Ondine Dietz: Über Crina
Über Crina wussten wir Drei nicht wirklich viel, obwohl wir lange Gespräche mit ihr geführt hatten, und wir uns gut auskannten in ihrem Kleiderschrank. Wir wussten nicht genau woran sie gestorben war, aber glaubten zu kennen woran sie erkrankte, bevor sie starb. Wir kamen an diesem Tag von ihrer Beerdigung und waren uns schnell einig, dass wir was Warmes brauchten und was Süßes, einen Kaffee, eine süße Zigarette und ein Stück Torte. Den türkisch gekochten Kaffee tranken wir schwarz und bitter, wir drehten die Tasse um, spielten mit dem dicken Bodensatz und schauten anschließend in Zukunft erforschender Absicht auf die Satzzeichnungen, die sich auf dem Grund gebildet hatten. Also gingen wir zu Luci und setzten uns an ihren Küchen-tisch. Ihre Mutter war ausgegangen, es war Sonntag Nach-mittag, das warme Aprilwetter fiel als milchig-nasses Licht, und stieg als schwerer Blütenduft durchs Fenster im vierten Stock, wie ein parfümiertes Fräulein. Ich erinnere mich, dass ich mein schwarzes Jackett in die Ecke warf und mich direkt auf den Küchenfußboden setzte, weil ich mich nicht traute bequem auf einen Stuhl zu sitzen und vielleicht noch meinen Kopf auf die Handflächen zu stützen, wo man doch Crina gerade unter die Erde geschaufelt hatte. Ihre Mutter, großer und allmächtiger Gott, hatte, vermutlich vor Schmerz verrückt geworden, die ganze Zeit während der Totenfeier zu uns rüber gezwinkert. Der Pope hatte den Behälter mit brennendem Weihrauch geschwenkt, und von allen Gräbern rings um uns roch es nach den rosafarbenen und violetten Hyazinthen. Ich sagte an diesem Nachmittag, dass sich doch Crina wegen Nicu Popescu umgebracht hatte und sonst wegen gar nichts. Nicu Popescu, fragte Roxana-Roscovana, die Rotbackige, Geigenspielerin in der Philharmonie, immer entrückt, nie richtig anwesend in unserem Leben, nie auf dem Laufenden, feindselig des-orientiert, wer ist das denn? Luci und ich, wir waren die zwei Eingeweihten in die Nicu Popescu-Geschichte, also waren wir ihr die ganze Geschichte schuldig, wir waren ja lange Zeit in Schichtarbeit das Bega-Ufer auf und ab spaziert, von der Hutfabrik bis zum Wasserturm und wieder zurück, die drei bis vier Kilometer, und Crina hatte uns stundenlang über Wochen und Monaten erzählt, wie sie es nicht mehr ertragen konnte, sie wollte uns dabeihaben, während sie über diese Geschichte weinte, und die Kulisse war im Sommer, im Frühling und Herbst so herzzerreißend schön noch dazu, dass es sie noch mehr anspornte uns ihr Herz auszuschütten. „Na Nicu Popescu“, begann ich, „der Theologiestudent der ihr im Zug gegenüber gesessen war, die ganze Fahrt von B im Norden nach B im Süden, die 5 Stunden“. „Was war denn genau im Zug passiert“, wollte Roxa wissen an diesem Sonntag, ihr Pony schimmerte wie schwerer Rotwein, und sie schien auch immer wie von Wein benebelt zu sein, hatte noch von ihrem vielen Proben überall Musiknoten hängen, im Haar, an den Kleidern, aber das April-Licht stand uns allen gut.
Es war eine so armselige Geschichte, diese gemeinte Zuggeschichte, da war nichts passiert, die ganzen 5 Stunden über hatte Crina kein Wort mit Nicu Popescu gewechselt. Ja, noch besser, erst als er für kurze Zeit das Abteil verlassen hatte und seine Begleitung, die er die ganze Zeit im Arm gehalten hatte eingeschlafen war, mit der Stirn gegen das Fenster gelehnt, sah Crina, dass ihm ein Buch aus der Jackentasche gefallen war und im Inneren, auf der ersten Seite stand: Nicu Popescu, Priesterseminar Sibiu. Wie sah der Mensch aus und wie seine Begleitung, die mysteriöse Frau, die er im Arm hielt? Darüber, wie er ausgesehen haben soll, fingen wir dann schließlich an zu erzähle. Er soll braun-haarig gewesen sein, mit pechschwarzen Augen und einer charaktervollen Nase. Von diesem Aussehen hatte das Bega-Ufer lange Zeit widergehallt, wie wir vorbeigingen an Hündchen die ausgeführt wurden, Tennisplätzen und Biergärten. Ob wir meinten, Crina soll sich erst das Gehirn mit Tabeletten zerstört haben, und sich danach aufgehängt haben, nur weil sie einen Menschen nicht vergessen konnte, den sie ihm Zug getroffen hatte, kein Wort mit ihm gesprochen hatte und nicht einmal genau wusste, wie er hieß?
Das, wie er hieß, ob er wirklich Nicu Popescu hieß, spielte überhaupt keine Rolle, das brachte die Rote Roxa-Rosca nur als Stilblüte ins Spiel, weil sie keine Lust hatte, sich selbst das Hirn zu martern. Wir, Luci und ich, sollten die ganze Analyse liefern, um sie damit zu unterhalten; sie spielte auf unseren Leibern wie auf einer Violine und wir beneideten sie ständig wegen ihren vielen Morgenmäntel: den Kirschroten aus Satin, den Blauen aus Baumwolle mit dem Pandabären auf dem Rücken, den Schwarze mit den Ärmeln aus Spitze .
Er war Nicu Popescu und hatte keinen anderen Namen be-kommen, als den, der in seinem Buch stand und wir wurden immer müder von der Vorstellung, dass Crina offensichtlich aus dieser Begegnung eine ganze sentimentale Fernsehserie für ihr und unser Hirn produziert hatte, die so ausging, dass sie sich schließlich mit ihrer Seidenstrumpfhose, die eigentlich nur in Paris aus Seide war, bei uns dagegen aus Nylonfaser, aufhängte. Er durfte für den Moment der Inhaber und Träger dieses Namens sein. Wir kannten uns viel besser aus mit der so genannten Hierarchie des Schlimmen im Falle Zugfahrt mit Nicu Popescu und Freundin, und wie Crina aus diesem schmerzenden Schlimm-Sein ein Poem dichtete. Schlimm war erstens, dass er sie, seine Freundin, die ganze Zeit im Arm gehalten hatte, aber noch schlimmer, dass er kein einziges Wort mit ihr geredet hatte. Nicht nur mit Crina sondern auch mit der anderen. Es war schlimm, so wussten wir es mit Crinas Augen zu sehen, es war deswegen so unerträglich schlimm, weil es den Anschein hatte, als musste er gar nicht mehr mit ihr sprechen, es genügte vollkommen, wenn er seine Schläfe an die ihre hielt. Das war die eine Interpretationsmöglichkeit, eine andere war die, dass er deswegen nicht mit ihr, mit der Begleitung, mit der Rivalin gesprochen hatte, weil er befürchtete seine überzärtlichen Mitteilungen an sie würden durch die Zugatmosphäre, durch die banale Aura der übrigen Abteilgäste entweiht werden. An diesem Punkt weinte Crina im Sommer, wie im Frühling, wie im Herbst schluchzend. Manchmal blieben wir stehen und setzten uns sogar auf eine Bank. Dann fing sie an sich in ihre Version von Nicu Popescus Schweigen zu vertiefen, suchte verzweifelt nach weiteren Indizien gerade in unseren erstaunten, von der Wirkung dieses Schweigens auf Crinas Gemüt, zu Tode erschreckten Gesichtern und versuchte dabei mit der Schuhspitze einen Pflasterstein aus den Fugen zu lösen. Dieses Schweigen, kombiniert mit einem Streicheln über den Kopf der Frau, mit dem anderen Arm um ihre Schultern gelegt, während er zum Fenster hinaussah, muss ein dichter, undurchdringlicher Wald für Crina gewesen sein, wenn es auch eine der Hauptaussagen über Nicu Popescus Persönlichkeit oder den, der Nicu Popescus Buch „La Foret Interdite“ von Mircea Eliade in der Jackentasche trug, lieferte. Noch schlimmer war die Tatsache, dass die andere sehr unansehnlich gewesen sein soll. Ohne jede Spur von Weiblichkeit von Kopf bis Fuß. Fünf Stunden lang soll Crina versucht haben etwas Anziehendes an ihr zu entdecken, das seine Liebe rechtfertigen hätte können, vergeblich: kein schönes Gesicht, keine schönen Augen, keine schöne Nase, ein Doppelkinn, ein kurzer Hals, eine gedrungene, unförmige Gestalt, ohne Glanz, ohne Wärme, ohne das Talent schöne Gesten zu machen, die Nicu Popescu offensichtlich so tief liebte, dass er sie über 5 Stunden fast nicht losließ, gar nicht mit ihr sprach und sie vor der Misere dieses Universums beschützend, wegsperrte, indem er sie in sein Schweigen hüllte wie in einem kostbaren Pelz. Und war es nicht ein Zeichen seines Auserwählt-Seins, dass er sehen konnte, was andere Menschen verborgen blieb, lieben konnte wie kein anderer, ja sogar die geliebte Person mit seiner Macht für andere gänzlich unsichtbar und unerreichbar zu machen. Für Crina stand fest, dass sie nur deswegen so nichtssagend aussah, weil er sie so sehr liebte und begehrte, dass er es schaffte sie total von der Wahrnehmung der anderen zu isolieren. An dieser Stelle schien sie sich fast zu schütteln vor der Vorstellung einer solchen Gabe. Die sie nicht ein einziges Mal, oder besser gesagt, ein einziges, großartiges Mal während dieser Zugfahrt gestreift hatte. Das Drittschlimmste war, und uns verschlug es jedes Mal die Sprache, wenn wir an diese Drei ankamen, weil wir nie wussten, ob die Stelle in der Geschichte, das vielleicht untrüglichste Zeichen war, dass Crina eigentlich im klinischen Sinn wahnsinnig war, oder das sicherste dafür, dass das Mysterium „Nicu Popescu“ uns alle früher oder später unter die Erde bringen würde. Unsere Tassen lagen umgedreht auf den Untertassen an diesen Sonntag und wir trauten uns nicht mehr unser Kaffee-Spielchen um Zukunftsdeutung: “was für ein Tier schlummert denn da auf dem Boden der Tasse, ist es ein Fisch, ist es ein Löwe, ist es ein Hund, ein treuer Freund, ein Bote, eine Erbschaft, ein neues Kleid?“- zu machen, das Drittschlimmste war der Kuss. Nicu Popescu stieg in Bukarest aus, eigentlich stiegen sie beide aus, so haben wir die Szene auswendig gelernt, mehrmals hatte sie uns die Szene in einer Küche, in einem Zimmer vorgespielt, als erste verließ seine Freundin das Abteil und dann ging sie den Korridor entlang bis zur Waggontür. Er holte seine Tasche aus dem Gepäcknetz, und danach muss er sich zu Crina gebeugt und sie auf die Stirn geküsst haben. Das Schlimme, das Böse, das Verrückte daran war, dass sie es nicht mehr wirklich wusste, vielleicht war es nur eine Erscheinung und sie hatte sich das alles nur eingebildet, denn warum sollte er sie nach 5 Stunden wortlosem Gegenübersitzen auf die Stirn küssen? Wir wussten genau wie er die ganze Zeit den Hinterkopf seiner Freundin getätschelt hatte, während er aus dem Fenster sah, denn wir wussten, er sah abwesend aus dem Fenster, drückte seine Schläfe an die ihre und zwischen ihnen flossen die Gedanken vollgetränkt mit Zärtlichkeit. Wann hatte er aber, während es so floss zwischen ihnen, unsere Crina bemerkt? Wann hatte er bemerkt, dass sie so aussah, so dasaß, vielleicht ihn verstohlen so ansah, als hätte sie ihn auf der ganzen Erdoberfläche gesucht und jetzt gerührt war bis in ihr Innerstes, ihn gefunden zu haben? Andererseits wussten wir, dass Crinas Besessenheit von diesem Kuss herrührte, dieser unglaubliche, fast unmögliche, geheimnisvolle Kuss war aus der Chronologie dieser Besessenheit nicht mehr wegzudenken, denn er verursachte sie sogar. Auf alle Fälle, angenommen sie war schon früher dagewesen, noch aus der Zeit des schweigsamen Streichelns über Haar und Haupt, sein Blick immerzu aus dem Fenster schauend ,verstärkte er sie aufs Äußerste und zeigte, dass in diesem Zugabteil, in dem Expresszug der gerade im Nordbahnhof von Bukarest Station machte, ein großes Wunder stattgefunden hatte. Dieser Nicu Popescu muss die ganze Zeit gelesen haben, dass Crina sich Mühe gab, seine Liebe zu seiner eingeschlafenen Freundin zu verstehen. Vielleicht gelang es ihm, weil in seiner Jacke, in dem Buch, unter seinem Namen, Priesterseminar Sibiu stand, vielleicht hatte er ja die Gabe alles zu sehen, alles sofort zu verstehen und das einzig Richtige zu tun in jedem Fall, alles Kraft seiner Berufung zum Priester. Wir wussten seit den Spaziergängen am Bega-Ufer was Crina quälte. Manchmal fing sie an zu weinen, weil ihr plötzlich klar geworden war, dass dieser Mann aus dem Zug für diese junge Frau, die so teilnahmslos schaute in den kurzen Momenten, in denen sie wach gewesen war, nur ein Tröster war in der eigentlichen, für Crina uneinsehbaren Nicu Popescu-Sache, in die sie nie einen Einblick würde bekommen können; er war vielleicht nur der Überbringer einer schlechten Nachricht, der beste Freund des verstorbenen Nicu Popescu, der sie zu einem magischen Ort in Bukarest begleitete. Oder er kostete die letzte Zeit mit ihr aus, bevor er endgültig die Priesterweihe empfangen würde, „er nahm Abschied, er trauerte“, sagte sie. „Er nahm Abschied von allen Frauen der Welt, als er mich küsste“, sagte sie mit einem, wie wir fanden, irrem Lächeln. Priesterseminar Sibiu, stand in diesem Buch, das machte den Kuss vielleicht zum symbolischen Abschiedskuss. Oder war diese Entscheidung, das Priesterseminar zu besuchen, das, was aus dem Nicu Popescu einen Stirnküsser machte. Dann war es noch trauriger für Crina. Die ganze Zeit, während sie ihm gegenüber saß, soll ihr die Brust von diesem Gefühl für ihn angeschwollen sein, ihre BH-Größe hatte sich seit dem Anfang der Zugfahrt um zwei Nummern vergrößert, erzählte sie uns, aber vielleicht hatte der Seminarstudent nur eine Vergrößerung ihres Herzens bewirkt, gerade weil er frisch aus dem Priesterseminar kam.
Dieser Punkt lieferte für gewöhnlich viel Stoff für die Vor-stellungskraft bei unseren Kaffeeseancen, aber jetzt, wo Crina sich erhängt hatte, in der Kartoffelvorratskammer ihrer Großmutter auf dem Lande, mussten wir auch darüber sprechen, wir mussten über Ostern des vorigen Jahres sprechen, über die Auferstehung um Mitternacht in der Kathedrale und wie Crina vergeblich auf Nicu Popescu gewartet hatte , nachdem sie einen Brief an ihn geschrieben hatte, also an Nicu Popescu, Priesterseminar Sibiu, Allee der Artisten, No 6, Sibiu, mit dem Inhalt: „Ich bin die Frau aus dem Zug und ich warte auf dich in Temesvar, an der Aufer-stehungzeremonie, vor der Kathedrale, von 22 Uhr bis um 1. Falls der Mann aus dem Zug, der am 20 Februar von Bacau nach Bukarest fuhr, nicht der Nicu Popescu war an den ich jetzt schreibe dann teile mir bitte mit, wo ich ihn finden könnte“. Nicu Popescu, oder der Mann in dessen Tasche Nicus Buch war, kam voriges Jahr nicht zur Auferstehung und auch nicht dieses Jahr, als Crina den gleichen Brief abschickte. Sein Schweigen umhüllte oder berührte sie aber diesmal nicht wie ein Hermelinpelz, seine Macht legte sich nicht wie eine Schleppe auf ihre Schultern. Wir waren es diesmal, die es so sehen wollten, wir wollten ihre Königlichkeit als solche verstehen.
Wir waren auch dabei als sich Crina für die erste Aufer-stehung vorbereitet hatte; sie hatte ein maisgelbes Kleid ausgewählt und trug eine schwarze Atlasschleife im Haar. Dann fragte sie uns, ob ein rosafarbenes Kleid mit großen weißen Punkten, passender wäre. Auf die Sohle ihrer Ballerinaschuhe hatte sie mit dem Kugelschreiber "diamonds" geschrieben und lachte, als sie sagte:“ i´ve got diamonds on the soles of my shoes“. Von der zweiten Auferstehungsfeier und dem vorausgegangenen Brief wusste nur ich etwas, und ich erinnere mich noch, dass ich mich sehr fürchtete, weil jetzt nichts mehr drinstand über dem Mann aus dem Zug, der vielleicht gar nicht Nicu Popescu hieß, sondern ganz anders vielleicht George, Vasile, Andrei war, der seine behinderte Schwester umsorgen musste, an die er wie ein zärtlicher Bruder hing. Bevor sie aus der Tür ging, es war gegen 21 Uhr und fast noch hell draußen, und ein Aprilhimmel hinter dem Korridorfenster, auf dessen Grund sich die weiß lackierte Tür profilierte, hob sie den Fuß und wir sahen noch „diamonds“ und sie ging raus und dann trat sie mit dem Fuß die Tür zu.