Andrea Gerster: Ohne Zusammenhang
Er hatte keinen Hals. Als hätte ihm jemand den Kopf zwischen den Schultern abgelegt und dann vergessen.Wie eine Kröte, dachte sie. Eine Kröte in Anzug und Krawatte. Die Worte und Sätze musste er ein- und ausschnaufen. Als ob die Lunge den Sauerstoff aus den Wörtern saugen müsste.
Ohne Hals keine Luftröhre, dachte sie, irgendetwas fehlt immer, auch einem Chefredaktor.
Denk an etwas anderes, dumme Kuh, schalt sie sich, denk dir die Kröte schön."
Ein verzauberter Prinz vielleicht. Aber bei der Vorstellung ihn küssen zu müssen, damit die Kröte sich verwandle, wurde ihr schwindlig. Sie klammerte sich an ihre Tasche, nicht dass sie noch vom Stuhl fiel. Nicht in seiner Gegenwart, hilflos mit hochgerutschtem Rock auf dem dicken Teppich liegend. Grauenhafte Vorstellung.
Der Kröten-Mann hatte nicht nur keinen Hals, sondern auch keine Haare und sie war in die engere Wahl gekommen. Sie brauchte den Job. Zum zweiten Mal saß sie hier vor ihm, trug diesmal einen tief ausgeschnittenen Pullover und einen weich fallenden Rock, da sie annahm, dass sich Menschen ohne Hals an fremden Hälsen gerne satt sehen. Und harte Männer mochten weiche Frauen. Dass er ein harter Mann war, hörte man an seiner Stimme und sah man an der Art, wie er am Ende von Sätzen, die geschrieben mit einem Ausrufezeichen versehen worden wären, mit der Faust auf den Schreibtisch hieb. Der Halslose sprach ausschließlich in Ausrufezeichen. Das war gut für sie, denn Fragezeichen hätten Antworten erwartet, die in etwa so gelautet hätten:
Ja, ich bin zuerst als Redaktorin und kürzlich auch als Ehefrau eingespart worden.
Ja, die Sache rund machen die beiden mäßig angepassten halbwüchsigen Kinder und die finanziellen Engpässe.
Ja, der Job im Ressort Leben, um den ich mich hiermit bewerbe, ist der Silberstreifen am Horizont, der Strohhalm, die letzte Hoffnung.
Zweite Runde, dachte Sie, und ich habe nicht vor bereits in die Knie zu gehen.
"Eine Reportage zum Thema Herzschrittmacherin", schnaufte ihr der Mann eine nach Kaffee und Zigaretten riechende Wolke über die Schreibtischplatte zu. Eifrig notierte sie Thema, Länge und Abgabetermin der Reportage, nickte und lächelte, stand auf und reichte dem Mann die Hand, lächelte weiter und ging.
Oder war es ein Grinsen? Oder Zähne fletschen?
Bücklinge, dachte sie, "jetzt weiß ich was Bücklinge sind, ich bin von Kopf bis Fuß ein Bückling.
Eine Woche, um die anderen Bewerberinnen und Bewerber mit einer brillanten Reportage aus dem Feld zu schlagen. Eine Woche für ein idiotisches Thema. Herzschrittmacherin, welch krankem Hirn konnte so etwas entspringen? Aber Kröte war nun mal der Chef, und sie wollte den Job.
Noch vor wenigen Jahren gehörte zu ihren größten Sorgen, ob die Leute von der Poolreinigung pünktlich kamen oder die Kosmetikerin Zeit hatte für sie. Natürlich besaß sie nie einen Pool und ihre Pickel drückte sie immer eigenhändig aus. Aber wäre das alle so gewesen, wäre sie für ihren Mann eine mit hohen Fixkosten verbundene teure Anschaffung gewesen. Und dann könnte sie jetzt eher nachvollziehen, dass sie, weil nicht mehr rentabel, ausgemustert worden wäre.
Stattdessen schuftete ich immer mit, glänzte aber im Job nicht, brillierte weder als Mutter noch als Hausfrau, denn immer fehlte die Zeit, immer hatte der Tag nur 24 Stunden.
Und jetzt war sie von einem dummen Klischee eingeholt, dem Frauenthema schlechthin, mit dem sie sich oft genug im Job beschäftig hatte. Meistens mit einer gewissen Ignoranz, um nicht zu sagen Arroganz. Solches konnte ihr nie geschehen, war sie überzeugt gewesen, und wenn, dann sah man das kommen und konnte frühzeitig reagieren. Dumme Hühner, die nicht in der Lage waren vorzusorgen.
Dass alles gleichzeitig den Bach runtergehen würde, damit hatte sie nicht gerechnet.
Muss man denn immer mit dem Schlimmsten rechnen?
Manchmal hatte sie sich gewünscht geschieden zu sein, damit sie sich ungestört der Arbeit und den Kindern widmen könnte. Manchmal passte der Mann überhaupt nicht in ihren Tagesablauf. Aber war das ein Grund, sie plötzlich hängen zu lassen?
Eines Tages wurde die Zeitschrift, die sich als sozialkritisch rühmte, umgekrempelt, und ihre 70 Prozent Stelle eingespart.
Aus heiterem Himmel.
"Mit uns läuft das nicht mehr so optimal, irgendwie fahren wir doch schon eine ganze Weile auf verschiedenen Schienen", sagte er, als sie ihn fragte: "Wer war das denn?"
"Wen meinst du?"
"Die Frau in dem offenen Wagen, die dich nach Hause brachte"
"Das ist die Frau, die ich liebe", antwortete er und fügte den Satz mit den verschiedenen Schienen an.
So einfach.
"Ach so", hatte sie damals gesagt, "und nun?"
"Ich packe meine Sachen und rufe dich dann an."
Von einem Zivilstand in den anderen. Verheiratet – getrennt, seit einigen Wochen geschieden. Die Kinder wollte er nicht.
"Das sind Mama-Kinder", meinte er, "zwei Wochenenden pro Monat, reichen mir, und den Kindern reicht das auch."
Sie dachte an Fahrdienste für die Kinder, die Redaktionsschlusssitzungen an den Sonntagen, an die Hemden, die sie frühmorgens noch rasch für ihn gebügelt hatte. Immer und überall dabei. Aber keine Karriere. Besser wäre gewesen fünf Kinder und zu Hause geblieben, dachte sie, dann wäre er wenigstens mit einem schlechten Gewissen gegangen. Tröstend wären dann die Freundinnen eingesprungen aus der Stillgruppe, den Koch- und Backkursen, vom Yoga und Tai Chi. Auch die Spielgruppen- und Spielplatzbekanntschaften hätten ihr als geschiedene Mutter von fünf Kindern Mut zugesprochen. Sie erhielte Unterhalt für sich und Alimente für die Kinder. So aber gab es nichts für sie, weil sie immer gearbeitet hatte, und wohl jetzt keinen Grund hatte, es nicht mehr zu tun, obwohl gekündigt und auf Arbeitssuche, und die Wochenenden, die die Kinder bei ihm verbringen sollten, wurden ihr von den Alimenten abgezogen. Und Freundinnen hatte sie keine, weil keine Zeit dafür vorher und jetzt auch nicht. Und eigentlich hatte sie vorgehabt eine Auszeit zu nehmen, nach der Kündigung.
Herzschrittmacherin klingt feministisch. Könnte auch theologisch sein. Oder wissenschaftlich oder sozialkritisch oder poetisch oder sportlich. Ihre Reportage musste die Lesenden zum Dranbleiben reizen und den Halslosen derart faszinieren, dass er ihr sofort einen Arbeitsvertrag über die glänzende Schreibtischplatte schieben würde.
Alles eine Frage der Strategie, dachte sie, stieg in den Bus, setzte sich, und strich sich den Rock über den Oberschenkeln glatt. Sich von allen möglichen Seiten an das Thema annähern. Sich auf das journalistische Handwerk besinnen, nichts anderes. Neben ihr ließ sich eine Frau in den Sitz fallen, deren Atem von einem leisen Pfeifen begleitet war. Nicht an den Halslosen denken, sich nicht über das abstrakte Thema aufregen.
Ob die Frau neben ihr allenfalls einen Herzschrittmacher benötigte? Termine mit Menschen auszumachen, die etwas zum Thema zu sagen hatten, erschien ihr das Naheliegendste. Ob die Frau neben ihr eine Möglichkeit wäre? Besser war, wenn sie sich auf ihre alten Kontakte verliess. Sie verließ den Bus, ohne die Frau neben ihr angesprochen zu haben.
An den Geruch im Treppenhaus konnte sie sich nicht gewöhne. Ein Nahrungs- und Ausscheidungsgemisch, das zu jeder Tageszeit kleine Ekelschübe auslöste. Woher hatten am Stadtrand gewohnt, im Grünen. Während sie hochstieg, wurde ihr der soziale Abstieg, den eine Scheidung mit sich bringt, schmerzlich bewusst. Die Ekel- und Schmerzschübe, die körperliche Anstrengung des Treppensteigens erschöpften sie, so dass sie oben angekommen, zu matt war, um sich einen Kaffee zu machen. Sie saß am Küchentisch und starrte vor sich hin, bis in ihrem Inneren Ruhe einkehrte und sich winzige Energietropfen sammelten und das Krötengesicht heraufbeschworen.
Sie wollte den Job.
Sie brühte Kaffee, holte das Adressbuch, machte eine Liste mit den Nummern und stellte sich mit dem Telefon ans Fenster. Stehen war zum Telefonieren immer besser, das wusste sie, man wirkte dann aufgeschlossener, selbstbewusster, als wenn man sich in einen Sessel duckte.
Zu ihren alten Kontakten gehörte die Feministin, von der sie nach der Publikation einer Lippenstiftgeschichte scharf angegriffen worden war, gehörte aber auch der Pfarrer, welcher sie der Blasphemie bezichtigt hatte, nachdem sie die Jungfrau Maria innerhalb eines fiktiven Interviews zur Situation allein Erziehender befragt hatte. Um einen Termin beim Radrennfahrer zu erhalten, war Überzeugungsarbeit nötig, zu deutlich war ihm ihr Dopingartikel über ihn in Erinnerung. Nachdem sie den Sportler im Artikel zitiert hatte, fand bei ihm eine Hausdurchsuchung statt. Der Professor der medizinischen Fakultät verwies sie an seine Assistentin. Die Mutter der vier Kinder erinnerte sich zum Glück nur an das schöne Familienbild in der Muttertagsausgabe und nicht an ihren Text. Sie hatte nur am Mittwoch Zeit für ein Gespräch. Den Direktor der Medizinaltechnik GmbH verärgerte sie gleich am Telefon mit der Frage, weshalb er für die Herstellung seiner Herzschrittmacher die Rechtsform einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung gewählt habe. Sie erhielt dann doch einen Termin mit einem seiner Mitarbeiter, weil er annahm, sie sei Redaktorin einer führenden medizinischen Fachzeitschrift. Das Treffen mit dem Sekretär der Arbeitsgruppe für Herzschrittmacher und Elektrophysiologie musste sie zwischen vierfache Mutter und Assistentin schieben. Nun galt es entsprechende Fragen auszuarbeiten. Ihr Ziel war, viel Material zusammen zu tragen, um damit das Thema, wenn man denn Herzschrittmacherin überhaupt als solches bezeichnen durfte, von allen Seiten anzugehen.
Die Listen mit den Terminen und Fragen lagen bereit. Sie ging noch einmal aus dem Haus, um ein Laptop und ein Aufnahmegerät zu mieten. Vier Tage also. Sie musste bereits am Freitag abgeben, weil sie ab Montag für einen Kurs angemeldet war, der von der Arbeitslosenkasse finanziert wurde. Wenn sie nicht hinginge, würde es Einstelltage, also weniger Geld geben.
Sie spürte Verbitterung aufsteigen, die sie aber mit einem gespritztem Weißwein niederkämpfte. Im Garten ihrer Lieblingskneipe. Das war einer der Vorteile des Stadtlebens. Da gab es Orte, wo man unter Leute kam und verweilen konnte. Im Grünen gab es das nicht, verweilen schon, aber ohne Menschen.
"Die nächsten Tag muss Ruhe sein, ich muss arbeiten", sagte sie am Abend.
"Ist ja nichts Neues, dass du Ruhe brauchst", meinten die Kinder. Sie verhielten sich dennoch ruhiger, ruhiger als sonst auf jeden Fall.
Bis tief in die Nacht studierte sie die Betriebsanleitungen der gemieteten Geräte. Es durfte nichts schief gehen. Das moderne Aufnahmegerät hatte Tücken, es ließ sich nicht vorspulen, wie sie es von früheren Geräten gewohnt war, sondern es hüpfte in Kapiteln. Das könnte ermüdend werden.
Dann war Donnerstagmorgen. Den Zugang zum Thema hatte sie immer noch nicht gefunden, dafür lag das Aufnahmegerät vor ihr, dass sie nur mit Vorsicht berührte, zu ängstlich war sie, aus Versehen die Aufnahmen zu löschen. Sie setzte sich an den Laptop. Es waren nicht nur die intensiven Gespräche, die sie ermüdet hatten, sondern auch die Umstellungen der Gesprächstermine. Ihre Agenda war in dieser Woche voll geschrieben mit Namen, mit durchgestrichenen Terminen, Orten und Zeiten. Eines der Kinder der vierfachen Mutter hatte plötzlich Fieber bekommen. Die Assistentin hatte sich im Tag vertan, der Pfarrer hatte eine Beerdigung, die Feministin plagte Migräne. Irgendwie und irgendwann hatten aber alle Gespräche durchgeführt werden können.
Sie startete den Computer, die Betriebsanleitungen lagen in Griffnähe. Sie öffnete ein leeres Dokument speicherte es auf den Namen Herzschrittmacherin. Der leere Bildschirm mit dem Titel im File, ließ ein Alles-Wird-Gut-Gefühl aufsteigen. Nun das Aufnahmegerät auf Anfang, die Kopfhörer auf und Start.
Sie erstarrte. Das war nicht ihre Stimme, die wie gewohnt die Person des Interviewten, Ort und Zeit meldete, sondern sie befand sich bereits mitten im Gespräch. Sie hatte sich mit allen Beteiligten im selben Café getroffen. Selbst die kinderreiche Mutter, wollte sie nicht in ihrem Heim empfangen, der Pfarrer nicht in der Kirche, die Assistentin nicht an der Uni. Dazu kam, dass sie nicht mehr wie früher die Leute auf die Redaktion bitten konnte. Im Café war immer dieselbe Geräuschkulisse, eher laut, so dass sich die eigene Stimme kaum von den anderen unterscheiden ließ. Sie hörte fünf Stunden lang die Aufnahmen an und versuchte Gesprächsteilnehmer, Fragen und Antworten zuzuordnen. Sie musste feststellen, dass sie vor jedem Gespräch vergessen hatte, die Ansage aufzunehmen.
Sie erinnerte sich an das Gespräch mit der Mutter, oder war es die Feministin, an dem sich plötzlich eine Grauhaarige vom Nebentisch beteiligt hatte. Einmal hatte sich – beim Radfahrer? – ungefragt der Kellner hinzugesetzt. War das der Pfarrer, der gesagt hatte, Herzschrittmacherin gäbe es nicht, sondern nur Herzschrittmacher, und der sei männlich wie Gott? Oder hatte gerade dies die Feministin mit ihrer tiefen Stimme kritisiert? Behauptete der Radfahrer, dass er nie einen Herzschrittmacher benötigen werde oder hatte der Sekretär der Arbeitsgruppe gemeint, gedopte Radfahrer seien die potenziellen Anwärter für Herzschrittmacher?
Ich habe es versaut, dachte sie, arbeitslos und geschieden und sicher bald auch ausgesteuert, sie klappte den Laptop wieder zu und löschte die Aufnahmen.
"Bin kurz weg", rief sie den Kindern ins Wohnzimmer, ging durch die Abendbrotgerüche hinunter, setzte sich in die Kneipe und bestellte ein Glas Weißwein und Oliven und saß und dachte nach, und nach dem zweiten Glas wusste sie, dass sie noch nicht aufgeben wollte. Eine Herzschrittmacherin-Story würde sie schreiben. So oder so. Sie ging wieder hoch, die Kinder sahen fern und riefen, ist es zu laut, brauchst du Ruhe, und sie antwortete, schon gut, klappte den Laptop wieder auf und fing an zu schreiben. Sie schrieb, an was sie sich erinnerte. Beim Schreiben wurde sie wütend und dann traurig, aber sie blieb sitzen und schrieb, und es war längst nach Mitternacht, und sie hatte keine Ahnung, was sie geschrieben hatte, und sie dachte bei sich, der Kröten-Mann kann sich die journalistische Sorgfalt sonst wohin stecken, und sie mochte sich nicht vorstellen wohin, darob musste sie lachen und stellte dabei fest, dass sie bereits 20 000 Zeichen geschrieben hatte und beschloss aufzuhören und schlafen zu gehen. Am nächsten Tag schrak sie gegen Mittag aus einem unruhigen Schlaf, die Kinder saßen mit einer Pizza auf den Knien vor dem Fernseher. Im Korridor lagen die Schuhe und Schultaschen verstreut am Boden, offenbar waren sie in der Schule gewesen.
Mit einem Kaffee setzte sie sich an den Computer, formatierte den Text, prüfte Grammatik und Orthografie. Auf einen inhaltlichen Zusammenhang achtete sie nicht. Zuletzt drei griffige Titelvorschläge obenauf und ab per Mail an den Kröten-Mann.
Am Abend rief die Redaktionssekretärin an. Am nächsten Ersten kann sie anfangen. Sie hatte den Job erhalten, weil sie als erste den Text abgegeben hatte.
Ein Halsloser legt eben keinen Wert auf Zusammenhänge.