Therese Degen: Der Gong
Der Musiktherapeut mit den kritisch über alle Maßen erhobenen Augenbrauen, ein musternder Mensch, ließ die Gruppe warten und Beine vertreten. Lucy erfuhr Langeweile....vor der Türe stehen, denken, lauschen, was andere fühlen. Allein unter Menschen kannte sie die Regeln des sozialen Spiels nicht besonders gut, sie waren ihr unanwendbar, die Peinlichkeiten unentrinnbar. Das Herz hatte den Rhythmus der bewegten Umwelt nur schwer übernommen.....schreiend weglaufen, wegblicken mindestens, oder das Gesicht einpacken in Tücher, verhüllen, einlullen, ein schrilles Schlaflied gesungen bekommen, vertraut und unheimlich.
"Anorexia Nervosa", ihr Gegenüber, blickte weniger irritiert, sprang auch nicht von einem aufs andere Bein....rationalistisch erörterte sie im beobachteten Dialog mit sich selber das Familiengespräch, das ihr heute nachmittag bevorstand. Als Kind sei sie gar mal übergewichtig gewesen. Irgendwer kommentierte in den Raum hinein...das sei doch ganz typisch oder zumindest oft zu beobachten. Dann wurden "Raus-aus-der-Angst-Bücher" verteilt und Spruchweisheiten abgeklopft.
Tamara, die neurologische Humplerin mit freundlicher Anmutung und Annäherungsfähigkeiten sprach sogar mit Lucy, über die Wahrscheinlichkeit, doch eine organische Krankheit zu haben und über die Ungewissheit. Sie suchte Blickkontakt; aber entweichen war Lucys Profession. Sie hätte gerne rückwärts geantwortet, Geburtstage herausgeschrien, oder den Regen auf die Zunge britzeln lassen, Rauschgift und Brause...Hauptsache, keiner wollte sie umarmen. Das monumentale "Blubb" der Krankenhausküche nebenan erinnerte an gnadenlos archaische Spinatwerbefilme und gab dem "Treffen" die Aura von Unendlichkeit.
Verharren wäre das kleinere Übel gewesen, den Moment festhalten, selbstbestimmt Bewegungen ausführen; doch der Lärmer und "Augenbrauen-Hochzieher" mit den sadistischen Neigungen wehte und winkte bereits von Ferne mit den Schlüsseln und war zu Hause bestimmt ein großer Türenknaller. In einer Manie, die an "Reise nach Jerusalem" erinnerte, griff wer konnte schnell noch einen Stuhl und wer es nicht wagte, stand irritiert wie Lucy oder besetzte die Fensterbank. "Na, Frau Gerber, brauchen wir heute wieder länger?" - "Ich...ich überlege grade...ob...." - "Sie überlegt...na schön...wir fangen jedenfalls schon mal an." Gelähmt stand sie, andere nickten angepasst, lachten ein wenig wieherisch, rückten die Stühle unerträglich.....die "Anorexias" sahen sie vorwurfsvoll an.
Dann war Blitzlicht...man schien nicht mehr zu realisieren, dass sie noch stand. Unsere 15 Sekunden Ruhm dachte ein jeder...und man begann der Reihe nach zu erzählen, was für Fortschritte man glaubte gemacht zu haben, was die Gefühle und Ängste waren und...so formulierte man es immer... was für eine Musik es war, die momentan in einem spielte. Tamara erzählte etwas von schleppendem Rhythmus und Paukenschlägen, Lucy dachte dabei an eine Szene aus ihrer Kindheit als ihre Ergotherapiestunde von einer nebenan probenden Guggenmusik-Gruppe gestört wurde, sie die Bauklötze panisch an die Wand schmiss und ihrer Mutter die Tränen liefen; das salzige Wasser, das einem manchmal aus den Augen lief war ihr ein wenig fremd....nur die Angst, die Enge und die Schreie kannte sie und den Wunsch, den Kopf gegen die Wand zu hauen. Wann hatte man ihr eigentlich beigebracht, das nicht mehr zu tun? Inzwischen sprach Anorexia.....den Blicken der anderen wäre Respekt anzusehen gewesen, hätte man sie deuten können. Sie sprach über ihre wunderbaren Erfahrungen bei "Jugend musiziert" und der Ehrgeiz fand die Bewunderung des Meisters...man mochte die tödlich fanatische Energie, nur die hilflos ungestüme, die ungerichtet archaische war zu unterdrücken. Unsere ungebändigte Patientin hatte sich neben den Instrumentenschrank verzogen und spielte "blinder Fleck" - man weiß nicht, ob sie hoffte, nicht entdeckt zu werden.
Für einen Moment sah es aus, als hätte man sie tatsächlich vergessen und da der nächste Programmpunkt schon geplant war, bevor man ihrer gedachte, waren ihre 15 Sekunden Ruhm von Geräuschen des "Instrumente-Suchens" der Anderen eingehüllt; schrill und bemüht richtete sich ihre Stimme gegen die fremde Lärmfront und sprach scheinbar zusammenhanglos von unerträglich lauten Jackenstoffen und Kieselsteinen unter High-Heels in marmorbödigen U-Bahn-Haltestellen; in dem Moment, in dem es um Peter Härtlings "Hirbel" und dessen Schmerzen ging, um das beruhigende Schmatzen und Schwatzen von Schafen, um das Tippen der Schreibmaschine ihrer Mutter, das Schlaf erst möglich machte, wollte ihr keiner mehr folgen und der Obermusikmacher nickte genervt, um ihr im nächsten Moment grausamst vor Gesicht zu führen, dass sie ja nun nicht die Wahl gehabt hatte und ihr darum statt der üblichen Klangstäbe nichts übrig blieb, als den riesigen Gong zu bedienen. Es war das Ziel der nächsten Übung, dass man zunächst einmal planlos-individuell auf sein Gerät einzuhämmern habe. Im Idealfall sollte dann durch zunehmendes Lauschen auf sein Gegenüber oder seinen Nebensitzer im Stuhlkreis ein kommunikatives Miteinander entstehen, eine Harmonie im gemeinsamen lauter und leiser Werden.
Im Klappern der Rasseln im Rauschen der "Regenmacher" konnte Lucy für einen Moment noch leidend verweilen, da sie kein Teil des Kreises war und vorübergehend übersehen wurde. Fast ein wenig genußvoll hätte man sie erleben können, wenn man sich um sie bemüht hätte. Die langen unförmigen Kinderfinger, das Gesicht das nicht erwachsen geworden war, all das war für einen Moment frei und unabhängig und sie freundete sich ein wenig mit ihrem Instrument an. Geräusche mochte sie zwar nicht aktiv provozieren, aber die kühle Bronze schien das Tonbild des Zimmers in angenehmerer Weise zu reflektieren und es gelang ihr, sich völlig auf diesen Resonanzraum zu konzentrieren, indem sie ihre Backe fest gegen den Gong gepreßt hielt.
"Frau Gerber, nun müssen Sie uns aber mal erklären, was Sie da machen".....unterbrach Sie jäh der Oberst........"ich dachte wir hätten schon einmal darüber gesprochen, dass ihre Integrationsfähigkeit zu wünschen übrig läßt....kommen Sie mal lieber in die Runde, sonst werden sie noch ganz asozial".
Lucy hatte schlechte Erfahrungen mit Stuhlkreisen und sehnte sich zurück nach einer nie da gewesenen Zeit wo sie noch wildern konnte, sich drehen bis sie fast in Ohnmacht viel und bei Regen so lange sie wollte im Garten sitzen. Die meisten Menschen mochten den direkten Kontakt mit Regen nicht und jeder verstand - sie mochte Stuhlkreise nicht und keiner gab nach. Immerhin....neben Tamara sitzen.....und neben "Meister Proper", dem Glatzkopf mit der Magen-Darm-Somatisierung und dem Helfersyndrom. Das Geklunker und Geklacker ging dann weiter, für normale Ohren noch gut an der Grenze, für "Sonderohren" eine arge Folter. Wieder gelähmt konnte Lucy nur in sich versunken dasitzen und den etwas zu lang geratenen Nagel des linken Zeigefingers tief in die Haut des rechten Unterarmes Bohren. Die Wut kroch langsam hoch in ihr...der Vulkan drohte überzulaufen. Konnte man sie nicht in Ruhe lassen? Sie, in den Anden, frei wie ein Lama.....oder ein Vogel mit Schwingen, der die Lüfte schnitt. In der Gruppe war man froh über die Geräuschharmonie die entstanden war...Lucy merkte nichts davon, für sie klang der ganze Raum kalt, uneben, nach ausgerutschter Kreide auf der Tafel und sie hatte ihrem stabilen Resonanzraum den Klöppel immer noch nicht zugemutet.
Der Stuhlkreis wollte nun unter Anleitung des Musikus die menschliche Errungenschaft "Kommunikation" auf eine neue Ebene befördern und das allein mit musikalisch-lärmintensiven Mitteln. Möglichst gleichberechtigt und gewaltfrei sollte es zugehen. Jeder durfte einige Töne und Geräusche anschlagen und dann jemand anderen ohne Worte, nur durch Augenkontakt um instrumentale Antwort bitten.
Das ging ungefähr so: Tack Tack Tack? - Schschschschsch - Dubdedubdedubdedub - Dumm Dummm Dumm...... Nur das Dong Dong blieb aus....immer noch nur das leise Flüstern, die stille resonante Reflexion....hätte sie nicht den Kreis gestört mit einem heftig ungeschlachten, alles übertönenden Schlag....war es nicht wie immer....jeder mit Engelsstimmen, nur Lucy nicht.....eine Welt voller Prinzessinnen sanft, galant...dazwischen das häßlich unangepaßte Etwas, das sie war... das Katzenschreierchen. Auch wollte man ja nun wohl nicht mit ihr sprechen, weder ohne noch mit Worten....schüchtern oder arrogant ging man je nach Charakter über sie hinweg....das Xylophon flirtete mit der Conga und säuselte ihr etwas zu, diese gab etwas rauher den Ton an und versuchte "Anorexia" mit den scheinbar bescheidenen Klangstäben zu umschmeicheln.....höflich tauschte man gefahrlos Nettigkeiten aus....wenn man sich gut kannte konnte man sich musikalisch auch necken, in ein quirliges Hin- und Her übergehen. Da war jeder Mensch, jeder Patient auf einmal resonant, wie der Gong, der tonhaft verändert die Worte des anderen aufgreift, imitiert und zurückschickt, der auf andere eingehen kann. Das war höflich, das war die Gelassenheit der automatisierten Kommunikation, das war die Entlastungsfunktion des Wischi-Waschi.
Was aber macht nun unser Kind, das die Spielregeln nicht beherrscht? - Es tritt wieder den Rückzug an, es entzieht sich still, versinkt in eine Welt ohne unkontrollierte Töne, ist alleine und doch umringt von Gestalten, die immer mehr zu nichts, zu Gegenständen verfallen. Sie langweilt sich, tief und unendlich als die Angst verschwunden ist..."schlag einen Purzelbaum" meinte Stiefuroma immer zu ihr in solchen Momenten...von "Skills Training" sprechen ihre Therapeuten, wollen ihr helfen, sich nicht weh zu tun. Wenn das Leben nur ohne Verletzungen wäre. Ihre Augen, die nun losgelöst von der Welt konzentriert und sicher nach Entlastung suchen, finden Hilfe an einer rauhen, unbearbeiteten Stelle an den Außenrändern des Gongs. Mitten im Gewusel der Kommunikation, an dem sie nicht teilhat, schürft sie genußvoll langsam Schicht für Schicht die Haut an der Innenseite des rechten Unterarms ab, die sowieso nicht schützt. Sie gleitet und fällt in einen sicheren luftleeren Raum. Dann rafft sie sich, packt den monumentalen Klöppel aggressiv zwischen die etwas zu langen ungeschlachten Kinderfinger der linken und haut ihn mit einer solchen Wucht auf das Instrument, dass die ganze Welt nur Schweigen ist. "Ich habe die Kraft und die Macht" denkt das Kind und steht da, gemustert von den kritischen Augenbrauen und abschätzigen Rümpfnasen, den gestressten Blicken die es sehen, das verwundete Tier, gefallen mitten in der menschlichen Alltagsjagd, blutig verzweifelt und doch wenig hilfsbedürftig mit einer Kraft, die man nicht einordnen will.
Am nächsten Tag wird sie entlassen, nach dutzenden therapeutischen Zurechtweisungen und Erklärungsversuchen. In der Tasche trägt sie die schwere Überweisung für die psychiatrische Klinik...hier könne man ihr nicht mehr helfen heißt es.....sie wird weiterkämpfen müssen, um das Salzwasser in den mütterlichen Augen zu vermeiden.....das sei Schmerz, hat ihr mal jemand erklärt. Sie bemüht sich, die Klinik zu verlassen, ohne dass sie jemand sieht, oder ihr noch mal Tipps geben kann. Als die waldreiche Strecke an ihrem Zug vorbeifliegt, klopft sie im einsamen Waggon auf ihren von Wasser aufgedunsenen Bauch. Es macht: pflock....pflock. Lucy wünscht sich, ein Gong zu sein.