Ruben Zumstrull: Warum laufen Schüler Amok
Es fühlt sich furchtbar an; mein Verstand ist eingekerkert und da ich mein Verstand bin, oder es zumindest so empfinde, bin ich eingekerkert. Jeden Morgen muss ich um sieben Uhr aufstehen und den gesamten Vormittag in der Schule verbringen. Aber damit nicht genug; den Gipfel der Dreistigkeit macht die Tatsache aus, dass von mir auch noch die Erledigung von witzlosen Hausaufgaben erwartet wird. Ich mache nur selten irgendwelche Hausaufgaben, doch würde ich es tun – mir bliebe gerade noch genug Zeit zum Schlafen; und dieser stetige Wechsel von Schule, Hausaufgaben und Schlaf wird von einer nicht genau zu definierenden, dunklen Macht, Leben genannt; und die Schafsherde übernimmt den Begriff, spricht dem Hirten nach und ignoriert meine Stimme, weil sie nicht diejenige eines Hirten ist. Die Schule ist wie eine lähmende Krankheit, die mein Leben befallen hat. Ich würde die Tage gerne auskosten, ich möchte etwas erleben; doch meine Krankheit verbietet es mir, der Arzt sagt, ich muss jeden Morgen sechs bis sieben Stunden in dem gleichen Raum, auf dem gleichen Stuhl sitzen und mir anhören, was passiert, wenn man ein Elektron in ein Magnetfeld schießt.
Ich halte mich an das, was der Arzt sagt und mache mich auf den Weg zur Schule. Eingepfercht im Deportationsbus atme ich die widerlichen Chemikalien ein mit denen die Schafe ihren persönlichen Geruch, ihre Identitätsduftmarke zu überdecken suchen und lese, durch die großen Fenster blickend, die den Bus wie ein Aquarium aussehen lassen, auf einer kargen Betonwand den gesprühten Ausspruch „1984 is now“. Im Unterricht muss ich einen zufriedenen und aufmerksamen Gesichtsausdruck aufsetzen. Entdeckt der große Lehrer eine Spur von Traurigkeit oder Unaufmerksamkeit in meinem Blick, so schließt er daraus, dass ich seine Gehirnwäsche nicht oder zumindest nicht widerstandslos aufnehme und setzt mich mit Fragen unter Druck. Als sich unser Gedankenführer gerade darauf konzentriert, eine physikalische Regel an die Tafel zu schreiben, wage ich es, mich im Raum umzublicken: Die Schafe sind aufmerksam; die Informationen, die der Führer gibt, durchfließen die einzelnen Exemplare der Herde. Exemplarsinterne Stationen dieses Datenflusses sind: Die Augen und Ohren des Schafes, welche die Lehren aufnehmen, dem Gehirn zuleiten. Das Gehirn, welches die Lehren speichert und zur Absicherung einen Impuls durch das rechte Vorderbein, bis hin zur Pfote sendet, welche einen Stift umklammert, der in Verbindung mit Papier die Datensicherung gewährleistet. Auch meine Pfote beschreibt das Papier. Doch der Impuls entsteht im Gehirn, denn ich schreibe diesen Text; ich wähle meine Worte selbst. Prost! Ich kann schreiben, was ich will. Zusammenhanglos das Wort Koketterie fallen lassen. Oder Machtmissbrauch. Kann meine Mathelehrerin Miss Brauch nennen. Kann den Begriff Pippimann in meinem Gehirn kreisen lassen. Mein Gehirn erschöpft sich nicht in der Rolle des Vermittlers; es ist nicht nur eine Zwischenstation, kein an die Antenne des Staates angeschlossener Receiver. Es ist sein eigener Führer.
Es klingelt. Pause? Denkste. Die Führer ziehen sich zwar zurück, bis auf einen Aufpasser, einen großen Bruder, der den Pausenraum auf der Suche nach Ungewöhnlichem durchstreift. Die Gehirne der Meute werden vorübergehend abgenabelt, sich selbst überlassen. Nun haben die Schafe Gelegenheit, sie selbst zu sein. Doch was tun sie? Sie verhalten sich alle gleich. Quatschen sich gegenseitig mit inhaltsarmem Einerlei die Rübe zu Brei. Quatschen um zu quatschen. So ein Quatsch! Aber nein, sehr sinnvoll! Denn sie fühlen sich verbunden; nehmen sich als Einheit wahr, wie die Neonazis. Suhlen sich in der Gewissheit, dass sie alle gleich sind. Und meistens reden sie sogar über ihre letzte Ration Gehirnwäsche, vergewissern sich, dass sie alles ohne Störungen in sich aufgenommen haben. Ihrem Gehabe nach zu urteilen haben sie einen äußerst starken Fortpflanzungsdrang. Welch eine Katastrophe! Die grenzenlose Dummheit dieser eigenhirnamputierten Fickschafe, die aufgrund ihres mangelnden Verstandes verständlicherweise vollständig in ihren Geschlechtsteilen aufgehen, vererbt sich somit an die nächste Generation! Und diese Grausamkeit setzt sich bis in alle Ewigkeit fort.
Anstatt meine Hausaufgaben zu machen höre ich nachmittags die ersten beiden Alben von Slipknot und erschieße parallel dazu zahlreiche virtuelle Menschen. Später ertappe ich mich dabei, wie ich mir im Internet echte Waffen anschaue.
Beim Abendessen versuchen meine Eltern, mir Löcher ins Gehirn zu fragen: „Wie läuft’s in der Schule?“ „Hast du irgendwelche Arbeiten zurückbekommen?“ „Wann fängst du endlich auch damit an, jeden Tag immer nur das Gleiche zu sagen, um dein Gehirn zu entlasten und zu einem nicht zur Reflektion fähigen Aufnahme- und Abspielgerät verkümmern zu lassen?“ „Jetzt neu: Zwei in Eins! Mit diesem Gehirn können sie Informationen aufnehmen und wieder abspielen! Lassen Sie sich noch heute ein völlig unkompliziertes Gehirn vom Typ Schaf 2008 einpflanzen! Wenn Sie sofort bestellen bekommen Sie ein Handy gratis dazu! Damit Sie, falls sich doch mal ein Funken Verstand in Ihrem Gehirn bilden sollte, sich diesen ganz einfach und ohne großen Zeitaufwand wieder heraustelefonieren können! Lasst euch rund um die Uhr vom Staat überwachen und quatscht euch das Gehirn leer! Mit dem neuen Blödia 08 Komplettpaket! Absolut sicher! Denn falls sich in eurem Gehirn doch mal etwas regt, werden die Handystrahlen garantiert einen Tumor heraufbeschwören, der euch das Gehirn zuverlässig zersetzt, bevor ihr auf dumme Gedanken kommt. Also nicht lange fragen: Zuschlagen!“
Und der Wecker klingelt, zermatscht mir das Gehirn, elektroschockt meinen Körper, lässt mich schließlich auffahren, entreißt mich meiner sanften Träume. Es ist wieder Zeit für die Schule; das Symptom meines Leidens holt mich wieder ein. Es gibt keinen Ausweg. Schon hunderttausendmal habe ich überlegt, ob ich nicht einfach abhauen, irgendwie in der Natur leben soll. Doch Tiere zu jagen habe ich verlernt und viel Natur gibt es heute sowieso nicht mehr. Trotzdem war ich schon zweimal fast soweit, dass ich losgegangen wäre. Doch dann fiel mir ein weiteres großes Problem ein: Wie sollte ich die Langeweile vertreiben? Ich bin es gewohnt, mir Filme anschauen zu können, Bücher lesen zu können und vor allem: Musik hören zu können. Mit einer schönen, cleveren Frau würde es sich vielleicht in der freien Wildbahn aushalten lassen, doch wo sollte ich eine so wagemutige Frau herbekommen? Es war aussichtslos, ich blieb. Ich ging und gehe weiterhin zur Schule. Hass und Verzweiflung nehmen immer öfter Überhand. Ich bin nett zu Menschen; und höflich, sehr höflich. Doch die für mich unessentiellen Einrichtungsgegenstände meines Zimmers weisen Macken auf, die auf häufige Aggressionsausbrüche hindeuten.
Ich komme nach Hause, habe einen weiteren Schultag hinter mir. Meine Wut gibt grünes Licht. Der Klick auf den Bestellbutton hallt in meinem Kopf wie ein Bombeneinschlag wider.
Vorletzter Tag. Ich mache einen Spaziergang. Es ist ein sonniger Nachmittag; wunderschön, die reinste Wonne. Wenn ich mich jetzt in einer natürlichen Landschaft befinden würde, könnte mir glatt mein Sperma um die Ohren fliegen. Es ist ein ruhiger Tag, der mir den Rücken streichelt und meinen Pelz krault, wie es sich für Tage eigentlich gehört. Ich habe den Eindruck, dass dies die Ruhe vor dem Sturm ist. Ich habe es mir schon gedacht und bin auch froh, diese Vermutung bestätigt zu sehen, dass es noch eine solche schöne Szene geben wird. Das letzte Mal Harmonie. Kurz vor dem Ende zeigt sich die Welt noch ein letztes Mal von ihrer Schokoladenseite und ich spaziere friedlich einen Wanderweg entlang, der mich durch kleine Waldstücke und zwischen Bauernhöfen und Feldern hindurch führt. Natürlich ist auch diese Gegend von Menschen verseucht; Zäune grenzen alles ein, Straßen geben die Richtung vor. Doch an diese Dinge bin ich schon so sehr gewöhnt, dass sie mir jetzt nicht die Stimmung versauen können. Ich habe mir eine Schachtel Zigaretten gekauft, obwohl ich eigentlich Nichtraucher bin. Das musste aber einfach sein. Schaden kann es mir jetzt nicht mehr. Ich stecke mir eine Zigarette an und konzentriere mich ganz darauf, den Rauch einzuziehen. Es hat so was Atmosphärisches. Man kennt es aus Filmen, die Ruhe vor dem Sturm. Bei mir ist es jetzt an diesem Nachmittag Realität. Ein schönes Gefühl. Nachdem ich die Zigarette aufgeraucht habe, komme ich an einer Wiese vorbei, auf der etwa ein Dutzend Schafe grasen. Ich habe gehofft, dass so etwas eintrifft. Denn ich habe vor, mich bei den Schafen für den Vergleich, den ich zu meinen Mitschülern gezogen habe, zu entschuldigen. Ich finde Schafe nicht besonders toll, es sind irgendwie langweilige Tiere. Doch mit derart widerwärtigen Wesen, wie es meine Mitschüler sind, verglichen zu werden, das verdient keine Lebensform auf der Welt. Ich reiße mir die Hose ein wenig auf, als ich über den Stacheldrahtzaun steige. Die Schafe standen bislang friedlich auf der Weide, doch jetzt merke ich, wie sie nervös werden. Sie haben keine guten Erfahrungen mit Viechern gemacht, die mir ähnlich sehen. Ganz vorsichtig nähere ich mich einem der Schafe. Es tritt unruhig auf der Stelle, flieht aber nicht. Als ich bei dem Schaf angekommen bin, lege ich meine rechte Hand auf seinen Pelz. „Entschuldigung“, flüstere ich ihm zu. Das Schaf sieht mich an, ohne die Mimik zu ändern. Wahrscheinlich haben solche Tiere nur diesen einzigen Gesichtsausdruck im Repertoire. Sie tun mir Leid dafür, dass sie einen so guten Vergleich zu den Mitschülerfotzen abgeben. Die Schafe haben sich jetzt an mich gewöhnt. Sie starren mich zwar fast alle an, doch ihre Nervosität haben sie abgelegt. Ich nähere mich dem nächsten Schaf und verfahre wie beim ersten. Ich hauche: „Entschuldigung“ in sein Ohr und wünsche mir zu wissen, was Entschuldigung auf schäfisch heißt. Ich nehme mir viel Zeit für die Schafe, entschuldige mich bei jedem einzeln. Das haben sie verdient und das habe ich mir verdient. Die anderen Schüler sitzen jetzt wahrscheinlich bei ihren Hausaufgaben. Auf der Schafweide steht ein großer Baum. Ich setze mich in seinen Schatten und genieße meinen letzten Nachmittag. In den tiefen Furchen des Stammes steckt mehr Lebenserfahrung als es sich der Bauer, der sich angemaßt hat, ihn einzuzäunen, jemals vorstellen kann. Ich rauche noch eine Zigarette. Es wird meine letzte sein, dann lasse ich auch diesen Unsinn für immer bleiben.
Abends in meinem Zimmer: Ich habe mir noch nie den Schwanz gewaschen. Er sondert einen geilen, derben Gestank ab. Ich ziehe mehrmals die Vorhaut zurück und atme den Gestank genüsslich durch die Nase ein. Diesen Gestank nehme ich mit ins Grab, ein herrlicher Begleiter. Der beste, den ich mir wünschen kann. Es stinkt nach vergossenem, vertrocknetem Sperma, nach ungeborenen Menschen. Ungeborene Menschen sind das Beste, was der Welt passieren kann. Ich überprüfe mein Gepäck für morgen: Zwei Handfeuerwaffen, ein Maschinengewehr, eine Schrotflinte, Munition. Und ein Messer. Danach lege ich mich ins Bett und bin zu betäubt um weinen zu können. Ich schlafe überraschenderweise schnell ein.
Stichtag. Ich ersteche einen Burschen auf dem Klo, mit etwa zehn Stichen in die Bauch- und Brustgegend. Das hat mir Spaß gemacht. Ich beschließe, mich erst mal eine Weile in der Jungentoilette zu vergnügen und warte ab. Nach einigen Minuten kommt ein kleiner Kerl rein, achte Klasse wahrscheinlich. Ich trete von hinten an ihn heran und schneide ihm die Kehle durch, während ich seinen Mund zuhalte um potentielles Geschreie zu dämpfen. Alles ist voller Blut, ich verlasse die Toilette. Es ist gerade Unterricht, die Gänge sind fast leer. Nur ganz vereinzelt sieht man Schüler. Kurz bevor ich meinen Klassenraum erreiche, ramme ich einem vorbeikommenden Mädchen das Messer mit voller Wucht ins Herz. Sie schreit nicht, gibt nur kurz einen Mischling aus Röcheln und Blubbern von sich und krepiert dann sehr schnell. Die Schrotflinte ist dem Führer vorbehalten. Ich platze in meinen Physikunterricht und erschieße wortlos den Lehrer. Dann feuere ich mit der Schrotflinte unplanmäßig aus Lust einen ungezielten Schuss in die Schülermenge. Der Lehrer ist tot, zwei Schüler offenbar leicht verletzt. Die Klasse ist in Panik, viele stürzen sich zu Boden, manche erstarren vor Angst. Zwei oder drei Jungs rennen aus dem Raum, einen davon erwische ich mit meiner rasch hervorgezogenen Handfeuerwaffe. Und mit der erschieße ich jetzt wahllos meine Mitschüler. Nachdem einige krepiert sind, wollen alle aus dem Raum raus und ich gehe noch einmal abschließend mit dem Maschinengewehr drüber. Ein paar Fotzen sterben auf dem Fußboden und ich ziehe meine zweite Handfeuerwaffe. Eigentlich wollte ich warten bis die Bullen da sind und einige von ihnen mitnehmen, doch ich kann nicht mehr. Ich verzweifele irgendwie an dieser eigentlich von mir herbeigesehnten Situation. Ich habe das Gefühl, dass es scheiße ist. Ich habe mir das Unternehmen ganz anders vorgestellt. Aber egal. Ich lade die Handfeuerwaffe durch und verpasse mir selbst einen Kopfschuss. Das wär’s.