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Peter Kapetanovic: Charlie 

Der alte Mann sagte mir, er wüsste von nichts. Da gäbe es gar keine Möglichkeit, auf Auskunft sei heute nicht zu hoffen, zumindest nicht von ihm. Das erstaunte mich. Ich bin weit gegangen, vielleicht nicht so dramatisch weit, dass man von einer Lebensaufgabe sprechen konnte, aber immerhin. Ich habe Bergkämme überschritten, Furten durchquert und was man nicht sonst alles auf so einer Reise üblicherweise tut, bin unterwegs in Gehöften eingekehrt, habe die Bauern kennen und schätzen gelernt und was meine Nahrungsmittel angeht, war vorher oft unklar, wer dann am Ende nun wen verspeisen wird. Oder so. Den Rest der Reise
habe ich in einem alten klapprigen Bus verbracht, Linie 29, Endhaltestelle ein altes kleines vollgespraytes Häuschen im Niemandsland. Ein Zeitungskiosk, Mietskasernen. Und der alte Mann in seiner Wohnung, verrostete Heizkörper, Glühbirnen an der Decke und all der Krempel.
Im Jogginganzug auf dem Sofa fläzend, ein kahlrückiger Hund neben ihm, ein Spuckeimer zur Linken, zwei Vögel im Käfig. 3 Engel für Charlie auf einem alten Nordmende Fernseher.
„Naja, die haben mich zu ihnen geschickt, sie müssen doch etwas wissen“– „Also zu
der Sache? Nein, beim besten Willen nicht. Aber vielleicht gehen Sie erstmal mit meinem Hund eine Runde vor die Tür, der muss dringend und ich komm nicht rauf.“Also den Hund angeleint, raus in den schäbigen Park. „Mensch, Charlie, was haste Dir denn da für nen Vogel angelacht?“– ein paar Obdachlose begrüßen den Hund. Der rennt und wuselt, schnuppert und macht und ich hab Angst, dass er mir durchgeht, aber im Park wollte ich ihm den Gefallen tun und ihn ohne Leine laufen lassen. Keine gute Idee? Doch, da ist er wieder. Will nach Hause, ist auch nicht mehr der Jüngste. „Krebs hat er, im Endstadium, der machtet nicht mehr lange“.
Der alte Mann dankt höflich, will mir ein Pils einschenken, ich lehne ab. „Während Sie weg waren, habe ich noch mal telefoniert. Nichts Neues, es scheint, sie sind an der falschen Adresse angelangt. Ich kann ihnen nicht helfen, nichts zu machen.“– „Nun, aber wenn sie doch eben telefoniert haben, was hat man denn gesagt?“„Die wussten schon, dass sie kommen würden, aber die hatten mich vorher nicht informiert. Man hat sie wohl einfach auf gut Glück losgeschickt. Wollte man Ruhe von ihnen haben?“Grinsen. „Ich weiß es nicht, der Weg war nicht angenehm mit all den Gebirgskämmen und Furten und den Gehöften und diesen Dingen.“„Jaja, man kennt das. Kommen Sie direkt von der Zentrale?“„Im Grunde schon.“„Naja,
wennse schon mal hier sind, wann müssense denn wieder zurück?“„So sehr eilts nicht, aber allzu lang darfs auch nicht sein, soviel Geld habe ich auch gar nicht mehr.“„Hier könnense nicht übernachten, sie sehen ja selbst wie es hier aussieht, nehmen sie sich ein Zimmer in der Stadt und kommense morgen wieder. Uhrzeit ist egal. Vielleicht weiß ich dann mehr. Und der Hund freut sich.“.
Also in die Stadt mit dem schweren Rucksack. Hat der Mann ihn durchsucht, während ich mit dem Hund unterwegs war? Völlig egal, war eh nichts drin außer dreckigem Zeugs. Sieht aber auch nicht so aus. Zimmer sind zum Glück günstig. Mit Dusche und Frühstück, man ist angekommen – Waschmaschine im Keller nach Münzeinwurf benutzbar, super. Abendesse in einer Bude, irgendwas Kartoffelähnliches in Brot, dazu scharfe Soße und ein Bier aus Pappbechern.
„Sorry, was machen Sie denn bei uns? Noch nie gesehen hier!“Neben mir ein kleiner,
dicker Mann mit einem Schnurbart und einer Pudelmütze. „Nee, bin auf der Durchreise.“„
Hier reist normal keiner durch.“„Doch, auch diese Stadt liegt auf irgendwelchen Geraden, die irgendwie die direkte Verbindung zwischen irgendwas darstellen“, erläutere ich schlau. Das leuchtet meinem Gegenüber ein. Nach einigem Nachdenken: Stimmt, so kann man das sehen. Trotz all der Furten und Gebirgskämme.“Ich merkte, er kam von hier oder kannte sich aus. „Sind sie heute mit dem 29er gekommen?“„Ja!“„Komisch, ich habe sie gar nicht aussteigen sehen, habe nämlich auf meine Tante gewartet, die kommt immer Donnerstags
von den Hügeln.“„Ich war ungewaschen und hatte einen dicken Rucksack.“Wieder
denkt der Kugelige kurz nach, und wieder scheint er nach einigem Abwägen überzeugt. Er bestellt zwei Bier, eins für mich: „Hier nehmen Sie. Wenn Sie Lust haben, zeige ich Ihnen heut abend ein bisschen die Stadt. Ich kann Ihnen sagen, wo noch was los ist.“. Naja, warum nicht. Also vorbei an Mietskasernen, alten Tankstellen und verdreckten Grünflächen zu einer kleinen Bar, genauso gammelig wie die Bude gerade. „Ich zeig Ihnen mal die Damen hier, das sind alles meine Freundinnen“Schlager aus der Musikbox, dazu Flippergedudel und irgendwann
um 4 Uhr morgens voll wie ein Amtmann ins Bett.
Nach dem Aufwachen dennoch eine recht erfreuliche Schadensbilanz. Ich muss mich ziemlich aushalten lassen haben, kaum Geld weg, Kater noch erträglich. Heimweg nicht mehr erinnerbar, das ist allerdings nicht gut. Waschen, rasieren, zum Frühstück ists zu spät. Klopfen an der Tür. Hier ist ne Botschaft für sie. Zettel auf Silbertablett, wie im Film. Botschaft wie folgt „Übermorgen zurück. Bericht notwendig.“. Tja, also zurück in den Vorort, beim alten Mann klingeln. Der Hund kommt mir bellend entgegen, die Leine im Mund, erste Tat damit schon klar. Mittags ist er offenbar noch fitter, halbe Stunde Parkspaziergang, die Obdachlosen begrüßen mich diesmal wie einen alten Bekannten, den Hund ja sowieso. „Hey, komm mal
her. Was machste denn mit Charlie?“„Ich geh raus mit dem“– keine besonders intelligente Antwort, war aber bei der Frage auch nicht anders möglich. “Jau, der alte schaffts nicht mehr, oder?“„Mir scheint, der würde schon, der hat nur keine Lust, und ist ganz froh, wenn ich jetzt da bin und ihm das abnehme“. „Pass auf, gib ihm mal das hier, sag es ist von mir.“Und gibt mir irgendeinen in Zeitungspapier eingewickelten Unsinn. „Kannste ihm das nicht selber geben?“„
Nee, mich lässt er nicht mehr rein.“„Und dann soll ich ihm da irgendwelches Zeug
geben? Der wird schon seine Gründe haben.“ Also zur Telefonzelle gedackelt und den Alten angerufen, ja er hätte hier etwas für ihn, aber da er ja nicht mehr reindürfe, ob er dass Charlie und seinem Sitter mitgeben dürfe?“– mir den Hörer weiter gereicht, daraus krächzend die deutlich affirmative Antwort: „Ja, unbedingt.“Also gut, und zurück. „Und, gibs was Neues?“„Warste gestern unterwegs?“Oh, auf einmal wird sich gedutzt, aber das Förmliche wirkte
hier auch unangebracht. „Ja, mit sonnen Dicken und seinen Freundinnen:“„Gut so. Nee, ich hab hier nichts gehört.“„Übermorgen muss ich abhauen.“„Ich kann nicht garantieren, dass mir bis dahin was einfällt.“ „Haste denn mal nachgedacht, heute abend?“„Wirklich keine Idee. Ich habe noch mal in meinem Aktenarchiv gewälzt.“Er grinst, und zeigt auf einen Stapel von vergammelten Fernsehzeitungen, und auch die Engels haben mir nichts mitgeteilt.“„
Aber außer Dir kann keiner helfen.“„Tja, dann müsste man wohl abwarten. Danke
übrigens für den Krempel. “ Er wickelt das Zeitungspapier vor meinen Augen auf, zu Tage tritt überraschend eine kleine Briefwaage. „Is ne echte Antiquität. Wer weiß was wert. Bis morgen!“ Und zurück zum Hotel. Die Nummer von dem Dicken steht auf einem Papierschnipsel im Portemonnaie, von seinen Freundinnen steht nichts – das ist ein gutes Zeichen, was den Gedächtnisverlust angeht. Aber heute abend darf nicht noch mal so exzessiv werden.
Lieber ein bisschen auf eigene Faust spazieren gehen. Die Buecherei hat offen. Einer von zwei Tagen in der Woche, das ist Glück, ein alte Frau hinterm Fenster, Lesesaal. Blättern in Lokalzeitungen, alles Krempel, ich habe keinen Rechercheauftrag, kann gar nicht viel machen.
Also irgendeinen billigen Roman mitnehmen, der ausgemustert zum Verkauf rumliegt und zurück. Abends irgendwas Geflügeliges gegessen, früh ins Bett. Nachdenken, Situation analysieren.
Auf der Habenseite: Zielort erreicht, Kontakt gehalten, Arbeit offenbar irgendwie
transparent für andere. Auf der Sollseite: Keinen Schimmer, was hier zu tun ist. Ein weit gereister und in aller Bescheidenheit dann doch viel zu hoch qualifizierter Hundeführer und Zusteller von Briefwagen. Und was soll in den Bericht? Unruhiger Schlaf, im Hotelfernseher nur 3 Programme, irgendwelche Quizshows und dergl.
Der vorletzte Tag nach deren Rechnung, diesmal kein Bote und somit keine Botschaft, also Zeit lassen, Sportraum benutzen und dann wieder zum alten Mann, nicht zu früh. Ja, er strahlt mich an, offenbar dankbar, was beitragen zu können, nun gäbe es Neues, etwas, was ich in den Bericht schreiben könnte. Seine Nichte habe den Hund zur Kur mitgenommen, deswegen gleich zur Sache: Ich solle mich an das Stadtarchiv wenden, die Linie 34 fährt dorthin, am besten ohne weiteren Verzug. Also zur Haltestelle und warten. Linie 32 fährt vorbei zum Stadtpark, die 19 zum Hauptbahnhof. Die 34 ist ganz leer, 3 ältere Damen im größtmöglichen
Abstand zueinander verteilt, ich die Symetrie störend, keine Lust auf diese geometrische Aufgabe.
Der Archivar ein freundlicher Mann, offenbar bereits eingewiesen, was meine mühsam erarbeiteten Vorstellungs- und Rechtfertigungsformeln zum Glück hinfällig werden lässt.
„Kommense mal mit, schauense mal“, und er gibt mir ein Holzkästchen. „Seiense bloß vorsichtig damit! Wann geht’s zurück? Morgen? Super, vergessen Sie ihren Bericht nicht und geben Sie die Truhe an der entsprechenden Stelle ab, mehr kann man von Ihnen nicht verlangen.“„
Vielen Dank, können Sie mir vielleicht nähere Auskunft geben, um was es bei all dem geht? Warum hat man mich nicht direkt zu Ihnen geschickt? Und wer ist dieser alte Mann?“„Der, wissense, der arbeitet schon seit Jahren mit uns zusammen. Schreibt Artikel für die Heimatzeitschrift, findet auch manchmal seltene Dinge. Aber was das mit Ihnen zu tun hat?
Kann ich Ihnen nicht helfen.“„Naja, Danke. Ich weiß auch nicht, was man da mit mir macht“.
„Aber Sie scheinen dennoch ein aufgeweckter Junge zu sein, die meisten fragen ja schon gar nicht mehr, was weiß ich, warum nicht. Wennse mal nen Job brauchen, kommense wieder.
Ich hab Kontakte zur Stadtverwaltung. Hier im Archiv direkt ist allerdings finanziell nichts zu wollen, befürchte ich.“.
Und heraus, die Truhe verstaut, und an den Bericht gesetzt. Laptop funktioniert nicht: Akku leer und kein Adapter für hiesige Steckdosen. Also per Hand, wie vormals. Nicht besonders ergiebig, aber die Arbeit ist getan, dennoch ein gutes Gefühl. Raus auf die Hauptstraße, ein Schild weist hin auf einen Kabarettabend. Naja, würde man sich zu Hause auch nicht antun, aber was solls. Die durch die Ferne bedingte Genügsamkeit lässt das Gespielte erträglich erscheinen, dabei geht’s es irgendwie um zuviel Steuern und Kommunikationsschwierigkeiten zwischen Männern und Frauen und diesen ganzen Standard-Mist. Raus auf die Straße, es ist noch nichtb zu spät, aber bereits nachts. Ein Abenspaziergang, am Fluss jemand der Musik spielt während er einen Fußball hochhält, dem Fluss folgen bis zum Park, da ist der Obdachlose mit der Briefwaage wieder. „Na, hast Du das Paket abgegeben?“„Ja klar, muss ja ganz schön was wert gewesen sein, die Waage.“– „Jau, aber was machst Du eigentlich wirklich hier?“– „Ich habe einen Bericht zu schreiben und ein Paket zu übermitteln- letzteres konnte ich ja gestern dank Dir schon mal üben.“„Siehste, sach noch mal einer, bei mir könne man nichts lernen. Die Waage kommt von Euch, wenn ich das richtig sehe. Hat man Dir eine mit
Retour gegeben?“„Ich war im Archiv, da habe ich so ne Kiste, nee, ne Truhe bekommen.“„Was glaubst Du denn, was da drin ist? Darfst Du da reingucken, oder ist das geheim?“„Hat man mir nicht gesagt.“„Dann guck mal rein und achte auf die Betriebsnummer.
Die ist unter der Schale eingraviert. Wenn die kleiner als 8000 ist, dann meld Dich am besten sofort bei mir. Da können wir dann was machen. Oder noch besser ich komm gleich mit, wenn Du nichts dagegen hast.“. Habe ich was dagegen? Im Grunde nicht, mich wundert nur, dass offenbar die Obdachlosen über alle Zusammenhänge meiner Mission besser Bescheid wissen als ich. Ich weiß nichts von Briefwaagen und von Nummern und dergleichen. Das ist alles kein gutes Gefühl. Aber die Sache erledigt sich schnell und ich muss nicht entscheiden, denn kaum sind wir zwei Straßen weiter, nähert sich ein Polizeiauto und der Mann nimmt reißaus. Die Polizei fragt mich, ob er mich belästigt hat, ich verneine, man kontrolliert routinemäßig meinen Reisepass und verschwindet wieder. Ich gehe ins Hotelzimmer, nehme das Kistchen, packe es in den Rucksack und gehe raus, die Straße lang wieder zum Park. Keine Menschenseele zu sehen. Ich öffne die Kiste, der Inhalt überrascht nur teilweise: Eine Briefwaage, Ordnungsnummer 9017, also offenbar uninteressant; sowie eine Hundeleine, warum auch immer. Ich schmeiße alles in den Fluss, schaue den Sachen beim Davontreiben zu. Dann den Weg runter zu der Telefonzelle. Münze rein, die Wählscheibe drehen, das hatte man sich
auch bereits abgewöhnt. Nach jeder Nummer das Rattern und Klicken abwarten. Die Nummer des Dicken besteht aus einer größeren Reihe von Ziffern, als man das in dieser Stadt erwartet hätte.