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Katja Buschmann: Lebenslauf 

Da hockste nun, Stolperer, zusammengekauert auf deinem Sofa vom Sperrmüll, am unteren Ende der Gesellschaft und lässt dir erklären, dass das so nicht geht.
„Hab ich mir schon gedacht“, antwortet Stolperer der sanftstimmigen, aber bestimmten jungen Frau mit den strengen grauen Augen, die ihm nun schon seit geraumer Zeit helfen soll, „ins Leben zurück zu finden“, dabei kann er sich kaum  erinnern, jemals dort gewesen zu sein. Aber jammern gilt nicht, damit ist schließlich keinem geholfen, nicht mal Stolperer selbst. Meint die fürsorgliche Frau von der Z.I.E.L.-Beratung – Zurück ins eigene Leben. Stolperer: „Ich pflege nun mal einen liebevollen Umgang mit mir selbst, auch wenn Sie glauben, dazu bestehe kein Grund.“ Sie heißt Judith Richter. Er nennt sie Judy. Natürlich nur insgeheim.
Stolperers Einkommen mag für Nudeln ohne Soße reichen (Pasta Niente, wie er es nennt), für Kartoffeln mit Quark oder Grießbrei mit manchmal Apfelmus. Bier, sicher. Spirituosen im Angebot, ab und an. Die kleinen Freuden des Alltags, und etwas anderes als Alltag kennt Stolperer nicht. An manchen Tagen bedauert er das, mit sehnsuchtsschwerem Blick und lauten Seufzern. An anderen nennt er sich „genügsam“, seinen Lebensstil „anspruchslos“ und kommt klar. Trägt mit falschem Stolz olle Synthetik-Pullover, vorzugsweise in dunkelblau,  ist ja seine Farbe, wegen der Augen.
Aber auskommen kann man mit so einem Einkommen kaum.
„Herr Stolperer, ich muss sagen, ich bin ein wenig enttäuscht. Wir sind uns doch einig gewesen? Dass Sie bis heute Ihren Lebenslauf überarbeiten?“ So spricht Judy, die Unerbittliche, das Organisations-Monster mit der Erfolgsbilanz und der Intelligenzlizenz.
Stolperer, leicht verlegen: „Mein Lebenslauf befindet sich sozusagen noch in der Entwicklung. Ist noch nicht ganz ausgereift. Außerdem hab ich nix zum Schreiben.“
Vorwurfsvoll hebt Judith Richter ein Blatt Papier vom Tisch auf und hält es zwischen ihren manikürten Fingern vor ihm in die Luft. „Und was ist damit?“
„Ich dachte, handschriftlich is nich mehr?“
„Wenn Sie mir ausnahmsweise mal zugehört hätten, anstatt im Selbstmitleid zu versinken, wüssten Sie bereits, dass es bei uns im Z.I.E.L.-Punkt mehrere Computer gibt, wo Sie den vorbereiteten Lebenslauf nur noch abtippen müssen. Völlig unkompliziert. Ich wollte bloß vorab schon mal einen Blick darauf riskieren und Ihnen ein paar nützliche Hinweise geben.“
„Hinweise für meinen Lebenslauf? Ich schätze ja Ihre Ambitionen, doch leider können Sie da rückwirkend definitiv nichts mehr dran ändern.“
Judith Richter greift nach ihrer cognacfarbenen Kunstledertasche und wirft sie mit Schwung über die Schulter. „Auf Wiedersehen, Herr Stolperer. Mehr kann ich momentan nicht für Sie tun. Jetzt sind Sie an der Reihe. Machen Sie was, egal was, nur fangen Sie endlich damit an. Und vergessen Sie nicht: Sie sind jederzeit bei uns willkommen.“ Sie presst sich ein letztes Lächeln heraus (ein echter Profi, denkt Stolperer) und flieht energischen Schritts aus der bedrückenden Enge der Sozialwohnung. Stolperer bleibt auf dem Sofa sitzen und begafft die Risse an der Wand. Er erkennt kein Muster.

Mal wieder außer Atem geraten, mal wieder ohne Rücksicht auf entwöhnte Lungen rennen. Müsste man mal machen. Aber mit den Träumen sind Stolperer die Ereignisse abhanden gekommen und mit den Ereignissen die Selbstverständlichkeit des Tätigseins. Unendlich, unerreichbar fern scheint ihm der Tag, an dem er morgens aufgewacht ist und gewusst hat, was zu tun ist. Nun gibt es nichts mehr zu tun, nicht für ihn. Wenn es aber nichts zu tun gibt, gibt’s auch nichts zu essen. Ein Dilemma? Ein Dilemma.
Stolperer sitzt auf dem Sofa und friert. Denkt: Jemand müsste sich um die Heizung kümmern. Gegen die Kälte schützt er sich mit einer verschlissenen braunen Decke, einem dürftigen Ersatz für das dicke Fell, das er so dringend nötig hätte.

Das Letzte, woran er sich erinnern kann, ist die Zeit als  Bademeister im örtlichen Freibad. Nicht unbedingt das  alleraufregendste, das er sich mal erträumt hatte, aber auch bei weitem nicht das Schlechteste. Eigentlich – nur ist es mittlerweile in allgemeine Vergessenheit geraten, verjährt gewissermaßen - ist er ja Intellektueller mit beinahe akademischen Abschluss und Aussicht auf bezahlte Erkenntnis. Nun betreibt er bestenfalls realphilosophische Betrachtungen des Alltäglichen. Das Leben hat anders entschieden und vielleicht, ja vielleicht hat er sich zu wenig dagegen gewehrt. Immerhin, auch als Bademeister sagt man den Leuten, was richtig und was falsch ist - vom Beckenrand springen zum Beispiel. Er erinnert sich gerne daran: an dieses spezielle Aroma aus Chlor, Frittierfett und Sonnenmilch, an den Anblick der unberührten blauen Fläche am Morgen eines heißen Tages, das Stimmengewirr, die vielen verschiedenen Besucher mit ihren Ideen für den idealen Sommertag, ausgelassene junge Menschen und vor allem Mädchen, allesamt halbnackt, was für ein Arbeitsplatz. Wer hatte schon das Glück, diese eigenwillig schöne Melancholie eines Freibads im Regen zu erleben, wenn es nichts zu tun gab, als unter dem Sonnenschirm dem lebhaften Hüpfen der Tropfen zu lauschen und mit Heinz von der Pommesbude Pommes zu futtern, Bier zu trinken und Karten zu spielen. Hin und wieder die Augen mit einem Blick auf das beruhigende Grau zu verwöhnen, auf diese beeindruckend übermächtige Präsenz von Wasser, diese Potenz des Wassers. Und als Krönung eines langen Tages abends selbst ein paar Bahnen zu schwimmen, bis man sich angenehm ermattet auf dem Rücken treiben ließ, so herrlich unbedeutend unter sternfleckigem Himmel. Es waren diese Momente gesättigten Lebens, die ihn für alles entschädigten, für all die Mühen der vergangenen und kommenden Monate; Momente vollkommener Gegenwart. Dann kam der Winter und da er nur als Saisonkraft eingestellt worden war, die lange Zeit daheim.

Seitdem betrieb Stolperer sein Leben als Katastrophenmanagement. Darin war er nicht besonders gut. Gib dem Mensch nichts zu tun und erkenne seinen wahren Charakter. Erst hatte Stolperer nichts zu tun gehabt, dann tat er nichts mehr. Je weniger er tat, umso müder wurde er. Die menschliche Natur kam seinem Willen stets auf ungünstige Weise zuvor. Daraufhin kam das Amt mit allerlei Angeboten, dann Judith Richter mit ihren gutgemeinten Vorschlägen und dynamischen Ideen vom menschlichen Leben. Nur kollidierten die mit Stolperers Vorstellungen vom menschenwürdigen Leben. Sie aber wollte bloß helfen und er, ja, er hatte Hilfe nötig.

Mensch, Stolperer, wieder mal draußen, wieder auf der Straße. Alles falsch gemacht oder endlich alles richtig? Er befindet sich tatsächlich auf dem Weg in Richtung Z.I.E.L. Als er den Platz des Friedens überquert, fällt ihm ein, dass der mühsam entworfene Lebenslauf in der Tasche seiner Winterjacke steckt. Die liegt unnütz zu Hause. Konnte ja keiner ahnen, dass gerade heute Frühlingsausbruch sein würde. So ein Pech, nun ist Stolperer bereits viel zu lange unterwegs, um einfach umzukehren. Es gibt kein richtiges Leben ohne Falten, denkt er und zwinkert der Sonne zu. Der Wind streichelt sanft sein Haar, tätschelt seine Wange. Die Sonne muntert ihn auf, ermuntert ihn zu bleiben, wo er gerade ist.
Stolperer sucht eine Bank, will ausruhen von diesem langen Leben. Will sich ausklinken aus der Zeit, will interesselosem Wohlgefallen nachgehen. Denkt: Es gibt kein richtiges Leben.  
Stolperer bleibt lange sitzen, betrachtet die Umgebung im wechselnden Licht des schwindenden Tages und geht heut nicht mehr heim.

Am Tag darauf muss er Schlaf nachholen. Am Tag danach schafft Stolperer es bereits bis in die Kneipe gegenüber vom Z.I.E.L.-Punkt. Hat Pfandflaschen gesammelt und deshalb ein paar Münzen in der Tasche, die tauscht er jetzt gegen ein Bier. Durchs Fenster lässt sich prima das Geschehen nebenan beobachten. Was sind das für Leute, die da ein und aus gehen? Der Wirt heißt Dieter und macht grad Pause, muss auch mal sein. Das tut er nicht gern allein und hockt sich zu Stolperer an den Tresen. Verfolgt dessen Blick. „Assis, Junkies, Geisteskranke – der versammelte Abschaum“, kommentiert er ungefragt Stolperers Gedanken. Der wendet sich ab. Dieter bricht in schallendes Gelächter aus, legt ihm brüderlich die Hand auf die Schulter. „Na, so schlimm ist’s nicht. Ganz vernünftige Leute dort, ich mag die kleine blonde Sozialpädagogin.“ Stolperer schweigt. „Ab und zu schauen welche von drüben hier vorbei, die eine oder andere Geschichte im Gepäck. Ich hör ja vieles, aber da haut’s dich aus den Socken: was die dir für Stories auftischen! Nix erfunden, alles selbst erlebt. Vor’n paar Jahren haste noch ohne schlechtes Gewissen gesagt: Die haben eh keine Chance. Aber heute? Sieht’s ganz anders aus. Sind ja zum Teil gebildete Leute mit langjähriger Erfahrung und allem drum und dran, da staunste bloß. Aber Sicherheit, wo gibt’s die noch? Darfst dich eben nicht zurücklehnen und drauf verlassen, dass es von selber läuft. Sonst hätt ich den Laden hier längst dicht machen können. Nächsten Monat feiern wir Zwölfjähriges. Uns ging’s vielleicht auch mal besser, aber wem ging es das denn nicht.“ Er lacht erneut, muss sich aber mehr anstrengen als beim ersten Mal. Dann stellt er vor sich und Stolperer zwei neue Bier.

Wieder im Freien. Worauf warten? Auf die passende Gelegenheit. Die blonde Sozialpädagogin tritt aus dem Gebäude und lächelt Stolperer aufmunternd zu. Er schaut weg. Fühlt sich nicht mehr nüchtern genug, um sich den Tatsachen zu stellen. Morgen, vielleicht. Erstmal nach Hause. Auf dem Weg dorthin begegnet er pöbelnden Jugendlichen, die gegen eine Parkuhr treten, und kann es verstehen. Auf dem Sofa rollt er sich zusammen, ganz klein, und schläft sofort ein. Erschöpft von allerlei enthemmten Sexträumen wacht er am Abend auf. Schlafen zwecks Herstellung größtmöglicher Distanz zur Realität, konstatiert Stolperer und schmiert sich Butter aufs Brot.

Am nächsten Morgen steht er absichtlich so früh auf, dass sein Geist noch in träger Reglosigkeit verharrt, und schleppt sich zum Z.I.E.L. Es ist kalt genug für die Winterjacke, zum Glück. Heute ist ein großer Tag, findet Stolperer, als er ergebnislos an der Tür zieht, auf der ein Schild mit dem Wort „drücken“ klebt. Wärme schlägt ihm entgegen und Kaffeegeruch, er befindet sich in einem schmalen Raum, eingeklemmt zwischen Wänden in anregenden Farben. Die kleine Blonde ist nicht da, Judith Richter hingegen schon. Hellwach und freudestrahlend kommt sie ihm entgegen: „Guten Morgen!“
„Tach.“
„Schön, Sie hier begrüßen zu dürfen. Es geht um Ihre Bewerbung? Zeigen Sie mal, was Sie dabei haben!“
Stolperer kramt einen eng bekritzelten, leicht lädierten Zettel hervor und reicht ihn ihr widerwillig. „Hm, hm.“ Judys Augen fliegen eilig hin und her, bevor sie zu einer Diagnose ansetzt:
„Also, das klingt soweit ganz in Ordnung, aber einiges müssen wir noch ein wenig, nun ja, zurechtstutzen. Das Feintuning, um es mal so auszudrücken.“ Sie zwinkert ihm zu, Stolperer ist es unangenehm, schließlich sind sie keine Kumpel. Ein Faust-Zitat schießt ihm in den Schädel: „Ich hätte Lust, nun abzufahren.“ Judith Richter bittet ihn, sich zu setzen, öffnet allerlei Schubladen und ist sehr beschäftigt. Stolperer untersucht die Umgebung. Niemand hier trägt Hausschuhe, wovon er aus irgendeinem Grund überzeugt gewesen ist. Seine Augen gleiten an Judith Richters Beinen herunter, die in schicken Stiefeln stecken. Ein paar Meter von ihm entfernt sitzt ein bärtiger, älterer Kerl, dessen schmutziggraue Locken unter einer bunten Mütze hervorquellen, und starrt ungläubig auf einen Bildschirm. Mühsam und mit nur einem Finger tippt er vor sich hin, zwischendurch bleibt sein Blick immer wieder am Fenster haften. Währenddessen jagt Judith Richter blitzschnell über die Tastatur ihres Laptops. „So, Herr Stolperer, jetzt zu Ihnen. Das hier“, sie malt mit dem Zeigefinger einen imaginären Kreis auf das Papier, „würde ich rausnehmen. Das auch. Einen potentiellen Arbeitgeber interessiert so etwas heutzutage nicht mehr. Die Bemerkungen bezüglich Ihres Freizeitverhaltens halte ich ebenfalls für irrelevant. Damit schaden Sie sich bloß. Schreiben Sie nicht: arbeitslos seit. Viel zu passiv! Wichtig ist, was sie getan haben. Zu Hause auf dem Sofa gehockt und auf bessere Zeiten gewartet? Lassen Sie sich was Besseres einfallen. Ach, und würden Sie mir bitte helfen, diese Stelle zu entziffern? Was soll das heißen, Rädergetriebe?“
„Nein“, antwortet Stolperer langsam, „es heißt Bäderbetriebe. Fachangestellter für Bäderbetriebe. Schwimmmeistergehilfe, Sie verstehen.“
„Ach so, ja, natürlich. Meinen Sie, das sollten wir so stehenlassen? Wofür waren Sie denn genau zuständig? Mal sehen, was wir da rausholen können…“. Träumerisch fixiert sie sein Bleistiftgekritzel. Unglaubliches scheint sich vor Ihrem inneren Auge abzuspielen. Eins muss Stolperer ihr lassen: Die Frau hat Fantasie.
„Frau Richter, hören Sie. Ich habe Menschen beim Baden beobachtet. Kindern das Schwimmen beigebracht. Den Rasen gesprengt, die Becken gereinigt und die Anlagen gewartet. Ich weiß nicht, was genau Sie da rausholen wollen. Ehrlich gesagt, ich halte diese Arbeit für ausreichend bedeutsam. Sie ist ein unverzichtbarer Teil meines Werdegangs, genauso wie die Arbeitslosigkeit und der ganze Kram davor, danach und dazwischen. Ich schäme mich nicht. Im Gegenteil: je länger ich Sie so reden höre, umso mehr lerne ich es zu schätzen: mein Leben. Für Sie mag das eine wirre Ansammlung angefangener, abgebrochener und notgedrungen ausgeübter Tätigkeiten ohne Sinn und klare Linie sein. Für mich ist es mehr als das, denn ich war bei all dem dabei. Sicher, ich habe Fehler gemacht, Probleme gehabt. Habe ich immer noch und den Sinn, den gibt’s auch für mich nicht gratis dazu. Meistens ist es harte Arbeit. Aber bitte erzählen Sie mir nicht, wie es gewesen ist oder gewesen sein könnte oder gewesen sein sollte. Ich weiß, Sie wollen bloß helfen. Wie alt sind Sie? 25? 26? Ich bin doppelt so alt. Natürlich reicht das nicht als Argument. Es macht mich nicht zwangsläufig klüger oder weiser als Sie. Mag sein, dass Sie für diese ungeheuerliche Gegenwart besser geeignet sind als ich. Besser gerüstet in jedem Fall. Doch das gibt Ihnen kein Recht, mich zu ver-, ja nicht mal zu beurteilen. Sagen Sie nicht, es ginge bloß um Formalitäten, um die Anforderungen des Arbeitsmarktes. Für mich geht es um meine Biografie und ich bestehe auf deren Richtigkeit. Ich werde mir weder von Ihnen, noch von irgendeinem potentiellen Arbeitgeber die Deutungshoheit über mein Leben entreißen lassen. Das habe ich viel zu lange getan. Ich habe geglaubt, was man mir, was man uns allen über Leute wie mich erzählt hat. Und schlimmer noch: ich habe mich entsprechend verhalten. Doch das ist vorbei. Ich danke Ihnen. Dieser unerhörte Aufruhr in mir – ich wusste nicht, dass ich dazu noch fähig bin.“
Während sich die Worte ihren Weg in die Freiheit bahnen, ist  Stolperer von seinem Stuhl aufgesprungen. Judith Richter nickt mechanisch und sucht krampfhaft nach dem passenden mimischen Ausdruck, aber ihr will keiner einfallen. Stattdessen beginnt sie, die Akten auf dem Tisch zu ordnen. Stolperer greift nach dem Zettel mit seinen Notizen und verabschiedet sich. Draußen läuft bereits das tägliche Programm. Stolperer blickt sich kurz um. Dann beginnt er, mitten in der Fußgängerzone – zu rennen, bis seine Lungen brennen; so lang, bis er nicht mehr kann.