sie sind doch Frau Benske?“
„Ja.“ Die Stimme zeigt nicht die Spur eines Gefühls. Vielleicht liegt es am Lautsprecher.
„Hätten Sie vielleicht eine Viertelstunde Zeit?“
„Um was geht es denn in Ihrer Umfrage?“
Rufer lacht; für ihn hört es sich ungezwungen an. „Entschuldigen Sie bitte. Es geht um Kinder. Was sie kosten und was der Staat tun könnte, um Kinder populärer zu machen.“ Er holt tief Luft. „Sie haben doch Kinder?“
Schweigen, dann ein Klicken im Lautsprecher. Rufer stößt die Luft aus. Er tritt gegen die Metallleiste unter den Klingeln, nicht fest. Und jetzt? Es ist schwer genug gewesen, hierher zu kommen. Er dreht sich um. Die gepflegten Platten, die durch einen gepflegten Rasen zu den Parkplätzen führen, zur Straße, sie liegen tot da, bis zu dem Bordstein, an dem leer die Autos warten wie Fähren, die beiden Kinder sind nirgendwo zu sehen. Ein Summen. Instinktiv drückt Rufer gegen die Tür.
Siebter Stock. Die Tür zu einer Wohnung steht offen. „Kommen Sie.“ Die Frauenstimme, jetzt real und warm und leise. „Die zweite Tür links.“
In einem kleinen Wohnzimmer, an der Tür zum Balkon, sitzt die Frau, den Rücken zu Rufer, in einem Rollstuhl. „Sie hätten nicht zu lügen brauchen“, sagt sie. „Kinder populärer machen, ja, gute Idee, sehr gute Idee.“
Rufer schweigt. Es fühlt sich nicht so an, als müsste er sich rechtfertigen.
„Mich wundert nur, dass Sie überhaupt gelogen haben. Ihr Journalisten seid doch normalerweise so stolz auf euren Job.“ Sie klickert mit den Fingernägeln gegen das Fensterglas. „Ich war mal mit einem verheiratet.“
Rufer steht stumm neben dem Tisch, ausgebleicht grüne Tischdecke, in der Mitte eine Obstschale aus Kristall, leer.
„Markus wollte mit keinem mehr reden. Nicht mal mit mir.“ Wieder dieses Tickern: ein winziger Vogelschnabel, der gegen die Scheibe klopft. „Nicht mal über Clara.“
Der Name des Mädchens ist wie ein Schlag, Rufer schnappt nach Atem.
„Ist was mit Ihnen?“ Endlich dreht sich Frau Benske um, ihren ganzen Rollstuhl. Sobald sie Rufer sieht, wird sie wissen, dass er kein Reporter ist.
Sie mustert ihn, er mustert sie, versucht, Clara in ihr zu finden, in ihrer Haltung, in ihrem schrägen Lächeln, das aussieht, als hätte sie es sich selbst ins Gesicht gezerrt, jeden Tag vor dem Spiegel, Falte für Falte.
„Clara ...“, Rufer räuspert sich. „Wie lange ist es jetzt her, ich meine, wie lange genau?“
„Ich weiß es nicht. Ich zähle die Tage nicht. Enttäuscht? Sechs Monate, ein bisschen mehr, das Datum kann ich Ihnen sagen, aber das haben Sie ja recherchiert.“ Sie stemmt sich ein kleines Stück nach oben, ihre Arme sind kräftig, ihre Beine versteckt unter einer grellrosa Decke. „Ich hoffe, sie ist tot. Ja, was wäre denn, wenn sie noch lebte? Glauben Sie, ihr Entführer behandelt sie wie einen Gast, brät ihr Hamburger und bringt sie zu ihrem Badminton-Training?“ Sie rollt an Rufer vorbei zu einem Sideboard mit Fotos. „Zum Glück habe ich da wenig Phantasie. Markus hat mehr. Auch ein Grund, weshalb er weg ist.“ Sie nimmt eins der Bilder, und Rufer erwartet, endlich Clara zu sehen. Ganz dicht rollt Frau Benske an ihn heran, ihr Haar riecht muffig. Aber was sie ihm zeigt, ist das Foto einer noch nicht alten Frau.
„Claras Oma, meine Mutti. Sie hat es sich zu sehr zu Herzen genommen. Sie ist vier Monate danach gestorben. Und setzen Sie sich endlich hin. Ich hasse es, immer zu Leuten aufblicken zu müssen.“
Hastig zieht Rufer sich den nächsten Stuhl heran und setzt sich auf die Kante. Claras Mutter rollt zu ihm an den Tisch, gegenüber. Nein, sie sieht nicht aus wie Clara – wie Bärbel sieht sie aus, wie seine Bärbel, die ihn verlassen hat, als endlich die Scheidung von seiner Frau durch war.
Ehe Rufer sich überlegen muss, was er als nächstes sagt, fängt Frau Benske an zu schluchzen, ihre Hände klammern sich an die Speichen ihres Rollstuhls, und sie sitzt da und weint. Bärbel hat nie geweint, und Sabine, seine Exfrau, auch nicht; nicht wegen ihm, nie. Er hat einen metallischen Geschmack auf der Zunge, betrachtet neugierig und erstaunt die geschlossenen Augen der Frau, die ihm gegenüber sitzt und deren ganzer Körper von ihrem Weinen geschüttelt wird; so verkrümmt erinnert sie ihn an die Krähe im Abendkleid, die Frau im Müll. Draußen verkündet eine Lautsprecherstimme etwas, vielleicht vom Sportplatz, der liegt ganz in der Nähe.
Er könnte Frau Benske von dem Zettel erzählen, er könnte ihr Hoffnung machen, gemeinsam könnten sie zur Polizei gehen und das, was er gesehen hat, zu Protokoll geben. Vielleicht würde Frau Benske sogar mit ihm schlafen, nicht sofort, aber bald, aus Dankbarkeit und zum Trost. Er würde sie trösten, sie würde ihn trösten, und vielleicht würden er und Claras Mutter zusammen eine eigene, eine neue Familie gründen. Er könnte ihr alles erzählen. Er könnte, das liegt ganz allein in seiner Macht.
Rufer betrachtet Frau Benske, die aufgehört hat zu weinen und nur noch unhörbar zittert. Er presst seine Lippen zusammen, blickt zum geschlossenen Fenster, den Wolken. Die Durchsage aus dem Lautsprecher hat aufgehört. Wie still es ist.