Nikolas Hoppe: Linkes oder rechtes Meer
Es ist Sommer. Die Sonne scheint. Es ist sommersonnenmäßig heiß. Wir sitzen hinten im Cabrio bei 200 auf der Autobahn. Wir schreien vor Lachen, weil auf unseren Köpfen die Haare toben und unsere Gesichter chinesisch werden. Wir schreien vor Schmerzen, weil es sich so anfühlt, als würde uns der Wind mit Fäusten prügeln. Er wäscht die Köpfe frei, Abiturnoten fliegen aus den Ohren, zerschellen hinter uns auf dem Asphalt. Wir schreien ohne Grund, vielleicht weil wir jung sind, weil vor uns ein ganzer Sommer liegt, ein letzter gemeinsamer Sommer, nur für uns. Vielleicht schreien wir, weil uns genau das bewusst wird, genau jetzt, in diesem Augenblick.
Endlich fahren wir langsamer. Yuki sieht im Gesicht immer noch aus wie ein Chinese, obwohl er Japaner ist. Eva sitzt neben mir mit großen offenen Augen. Sie hat rote Wangen und zerwühltes, braunes Haar. Der Mund steht leicht offen, ihr Brustkorb hebt und senkt sich. Ich nehme mir vor, mich in sie zu verlieben, endlich, nach all den Jahren und greife nach ihrer Hand.
Linkes oder rechtes Meer, frage ich sie.
Noch nicht, noch nicht, sagt sie schnell und zieht ihre Hand zurück. Die Richtung stimmt. Wir entscheiden später.
Meine Mutter will, dass wir heile ankommen, egal wo, ruft Yuki von vorne nach hinten.
Deine Mutter will auch am Gartenzaun stehen und winken, wenn wir ihren neunzehnjährigen Sohn, ihren kleinen Yuki-Chan, für zwei mickrige Wochen in die Ferien entführen. Tausend Mal musste ich ihr versprechen, vorsichtig zu fahren, dabei kommt es gar nicht darauf an, vorsichtig zu fahren, sondern sportlich, sportlich ist viel sicherer als vorsichtig.
Das ist Minge. Minge ist unser Freund und Fahrer. Ihm vertrauen wir unser Leben an, weil niemand so sportlich schaltet wie er. Immer hat er die eine Hand am Lenkrad und die andere am Schaltknüppel, sogar auf der Autobahn. Minge würde niemals jemand anderen an das Steuer seines Vaters lassen. Auch nicht Yuki, der oft fragt, der gerne beteuert, der bessere Fahrer zu sein, der jetzt erneut daran erinnert, sowohl die theoretische als auch die praktische Fahrprüfung mit Glanzleistung bestanden zu haben. Minge aber hört ihm gar nicht zu. Er hat die eine Hand am Lenkrad, die andere am Schaltknüppel. Aus dieser Position bekommt ihn keiner weg.
Minge spielt Klavier und trinkt Bier wie kein anderer. Aber niemals würde er betrunken Klavier spielen oder Auto fahren. Er würde sich auch niemals einfach den Wagen seines Vaters nehmen, ohne diesen vorher zu fragen.
Ich war dabei als das geschah, heute Morgen, ich habe alles miterlebt. Wie Minge mit leisen Schritten das Klavierzimmer betrat, das Klavierzimmer mit dem großen Fenster hinaus in den Garten, ich direkt hinter ihm und sein Vater am Klavier mit Schweißperlen, beschäftigt mit der Campanella, angestrengt von der Campanella, diesem listigen Lisztstück. Ich sah die Autoschlüssel auf dem Notentisch liegen, hörte das Metronom durch die eingekehrte Stille klicken, hörte wie es Minge immer dazwischen klickte als er sprach:
Wir wollen ans Meer klick – klick ob Ost- oder Nordsee ist klick noch nicht raus klick – klick wir wollen unterwegs entscheiden klick ob links oder rechts klick – klick.
Und sein Vater saß am Klavier mit Schweißperlen, so müde von der Campanella, erledigt von der Campanella, diesem sauschweren Lisztstück, hörte sich all das an und brachte nur ein einziges erschöpftes Wort hervor:
Nein klick – klick – klick – klick – klick, worauf Minge plötzlich erst nach meinem Ärmel, dann nach den Schlüsseln griff, wir aus dem Klavierzimmer, der Wohnung, hinaus auf die Straße stürmten, auf der das Cabrio bereits rot im Sonnenschein glänzte.
Es gibt Väter, die bekommen Wut- und Hustenanfälle, die laufen Söhnen hinterher, drohen mit Hausarrest oder Schlägen oder beidem. Nicht Minges Vater. Der bleibt sitzen, tippt vielleicht einmal kurz auf die letzte Klaviertaste rechts und schaut dann aus dem Fenster.
Minge setzt den Blinker. Wir verlassen die Autobahn. Ab jetzt nur noch Landstraße. Zwischen Geest und Hügelland, durch die Mitte von Schleswig Holstein, immer Richtung Norden. Die Landschaft hier kann sich nicht entscheiden, ob ihr eher das Grüne oder doch eher das Braune steht, ob sie lieber flach oder besser nicht flach sein will, sie ist alles ein bisschen, aber nichts ist sie richtig, sie zieht zu schnell an uns vorbei.
Yuki sieht ihn als erster.
Ein See, ruft er, da müssen wir unbedingt rein, da gibt es gar keine Diskussion.
Yuki ist ein schwuler Japaner und mein bester Freund. Yuki ist schwul, seitdem ich denken kann, er war für mich schon schwul, bevor ich überhaupt wusste, was Schwulsein bedeutet. Offiziell schwul ist Yuki seit seinem fünfzehnten Geburtstag. Für seine Mutter war das damals ein schwerer Schlag. Vor allen Gästen schleuderte er eine Tomate auf sie und schrie auf Japanisch, dass er schwul sei, dass er Ärsche ficke und Schwänze blase. Höflicherweise schrie er die Übersetzung sogleich in die Runde und rannte auf sein Zimmer. Einige Gäste mussten sehr lachen, doch die arme Mutter hatte noch das Tablett mit selbstgemachtem Sushi in der Hand und musste sehr weinen.
Was den See angeht, gibt es keine Diskussion. Bei vier Leuten, die gleichzeitig in einen See springen, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass beim gemeinsamen Auftauchen zumindest einem der Rotz aus der Nase hängt. Heute ist es Minge. Lachend und mit nassen Haaren schaut er uns an. Obwohl ihm der gelbe Faden fast bis an die Oberlippe reicht, ist Minge ahnungslos und froh.
Wir schmeißen uns auf die Handtücher. Die Sonne knallt auf unsere Bäuche. Eva trägt einen schwarzen Bikini. Hier und da auf ihrer Haut spiegeln kleine Wassertropfen das Licht der Sonne wider. Das mit dem Verlieben klappt ganz gut, denke ich und bin ein wenig verblüfft, dass es wirklich so gut klappt.
Was ist das, fragt sie und deutet auf ein Insekt an ihrer Schulter.
Zum Wegschnipsen, sage ich und schnipse es weg.
Das ist wie ein riesiger Arschtritt für das Insekt, sagt sie und wir müssen beide lachen.
Dann spielen wir “Was-packe-ich-in-meinen-Koffer“. Wir haben schon eine lange Liste zusammen. Minge hat unter anderem Unterhosen und Chopins Revolutionsetüde eingepackt, Yuki immer sehr große Dinge, wie Japan oder die Allianz Arena. Ich bin dran, zähle in perfekter Reihenfolge das bisher Gesagte auf und packe am Ende Eva hinzu, worauf wir alle vier erröten. Dann wiederholt Eva den Kofferinhalt, ebenfalls fehlerfrei, um schließlich “on the road“, die 57er Originalausgabe, hinzuzutun. Auch in den nächsten Runden lande ich nicht in ihrem Koffer. Irgendwann macht Yuki einen Fehler in der Aufzählung und das Spiel ist vorbei.
On the road again.
Meine Mutter würde das hier nicht wollen, sagt Yuki, so mit nassen Haaren im Cabrio.
Gut, dass deine Mutter verdammt nochmal nicht hier ist, sagt Minge.
Linkes oder rechtes Meer, frage ich in die Runde.
Minge ist das ganz egal.
Wo war denn der Schimmelreiter, fragt Yuki, ihr wisst schon, dieses Buch aus der 8. oder 9. Klasse von Theodor Fontane.
Links, antworte ich. Und das Buch hat Theodor Storm geschrieben.
Eva ist ganz klar gegen die Nordsee. Sie will keine eingedeichten Küsten und ein Meer nur ab und zu.
Der Nationalpark Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer, entgegne ich ihr, beinhaltet die größte zusammenhängende Wattlandschaft der Erde, ein wirklich sehenswertes Naturereignis.
Betretenes Schweigen. Sofort bereue ich diesen Satz, möchte ihn am liebsten in einen Koffer packen, den Koffer fest verschließen und bei nächster Gelegenheit irgendwo vergessen.
Noch müssen wir uns nicht entscheiden, sagt Eva und schaut der vorbeiziehenden Landschaft beim Vorbeiziehen zu.
Wir halten an einer Tankstelle. Wir brauchen Bifi Rolls und mindestens sechs Sechserträger Bionade Litschi. Die Kombination von Bifi Roll und Bionade Litschi im Mund ist unschlagbar. An Zapfsäule drei hantieren zwei Männer an einem Boot herum, das auf einem Anhänger steht. Sie scheitern bei dem Versuch, ihre Vorfreude unter fachmännischer Mimik zu verstecken, sehen vielmehr aus wie zwei Kinder, die genau wissen, dass sie heute noch Boot fahren werden.
Im Laden der Tankstelle gibt es jede Menge Bionade Litschi und Bifi Roll, es gibt Eis, Lutscher, Schokoriegel und Kaugummis, es gibt einen kleinen Jungen, der sich heimlich von allem etwas in die Taschen steckt und es gibt einen Vater, der immer wieder in die Taschen seines Sohnes greift und ausdauernd zurücklegt. Beim Hinausgehen untersucht er noch einmal in Türstehermanie seinen frühkriminellen Sprössling, auf dass er auch wirklich nichts geklaut habe. Der Junge ist sauber und darf den Laden verlassen.
Wir stopfen gerade unseren Einkauf in das Cabrio als die Männer von Zapfsäule drei ins Auto steigen und mit ihrem Anhänger vom Hof wieder auf die Straße fahren.
Schaut euch das an, sagt Eva, ein Auto fährt ein Boot spazieren.
On the road again. Die Landschaft ist langweilig. Nur Kartoffelfelder, von wallartigen Baum- und Strauchhecken weitläufig umzäunt. Wir Männer müssen pinkeln. Ich leiste mir einen weiteren Satz für den Koffer als wir in einer Reihe am Wegesrand stehen und Bionade Litschi in die trockene, braune Erde urinieren. Eva muss herzlich lachen und sagt:
Eines schönen Tages wird genau an dieser Stelle ein Baum wachsen, ein großer Litschibaum wird das sein, ein Litschibaum mit saftig roten Litschifrüchten, worauf ich ihr über die Schulter hinweg sage, dass sowohl der Baum als auch die Früchte sehr kälteempfindlich seien und man das daher in Mitteleuropa vergessen könne.
Minge steht links, Yuki rechts von mir. Yuki bewegt sich nicht. Ich glaube, Minge schüttelt den Kopf.
Im Auto ist die Stimmung irgendwie gedrückt. Eva schaut in die Landschaft, Minge schüttelt in regelmäßigen Abständen den Kopf und Yuki plappert über Verkehrszeichen.
Aber am besten sind die Gefahrenzeichen, die mit dem roten Dreieck, sagt er, das sind die lustigsten. Das Verkehrsschild Nr. 129 zum Beispiel nennt sich Ufer, da begeht ein führerloses Auto quasi Selbstmord, in dem es einfach über den Rand hinüberfährt und sich schräg in die Fluten stürzt, großartig, nicht war, da wird in pechschwarzer Nacht einfach mal Fahrbahn mit Wasseroberfläche verwechselt, wirklich kurios. Oder auch sehr gut: Das Verkehrsschild Nr. 115: Steinschlag. Ist euch jemals aufgefallen, wie riesig auf diesem Schild die Steinbrocken sind, die da den Berg hinunter fliegen, ich meine, ist das norddeutsche Naivität oder sind die wirklich so groß, da ist man doch direkt eingeschüchtert, da will man doch sofort anhalten und umkehren bei den riesen Dingern. Aber am besten gefällt mir immer noch das Verkehrsschild Nr. 142: Wildwechsel. Dieser schwarze Rehbock im stolzen Sprung auf weißem Hintergrund, das ist grandios, ein halbes Kunstwerk ist das.
Yuki scheint fertig zu sein. Jedenfalls ist er mit einem mal still geworden. Der Rehbock, der plötzlich vor uns steht, sieht ganz anders aus als auf dem Schild. Ohne Hörner, weder stolz noch im Sprung, gar nicht wildwechselnd, sondern gelassen stehend, scheinbar auf der Straße grasend. Obwohl es taghell ist, schreit Yuki Minge an, er solle bremsen, das Licht ausschalten und dabei hupen, worauf Minge zurückschreit, Was!?, und dann schnellen unsere Oberkörper nach vorne in die Gurte und dann greift Eva nach meiner Hand und dann ertönt dieses seltsame Geräusch, ein Geräusch, dass man nicht nur hören sondern auch fühlen kann, unter den Füßen und ein bisschen in den Beinen und dann ist es auch schon vorbei und still –
Minge hat eine Hand am Lenkrad und die andere am Schaltknüppel. Yuki schaltet die Warnblinkanlage ein: klick – klick – klick – klick, klickt es durch die Stille.
Auf einmal bekomme ich panische Angst. Ich denke an Eva, denke an die dummen Schlauheiten, die ich gesagt habe, denke an die nun schwindenden Gelegenheiten, es wieder gut zu machen, es vielleicht einmal mit schlauen Dummheiten zu probieren oder was weiß ich. Ich bekomme panische Angst, weil ich ganz vergessen hatte: Das ist der letzte gemeinsame Sommer. Es könnte hier aufhören. Das war`s. Wieder zurück. Nach Hause. Ich denke an den Vater von Minge und wie er wohl reagieren wird, wenn er den Schaden an seinem Auto sieht. Dieser Gedanke beruhigt mich ein wenig.
Yuki steigt als erster aus dem Wagen. Der Musterfahrschüler weiß genau, was zu tun ist, denn er holt aus dem Kofferraum das Warndreieck, stellt es ca. 100 Meter hinter dem Wagen auf, kommt zurück und sagt ein wenig außer Atem:
Wenn wir das Tier einpacken und dann abhauen, wäre das Wilderei.
Warum sollten wir so etwas tun, Yuki, fragt Minge ein wenig gereizt.
Ich weiß nicht, wir sollten es eben nicht tun, das wäre, wie gesagt, Wilderei.
Nun steigen auch wir aus dem Wagen. Wir sind dem Reh gegen seinen Bauch gefahren und haben es ca. einen halben Meter nach vorne gestoßen. Es liegt seitlich auf der Straße mit weit nach oben gestrecktem Kopf, gekreuzten Vorderläufern und einem unter den Rupf geknickten Hinterlauf. Das Cabrio hat keinen Kratzer.
Yuki meint, man solle das Blut nicht wegwischen und auch die Haare solle man nicht entfernen, für die Versicherung, falls doch was an der Karre sei, worauf Minge ein wenig ausrastet und Yuki zu verstehen gibt, auf die Versicherung zu pfeifen, ihm im Übrigen rate, auf unbestimmte Zeit seine Fahrschullehrerklappe zu halten, worauf wiederum Yuki entgegnet, Minge könne ihn mal gerne sonst wo lecken.
Es atmet noch, unterbricht Eva jetzt die zwei Streitenden.
Was, sage ich.
Eva geht vor dem Tier in die Knie.
Schaut, der Bauch, es atmet, wir müssen etwas tun.
Was willst du da denn tun, frage ich und ahne es schon.
Es erlösen, sagt sie.
Bist du verrückt, womit denn, frage ich.
Im Kofferraum liegt ein Wagenheber, sagt Minge.
Spinnst du, sage ich, du willst dem Tier doch nicht eins überbraten. Wir müssen die Polizei rufen, die ruft dann den Förster und der wird dem Tier eins überbraten, der weiß auch wie man einem halbtoten Reh am besten eins überbrät, wir wissen das nicht.
Ich werd `s tun, sagt Eva und geht zum Kofferraum.
Minge hält sie zurück und dann geht es ganz schnell und ich halte den Wagenheber in den Händen. Er fühlt sich schwer an und sehr kalt.
Das wirst du nicht versauen, sagt Minge mit ernster Miene.
Ich habe Eva wirklich gern. Ich will es nicht versauen. Aber das kann doch kein Liebesbeweis sein, denke ich, während ich vor dem Reh stehe. Der Wagenheber in meiner Hand wird immer schwerer und kälter, ich merke wie mein Herz schlägt, merke wie meine Phantasie mit mir durchgeht, Moment mal, sagt das Reh, um Gottes Willen leg das Ding weg, du wartest schön auf den Förster, vielleicht bekommt mich der ja wieder hin. Ich will es nicht versauen, denke ich und greife fester um den Wagenheber, zwinge mich zur Realität, fixiere den Kopf des Rehs, der leblos auf der Straße liegt, lasse ihn nicht aus den Augen, fixiere so stark bis es bloß den Kopf gibt, losgelöst vom Asphalt, bloß den Kopf und das kalte schwere Gefühl in meiner Hand, ich konzentriere mich so sehr bis es nur noch diese beiden gibt, Kopf und Gefühl, bis sie zusammendrängen, sie eins werden, genau jetzt, in diesem Augenblick –
On the road again. Wir sind schon sechs Stunden unterwegs. Der Wind ist ein wenig kühler geworden. Wir haben das Dach geschlossen, im Wagen ist es still. Nur Yuki summt leise vor sich hin.
Ich greife nach Evas Hand. Sie ist leicht und warm und zieht sich nicht zurück.
Linkes oder rechtes Meer, frage ich sie.
Noch nicht, sagt sie. Wir müssen uns nicht entscheiden, noch nicht.
Und wenn wir uns nie entscheiden, frage ich.
Dann fahren wir eben nach Dänemark, sagt Eva und schaut mich an.