Dennis Krüger: Totalverlust
"Schicken Sie gleich den nächsten rein!" Neugierig wartet die Schlange vor der Tür auf einen Kommentar desjenigen, der den Raum verlässt. Die Noten werden jedem einzeln offenbart, sind aber bei weitem kein Geheimnis. Ritter lächelt, zeigt zwei Finger in Form einen Victory-Zeichens auf Beckenhöhe. Sofort kommen leise Nachfragen der Wartenden. "Eine zwei?" Er nickt und geht ohne weitere Worte in Richtung Stube. Man würde sich später ausführlich über die Beurteilungen auslassen. Vor dem Büro des Hauptmanns war weder der richtige Ort noch die richtige Zeit dafür.
Meyer tritt ein, schließt die Tür und geht in Grundstellung, will die Hand zum Gruß heben. Wird jedoch unterbrochen. "Ohne Meldung." Es war häufig so, dass man während des Ansatzes gleich unterbrochen wurde. Der höhere Dienstrang legte keinen Wert darauf, aber der Ansatz muss zu sehen sein. Die Tatsache, dass man vor hatte Respekt zu zollen war essentiell. Würde man einfach so eintreten und nichts machen, wäre eine mittelschwere Sprengung, wie es so schön heißt, die Folge. Ob man noch bei Sinnen wäre und wie man sich überhaupt erdreisten könne.
Der Fahnenjunker steht einfach nur da, schaut sich ein wenig im Büro um. Sein Vorgesetzter blättert in den Akten, murmelt leise seinen Namen vor sich hin. "Meyer, hier haben wir sie ja." Mit leicht zusammengekniffenen Augen überfliegt er das Papier, legt es auf den Tisch und lehnt sich zurück. "Was haben sie denn für ein Gefühl?" Er spielt mit den Fingern an seiner Hose, senkt den Blick. "Nicht so gut würde ich sagen." Der Hauptmann nimmt noch mal kurz den Zettel auf, um ihn demonstrativ wieder auf den Tisch zu werfen, erzürnt sich. "Sie haben eine Fünf! Das heißt, sie sind durchgefallen. Sie wissen, was das für sie bedeutet? Eine fünf in einem Sperrfach, zum zweiten Mal!" Meyer nickt wortlos. "Sie werden wegen Nichteignung aus der Offizierslaufbahn entlassen."
"Wie sieht's aus? Läuft alles?" Der Fahnenjunker in dem kleinen Raum nickte zufrieden, trank einen Schluck Kaffee. "Alles klar, läuft wie geschmiert. Das MG hatte wohl irgendwelche Probleme." Meyer wiegelte ab. "Jaja, die eine Lafette war Schrott, haben schon ne neue geholt. Wenn irgendwas is, einfach anfunken." Draußen brachen in unregelmäßigen Abständen Schüsse. Die Soldaten des jüngeren Jahrgangs huschten stetig vom Ablaufoffizier zu den einzelnen Schießbahnen und wieder zurück. Entspannt trat er ins Freie, nahm einen Zug Frischluft und schaute sich zufrieden um. Praktisch lief alles wie am Schnürchen, die Schießen, das Essen war pünktlich da, jeder Soldat hatte Verpflegung, alle waren gut eingewiesen, es wurden sämtliche Probleme sofort weitergemeldet. Diese Lehrprobe war definitiv ein Selbstläufer.
"Fahnenjunker Meyer?" Die Obrigkeit hatte selbstverständlich das seltene Talent, Momente völliger Zufriedenheit zu erkennen und wirkungsvoll zu unterbinden oder postwendend zum Erliegen zu bringen. "Jawohl Herr Hauptmann." Schnurstracks, jedoch ohne übertriebene Eile, ging der Junker zu seinem Vorgesetzten und blieb vor ihm stehen. "Können Sie mir erklären, warum keine Parallelausbildung mehr stattfindet?" Parallelausbildung, in diesem Fall Skizzen Zeichnen, war eine Maßnahme dem Soldaten während der Schießen zusätzlichen Stoff zu vermitteln. Um nicht zu sagen, das allgemeine Rumgammeln zu verhindern. "Ich habe sie einstellen lassen. Die Schießen gehen vor, Herr Hauptmann." An diesem Morgen wurden in aller Hektik 1:100.000er Karten anstatt der üblichen 1:50.000er Karten besorgt, die für die Anfertigung von Skizzen für den Fußmarsch mehr oder weniger ungeeignet waren. Zugegebenermaßen war dies schon ein Negativpunkt des Tages, der sich aber leider auch nicht mehr rückgängig machen ließ. "Die Schießen laufen doch. Ich möchte, dass die Parallelausbildung sofort wieder aufgenommen wird. Haben sie mich verstanden?" Voller Nachdruck zeigte er auf das kleine weiße Gebäude, in dem bis zum Mittag unterrichtet wurde.
Meyer bäumte sich leicht auf. "Bei allem Respekt Herr Hauptmann, aber ich werde sie nicht wieder anordnen. Ich habe sie einstellen lassen, weil der flüssige Ablauf der Schießen gefährdet war, die definitiv vorgehen!" Als hätte er es nicht richtig verstanden, schüttelte dieser leicht den Kopf und schob ihn aufbrausend ein Stück nach vorn beim Sprechen. "Ich befehle ihnen hiermit, die Parallelausbildung wieder aufzunehmen!" Der Fahnenjunker wartete einen Moment, blickte ihn entspannt an. "Ich werde die Ausbildung nicht wieder anordnen! Sie sind der Gesamtleitende Scharf. Wenn sie es für Notwendig erachten, dass diese Ausbildung Vorrang vor den Schießen hat, ordnen Sie es an!" In den Augen seines Gegenüber funkelte es zornig. Man sah ihm an, dass er am liebsten in diesem Moment explodiert wäre. Ohne einen weiteren Ton zu verlieren, machte er auf der Stelle kehrt und stampfte mit hochrotem Kopf von dannen.
Er wiederholte den Befehl nicht. In diesem Falle hätte der Fahnenjunker ihm Folge leisten müssen oder es riskiert wegen Gehorsamsverweigerung disziplinarrechtlich gescholten zu werden. Jedoch wagte es der Hauptmann auch nicht, die Entscheidung des Fahnenjunkers nur im Geringsten anzutasten. Jede Verzögerung in der Ausbildung hätte Meyer später bei der Notenvergabe darauf als Folge abwälzen können, mit dem Zusatz, das schlechte Ergebnis der Lehrprobe sei ein Produkt von höherer Gewalt.
„Ab 1980, also während der Strategie ,Flexible Response', MC 14/3, strebten die USA an, in der Lage zu sein feindliche Raketen abzufangen. Diese Strategie trug den Name 'Krieg der Sterne' und ...“ Übermüdet, aber gelassen versprühte der Junker seine Weisheiten zu den Strategien der NATO ins Auditorium. Die Zuhörerschaft bestand aus den Kameraden seines Hörsaales, die entweder gelangweilt aus dem Fenster schauten oder den Kopf auf den Arm gestützt langsam vor sich hin dösten. Selbstverständlich mit der nötigen Acht, von hinten betrachtet nicht den Anschein zu erregen.
Als Meyer mit den Jahreszahlen jonglierte kam neugierig eine unvermittelte Wortmeldung von den in der hintersten Ecke postierten Tisch der Dienstaufsicht. „Herr Fahnenjunker, was war denn 1972?“ Aus dem Konzept gebracht brach dieser mitten im Satz ab, schaute seinen Vorgesetzten an und überlegte. Er hatte die Nacht nicht geschlafen, hatte die Zeit dazu genutzt die Lehrprobe vorzubereiten. Wie immer zu spät, aber gerade noch rechtzeitig. 1972, ihm fiel rein gar nichts ein, was in dem Zusammenhang mit seinem Vortrag in diesem Jahr spezielles passiert sein sollte. Der Hauptmann hakte noch mal hämisch nach, diesmal mit dem Zusatz, dass es doch Allgemeinbildung sei. Doch es wollte ihm nichts Passendes in den Sinn kommen, welches Konsequenzen für das Handeln der Supermächte gehabt hätte und hob hilflos die Hände ein wenig in die Höhe, zuckte leicht mit den Schultern.
„1972, Geiselnahme in München. Das müssten sie wissen als angehender Offizier.“ Der Hauptmann grinste wie ein kleines Kind, welches gerade heimlich einen Lolli hinter den Rücken seiner Eltern stibitzt hatte. Ungläubig und vor allem unverständlich schaute ihn Meyer an. „Und was hat das mit der Nato Strategie zu tun?“ Mit aufgesetzter Enttäuschung wurden am hinteren Tisch Notizen gemacht, die im Allgemeinfall nichts Gutes zu bedeuten hatten. Es wurde abgewiegelt. „Nichts, aber sie sollten es wissen. Fahren Sie fort.“ Die Müdigkeit verflog mit einem Male. Sie konnten sich nicht leiden, das war beiden hinreichend bekannt, aber in diesem Moment hasste er seinen Vorgesetzten. Die Zornesröte stieg in ihm auf, stand schweigend neben dem Projektor und versuchte seine Worte mit Bedacht zu wählen. „Herr Hauptmann, finden sie, dass es angebracht ist, während einer Prüfung zum Thema unpassende und verwirrende Fragen zu stellen?“ Dieser blickte auf und züngelte zurück, beharrte mit einem Blick darauf fortzufahren. „Herr Fahnenjunker, ich denke nicht, dass es ihnen zusteht meine Motive in Frage zu stellen.“ Im Raum waren derweil wieder alle hellwach und lauschten gespannt.
Meyer drehte sich zurück zur Folie, sprach halblaut, jedoch gut verständlich für alle Anwesenden vor sich hin. „1972 ist bestimmt auch meine Mutter vom Klettergerüst gefallen!“ Eine Melange aus Entsetzen und Heiterkeit machte sich breit. „Wie bitte? Können sie das noch mal wiederholen? Ich konnte sie nicht verstehen!“ Schallte es vom hintersten Tisch. Der Junker drehte sich provokativ zum Auditorium, wiederholte seine Worte langsam und verständlich, über jeden Zweifel des Missverständnisses erhaben. „Ich sagte: 1972 ist bestimmt auch meine Mutter vom Klettergerüst gefallen.“
„Hey. Und, was hast du bekommen?“ Fragte Schmidt voller Spannung. „Rate doch mal.“ Meyer sah ihn fragend an. „Eine 2 oder 3?“ Verfinsterte seine Züge. „Ich hab ne glatte fünf bekommen.“ Ungläubig blickte ihn sein Kamerad an. „Eine fünf? Das ist ja der Hammer. Also es war schlechtestens ne drei, wenn man wirklich jeden noch so kleinen Fehler anrechnen würde. Und was machst du nun?“ Meyer stierte wortlos vor sich hin. „Ich hab so langsam echt die Schnauze voll.“ Die drei Lehrproben, die er absolvieren musste, hatte er nun hinter sich, mit mehr oder weniger zweifelhaften Ergebnissen. Für das Schießen wurde er mit einer Vier benotet, trotzdem alle Ausbildungsziele erreicht wurden und ein komplett reibungsloser Ablauf diesen Tag kennzeichnete. Sein Gönner führte jede noch erdenkliche Kleinigkeit ins Feld um die Note nach seinen Maßstäben in die richtige Richtung zu korrigieren. Die zweite Lehrprobe wurde von einem Oberfeldwebel abgenommen und das Ergebnis war eine Eins, völlig im Kontrast dessen. Nun, mit der Fünf in Politik war ein Schnitt von 3,3 die Folge.
Er musste den Lehrgang in diesem Jahr zum zweiten Mal absolvieren, war im Jahr zuvor wegen einer unzureichenden Note im Politiktest durchgefallen, keine Motivation zu lernen. Es war erstaunlich, dass die zukünftigen Führer sich in der Ausbildung und Führung von Menschen geradeso auf ein Ausreichend retten können, welches im schlimmsten Falle zwei Fünfen und eine Zwei wäre, also die Person alles andere als geeignet zur Führung. So wie er anscheinend, obwohl die Resultate in der Truppe dem völlig entgegengesetzt waren.
'Klopf, Klopf' Von drinnen drang ein leises „Ja bitte!“ nach draußen. Meyer trat ein, wurde freundlich empfangen. „Ah Herr Fahnenjunker, was kann ich für sie tun.“ Der Rechtslehrer war ein sehr lustiger Mensch, vermochte den Unterricht und den trockenen, theoretischen Stoff mit allerlei Witz und Anekdoten auszuschmücken. „Es geht um meinen Rechtstest vom ersten Lehrgang. Wieviel Punkte brauche ich, um insgesamt zu bestehen. Oder anders gefragt, wann würde ich nicht bestehen?“ Die Mine des kleinen, dicklichen Mannes wurde ernster. „Sie sind doch Wiederholer oder?“ Der Junker nickte. „Aha, ich verstehe. Schließen sie die Tür. Wir werden das etwas genauer prüfen.“
Regungslos steht Meyer da, sagt keinen Ton, blickt ausweichend zur Erde. „Ich verstehe das nicht. Sie haben die meisten Fragen nicht einmal beantwortet. Ganz grundlegende Fragen.“ Er schaut den Fahnenjunker verstört an, nimmt das Blatt Papier wieder auf. „Zum Beispiel: Was ist der Auftrag der Bundeswehr?“ Es ist das erste mal, dass er in den Augen des Hauptmannes komplette Hilflosigkeit sieht. Und er genießt es in vollen Zügen. Unbeholfen schaut er kurz herum, überlegt, sagt kleinlaut. „Sowas wie Schutz von Deutschland, Unterstützung der Bündnispartner oder Katastrophenhilfe?“ Sein Vorgesetzter legt das Dokument wieder auf den Tisch, ereifert sich. „Ja warum schreiben sie es denn nicht hin?“ Bevor er etwas antworten kann, kommt die nächste Frage hinterher. „Oder wollen sie sich rausschmeißen lassen?“ Meyer blickt ihn teilnahmslos, ohne jegliche sichtbare Rührung an, zuckt mit den Schultern, sagt jedoch nichts. Geradezu machtlos und voller Gram lässt sich der Hauptmann zurück in den Stuhl fallen. „Sie sind mit sofortiger Wirkung vom Lehrgang ausgeschlossen. Halten sie sich auf Stube bereit. Alles weitere wird ihnen gemeldet.“ Mit einem kurzen Gruß verabschiedet sich Meyer, macht kehrt und verschwindet aus der Tür. Der Nächste des Hörsaales rückt sofort nach.
Nachdem die Tür des Büros wieder geschlossen ist, blicken ihn alle Wartenden an. Er kann sich nun ein breites, selbstgefälliges Grinsen nicht mehr verkneifen. „Und was hast du?“ Wie unter Drogen sind seine Mundwinkel scheinbar dauerhaft zu einer Grimasse fixiert. Mit einem fröhlichen Zwinkern verkündet er das, worauf alle des Hörsaales mit Spannung gewartet haben. „Fünf! Meyer sie sind raus!“
Es ist ein warmer Frühlingstag, das Wetter ist ausgezeichnet, blauer Himmel und die Sonne scheint. Er hatte den gesamten Vormittag alles sorgsam in den Wagen gepackt und seine Stube gereinigt. Etwas hektisch kommt der Oberfeldwebel aus dem Gebäude gejoggt, bleibt kurz vor ihm stehen. Er ist kleiner als er, etwas aus der Puste. „Ich wollte ihnen noch alles Gute wünschen für die Zukunft. Es ist eine Schande, dass immer die besten gehen.“ Meyer verabschiedet sich mit einem festen Händedruck und einem Lächeln, steigt in sein Auto und fährt langsam und bedächtig Richtung Wache. Der Wachmann öffnet die Schranke, winkt ihn durch, wie viele Male zuvor. Doch eines war anders diesmal. Diesmal fühlte er sich frei.