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Andreas Stichmann: Frau Jenschs Enkelin 

Als Frau Jenschs Enkelin einzieht, denke ich: Wer ist das denn? Ich habe nie mitgekriegt, dass sie
sich mal um ihre Großmutter gekümmert hätte. Und jetzt stellt Frau Jensch ihr die große Wohnung
im Dachgeschoss zur Verfügung. Charlotte Jensch, da steigt sie mit einem Langhaarigen aus
dem Auto und guckt sich das Haus an. Sie trägt einen Pagenschnitt und hat die Hände ganz bockig
in den Hosentaschen. Nur die Lippen geschminkt, allerdings zu rot. Sie will offensichtlich fremd
erscheinen, schlendert etwas polnisch oder isländisch umher und guckt irgendwie New York. Aber
mir macht man nichts vor, ich erkenne diesen speckigen Zug um die Bäckchen. Diesen Hauch von
provinzieller Dummheit in ihrem jungen Gesicht.
Ich stehe in der Haustür und sage: Einen wunderschönen guten Tag. Charlotte Jensch, nehme
ich an?
Sie sieht mich gelangweilt an und sagt: Reality is a believe system.
Da ist es klar, dass sie vom Dorf kommt. Dieses Früchtchen! Ich ziehe mich erst mal zurück,
stehe allerdings kurz darauf wieder auf der Straße, denn sie macht einen Lärm, dass es schlicht nicht
auszuhalten ist. Hilf mal mit, ruft sie und winkt mich heran. Und ich bin ein hilfsbereiter Mensch
und lasse mir auch gerne ein Gemälde aus dem Kofferraum entgegen reichen. Nur, dass sie sich
dann mit der Zunge von ihrem Freund verabschiedet, während ich mit dem Gemälde da stehe,
fi nde ich schon etwas dreist.
Ich frage: Was soll das eigentlich darstellen? Selbst gemalt?
Ja, sagt sie, während sie vor mir die Treppe hoch geht, es hieße die Blume und sei inspiriert vom
Oeuvre Franticek Kupkas.
Eine Blume kann ich allerdings nicht erkennen. Auch nicht, als ich das Bild oben in der Dachwohnung
an die Wand lehne. Eher ein schwarzes Chaos, aber was weiß ich schon.
Willste Bier?
Nein danke, sage ich, ich darf nicht mehr trinken.
Charlotte Jensch hat sich schon eins geangelt und fl äzt sich damit auf das Sofa. Sie trinke
ja gerne Alkohol, erklärt sie, Alkohol, LSD, Sex mit Tieren...
Ich sage: Wie bitte?
Pff, ja klar, sagt sie, obwohl eigentlich nur einmal, da hätten sie diesen Hund gewichst, bis so ein
bisschen Sperma rausgezuckt wäre. Warum ich denn immer noch stände?
Ich sage: Ich bin im Begriff zu gehen, andere Menschen müssen schließlich noch arbeiten! Nicht
jeder hat das Privileg, umsonst zu wohnen. Außerdem will ich jetzt nach ihrer Großmutter sehen,
der geht es nämlich nicht gerade besonders. Falls Sie das schon mitgekriegt haben.
Da sagt sie nichts.
Ich sage: Na, dann leben Sie sich mal ein.
Mindestens einmal am Tag sehe ich nach Frau Jensch. Als verantwortungsbewusster Mieter ist
das ganz normal. Sie sitzt immer hinter verschlossener Tür, also schließe ich auf.
Hallo Frau Jensch.
Da sitzt sie wie ein Chamäleon in der Dunkelheit zwischen Zeitungen und Büchern. Etwas Licht
fällt durch die Ritzen in der Jalousie, so dass man gerade ihre Augen erkennt. Natürlich schweigt
sie, ich rede aber, sonst wird mir ganz unheimlich. Ich ziehe auch erst mal die Jalousie hoch, staune,
wie energisch der Tag herein schnalzt.
Sehen Sie doch mal die netten Kinder im Hof, rufe ich, wie die schreien, dass einem ganz gelb
vor Augen wird! Die müssen noch viel schreien, und Sie, Frau Jensch?
Frau Jensch äußert sich nicht. So geht das immer. Ich überlege, das Fenster zu öffnen, aber das
wäre vielleicht doch noch etwas kühl. Ich sage dann: Also gut, den Wasserkasten habe ich geholt,
bei der Apotheke war ich, das Stumpfpfl egemittel, den Müll trage ich gleich raus, vier Dinge waren
zu erledigen, was noch?
Franticek Kupka

Die Post.
Ich gehe also zu den Briefkästen im Hof, aber natürlich gibt es wieder keine Post für Frau
Jensch.
Am Montag helfe ich Charlotte Jensch und transportiere Sperrmüll mit meinem Auto in ihre
Universität. Sie hat mich darum gebeten. Ich sage: Kein Problem, man hilft sich im Haus, wie gefällt
Ihnen denn die neue Wohnung?
Puh naja, sagt sie auf dem Beifahrersitz, die Wohnung an sich ist ja ganz nett, nur ist es eben doch
etwas heiß unter dem Dach, da läuft einem der Saft nur so runter, da schwitzt man so, dass man die
Klamotten auswringen muss, am besten bleibt man gleich nackt.
Vorne an dem Gebäude der Hochschule für bildende Künste steht: Dem lebendigen Geist.
Im Aufzug schweigen wir. Zwischen uns die Kiste mit den Sperrmüllbrettern, von denen ich
mich frage, was sie damit will, aber ich trage ihr die Kiste bereitwillig hinterher und stelle sie in einer
der Werkstätten ab. Hier arbeiten Sie also?
Keine Antwort. Charlotte Jensch zieht sich nur ein schickes Käppchen über und betrachtet einen
Haufen Schrott, der sich offenbar noch zu wehren scheint und keine Kunst ergeben will.
Ich sage: Kennen Sie August Macke?
Keine Antwort, sie streckt ihre rotgeschminkten Lippen lustlos in den Raum und sieht an mir
vorbei. Oben in der Ecke des Raums hat sich ein Bengel auf einem Podest installiert und schmiert
Schokolade an die Wand. Ein anderer fi lmt die Sauerei.
Du bist ja immer noch da, sagt Charlotte Jensch plötzlich.
Und da platzt mir der Kragen. Du verzogenes Luder, sage ich, du verwöhntes Balg! Selbstverständlich
reiße mich sofort wieder zusammen. Aber alles was recht ist, sage ich, was ist das denn für
ein Benehmen? Ich fahre Ihnen ihre Gegenstände hierher und Sie sagen nicht mal Danke?
Sie runzelt die Stirn.
Ich drehe mich um und gehe.
Nachmittags, ich habe mir die Schürze umgebunden und wasche gerade ab, klingelt es an der
Tür. Sie steht in Unterhemd und Jogginghosen vor mir, barfuss. Das täte ihr alles sehr leid, sagt sie
und zieht eine Schnute. Mein Wasserkessel fi ept, also gehe ich in die Küche und nehme ihn vom
Herd. Und als ich mich umdrehe, sieht sich dieses Mädchen ganz selbstverständlich in der Küche
um. Fragt nebenbei: Hast du Brot, ich habe kein Brot mehr, kannst du mir Brot geben?
Ich sage: Daher weht also der Wind! Was ist das denn! Vielleicht will ich Ihnen ja gar kein Brot
geben? Vielleicht habe ich gerade gar nicht so richtig Zeit, können Sie sich das vorstellen?
Später stehe ich aber bei ihr vor der Tür. Die Sonne hat tagsüber auf dem Glasdach gebrütet
und den Treppenabsatz erwärmt. Sie kann ja nichts dafür, sage ich mir. Wahrscheinlich hat sie nie
eine starke Hand erfahren, wahrscheinlich muss man ihr einfach mal fest gegenübertreten, in aller
Freundlichkeit.
Mir öffnet ein nackter Mensch.
Es ist der Langhaarige. Ich brauche natürlich einen Moment, ehe ich mich fange.
Oh, du, flötet Charlotte aus dem Inneren der Wohnung. Sie liegt in Shorts und T-Shirt auf dem
Sofa, späht zu mir herüber und hebt immerhin den Kopf. Der Langhaarige geht wieder rein, also
folge ich ihm, so macht man das ja offenbar. Ich setze mich einfach auf einen Stuhl und bin um einen
sachlichen Tonfall bemüht.
Ich sage: Es tut mir leid, wenn ich Sie angefahren habe, Charlotte. Aber ich bin ehrlich der Meinung,
Sie könnten etwas mehr Respekt im Umgang mit anderen, zugegeben älteren Semestern an
den Tag legen. Freundlichkeit ist nicht immer nur eine Phrase, wie Sie vielleicht denken...
Sie nickt und setzt sich zu meinem Erstaunen sogar anständig hin, stützt sich mit den Händen auf
das Sofa und hört mir zu. Ich sage: Vielmehr kann auch ein einfaches, Ihnen vielleicht bürgerlich
erscheinendes Dankeschön manchmal wahre Wunder wirken!
Jetzt werde ich versöhnlicher. Ich winke mit dem mitgebrachten Baguette. Sie lächelt. Der Langhaarige
kommt aus der Küche und bringt ein Glas Oliven und einen Topf

Kochwürstchen. Charlotte nimmt sich gleich eines, beißt hinein und nickt mir kauend zu. Der
Langhaarige öffnet träge das Glas Oliven, bricht das Baguette und verteilt es, nackt wie er ist. Er gibt
mir auch ein Stück. Und warum eigentlich nicht? Ich nehme mir ein Würstchen und sage: Ich bin
übrigens der Martin. Wir können uns ruhig duzen, soviel älter bin ich ja nicht. Ich sage: Ich bin der
Martin und es ist ja nicht so, dass ich euch nicht verstehe!
Tatsächlich, fragt Charlotte mit vollem Mund.
Ja, was denkst du denn, sage ich, es gibt eben nur gewisse Spielregeln, Höfl ichkeit ist, zumindest
sparsam benutzt, kein Laster, sondern kann manche Barriere zwischen Menschen überwinden.
Da zeigt sie mir ihre Vagina.
Da sitzt Charlotte Jensch breitbeinig auf dem Sofa, sieht mich ernst an und zieht ihre Shorts
vorne ein wenig zur Seite, als wolle sie sagen: Guck mal, meine Vagina. Der Langhaarige steht auf,
schlendert zum Kühlschrank und kommt mit einem Bier zurück.
Ich sage: Aha! Ihr wollt mich also schockieren! Da kennt ihr mich aber schlecht, lache ich, lehne
mich zurück und verschränke die Arme hinter dem Kopf. Nee, damit schockiert ihr mich nun
wirklich nicht! Ob ich ein Bier will, fragt der Hippie. Ich sage: Auch das!
Überhaupt, rufe ich ihm hinterher, denkt ihr, ich verstehe keinen Spaß?
Ich schüttle lachend den Kopf und sehe Charlotte an, die jetzt im Schneidersitz sitzt und mich
ansieht, als wäre nichts gewesen. Der Langhaarige reicht mir freundlich ein Bier. Dann setzt er sich
und beginnt, Charlotte am Ohr zu lecken. Sie schließt die Augen und formt ihren Schmollmund zu
einem Lächeln. Ganz niedlich eigentlich. Sie könnte ein ganz nettes Mädchen sein.
Ich denke: Soll ich mich davon beeindrucken lassen? Von seinem zugegeben recht ordentlichen
Genital?
Der Langhaarige verbeißt sich an Charlottes Hals und fummelt ihr unter dem Hemd herum, lässt
dann plötzlich von ihr ab und sieht mich an. Mit seinen blauen Augen.
Was ist, willst du mitmachen oder gehen?
Ich sage: Ja, dann lasse ich euch jetzt mal alleine.
Dienstagnachmittag ziehe ich meinen alten Mantel an, gehe rüber zum Supermarkt und hole
mir eine Flasche Branntwein. Anschließend gönne ich mir einen Spaziergang, warum nicht? Der
Himmel blau.
Zuhause lasse ich den Abwasch stehen und gieße mir ein Gläschen ein, und als ich später mit
der Flasche hochgehe, höre ich leise Musik. Ich schwitze in meinem Mantel und drücke auf der
Klingel einen Rhythmus, nehme noch einen Schluck und schmecke die Schärfe des Branntweins.
Bin jedenfalls bereit, die Tür von einem nackten Menschen geöffnet zu bekommen. Es öffnet aber
niemand. Ich klingle erneut, dann höre ich genauer auf die Musik und denke: Sollten Sie etwa?
Tatsächlich, die Musik kommt von unten.
Ich gehe also runter, und was muss ich unten sehen? Die Tür zu Frau Jenschs Wohnung steht
offen. Auch die Tür zum Hof fi nde ich offen, das kann normalerweise nicht sein. Charlotte und der
Langhaarige sitzen mit Frau Jensch am Gartentisch. Auf dem Tisch steht eine Flasche Likör, als wäre
das die richtige Art, sich um eine alte Dame zu kümmern.
Ich denke: Was ist das denn? Wollen die beiden hier das Ruder übernehmen?
Aus einem Radio auf dem Tisch scheppert muntere Musik, Charlotte nimmt mir den Branntwein
aus der Hand und betrachtet das Etikett. Mir ist, als wäre über mich gesprochen worden. Zumindest
schweigen sie und sehen mich an.
Das ist ja schon mal ganz gut, wie ihr euch hier kümmert, sage ich, aber jemand sollte doch
durchaus auch an die notwendigen Sachen denken! Vier Dinge sind zu erledigen...
Charlotte sagt: Was hast du denn für einen komischen Mantel an? Frau Jensch kichert und auch
der Hippie lächelt, hebt dann aber freundlich die Flasche. Ob ich mich auf ein Likörchen dazusetzen
will?
Ich sage: Lassen Sie mal, lassen Sie mal, man kann ja nicht den ganzen Tag nur rumsitzen...
Den Wasserkasten habe ich schon geholt, sagt Charlotte, den Müll habe ich rausgebracht, bei der
Apotheke war ich auch, das Stumpfpfl egemittel, was denn bitte noch?

Die Post, sage ich, aber keine Sorge, das mache ich schon selbst! Und ich sehe nach der Post. Ich
öffne den Briefkasten, der wie immer so leer ist wie mein eigener. Gerade mal der Reklamezettel
vom Fleischmarkt ist drin, ich lese ihn. Dann knülle ich ihn zusammen und muss plötzlich lachen.
Sie halten mich für langweilig! Nur weil ich auf ein oder zwei Werte achte!
Ich gehe zurück, nehme Charlotte den Branntwein aus der Hand und sage: Zur Mitte, zur Titte,
zum Sack, zack zack! Dann trinke ich einen tiefen Schluck, hole mir einen Stuhl und setze mich
neben Frau Jensch. Ich klopfe ihr auf den Rücken: Alles frisch in der Kaserne?
Da gucken alle belämmert. Und als ich Strippoker vorschlage, wissen sie gar nicht, was sie sagen
sollen. Nur Charlotte lächelt und sagt, sie hätte Lust. Ich jogge hoch in meine Wohnung, um die
Karten zu holen. Ich wühle im Schreibtisch, merke dann, dass jemand hinter mir in den Raum getreten
ist. Charlotte mit dem Branntwein in der Hand.
Sie sagt: Na, wie sieht es aus mit den Karten?
Ich weiß auch nicht, sage ich, sie müssen hier irgendwo sein.
Charlotte drückt mir die Flasche in die Hand und kommt mir plötzlich sehr nahe. Sie lässt den
Blick nicht von mir ab, während ich einen Schluck nehme.
Ich sage: Ich weiß auch nicht, die Karten müssen hier irgendwo sein...
Sie nimmt meine Hand und beißt sich auf die Unterlippe, dann senkt sie den Blick.
Martin, sagt sie.
Ich sage: Charlotte.
Und sie gibt mir die Flasche und läuft kichernd aus dem Zimmer.
Kurz darauf fi nde ich das Kartenspiel in der Schreibtischschublade. Ich gehe langsam runter und
höre die anderen lachen. Inzwischen ist es dunkel geworden, die drei sitzen bei einer Kerze und
sehen mich an. Ich sage: Worüber lacht ihr?
Wir reden über das Oeuvre Franticek Kupkas, sagt der Hippie.
Ich setze mich dazu und lege das Kartenspiel auf den Tisch, plötzlich unheimlich erschöpft. Ich
sage: Wer ist Franticek Kupka? Was ist mit euch los? Habe ich euch irgendetwas getan? Wollt ihr
nicht mit mir Karten spielen?
Sie sehen mich an, und ich merke, wie sich etwas in meinem Rücken löst, dass ich richtig im
Klappstuhl zusammensinke.
Frau Jensch, sage ich, habe ich Ihnen nicht immer geholfen? Warum reden Sie nie mit mir...?
Frau Jensch hat ein ganz teigiges Gesicht, wie eine Maske, unter der sich ein Schauspieler versteckt.
Auch Charlotte wirkt falsch. Sie hat ein Bein auf dem Stuhl, stützt ihren Kopf auf ihrem Knie
und sieht mich mit blauen Augen an. Der Hippie beugt sich vor, als wäre er bereit mir zuzuhören.
Ganz sanft, aber unendlich entfernt. Was seid ihr für Menschen, frage ich, warum sagt ihr nichts?