René Egger: Das Drehkreuz
The Wall, wie das sieben Kilometer lange Stahl-Monstrum in den Prospekten der Reiseveranstalter hiess, korrodierte, war aber weniger ruiniert, als man das, so viele Jahre nach Ende des kalten Krieges, hätte vermuten können. Vom kalten Glanz der besseren Tage, als man den Wall schon aus zwanzig Werst Entfernung am Horizont bedrohlich hatte wahrnehmen können, war allerdings nicht viel geblieben. Viele der grossen Stahlplatten, 25 mm dicke Dinger, waren vom Frost oder vom anschliessenden Tauwetter abgesplittert worden. Und wenn man näher heranging, was an sich verboten war, so konnte man im Metall hunderte von Dellen sehen: Kein Grenzsoldat, der hier sein Magazin im Dauerfrost – im Dauerfrust nicht schon mal geleert hätte.
Von den zwanzig Drehkreuzen, die an dieser Stelle Durchlass gewährten, waren, wie es den Anschein machte, viele ausser Betrieb oder funktionsuntüchtig geworden. Dennoch brauchte hier niemand Schlange stehen. Ja, es waren so wenige Passanten oder – wie auf den Hinweisschildern in deutscher Sprache zu lesen war – Grenzübertreter da, dass die Guards, von denen die Mehrzahl Frauen waren, von ihren Befugnissen den vorschriftsgemässesten Gebrauch machten. Also die Pässe mit ihren spitzen, oft auch aufgeklebten Fingernägeln gleich mehrmals und von vorne bis hinten durchblätterten, Statur und Augenfarbe mit dem im Pass vermerkten Signalement aufs Genaueste verglichen, mehr als einmal fehlende Haare reklamierten, die Prozedur des Fingerabdrucks, Kuppe für Kuppe, geradezu zelebrierten.
Dennoch war niemand ungeduldig oder zeigte sich gar aufgebracht, zumal keiner drängelte und jeder an die Reihe kam. Es war nicht Schikane, wie alle wussten, es war Zeitvertreib.
Was ihm auffiel, dass die Frauen stark geschminkt waren und dass die Spiegel auf den Uniformkragen richtige Spiegel waren. So dass sie den Kragen, wenn sie die Lippen nachzogen, nur schnell hochzuklappen brauchten.
Eiserner was? An iron curtain? Sie schien den Begriff nicht zu kennen, ihn noch nie gehört zu haben. Wusste auch nicht zu sagen, wer den Wehrwall nach dem ersten Weltkrieg hochgezogen hatte. Das Ganze, fand er, sah wie eine monströse Drohkulisse aus, hatte auch etwas Fellinihaftes, mit all den Schiessluken, den aufgenieteten Beobachtungshorsten. Soviel er gehört hatte, zogen sie auf der anderen Seite des Walls Spalierobst: Brannten daraus dann das „eiserne Vögelein“, das nicht nur im Baltikum, sondern auch im angrenzenden EU-Raum gezwitschert wurde.
Er fragte sich, wie er sich diese andere Seite vorzustellen habe, was ihn dort, auf der anderen Seite an Anderem erwartete. Da sei nichts, gäbe es auch nichts zu sehen, was sich anzusehen oder zu fotografieren lohnte, sagte die Korporalin, die ihn abfertigte – und ebenfalls diese überlangen, am Ende sogar noch eingerollten Nägel trug, wegwerfend. Aber sie werde in zehn Minuten abgelöst und habe danach dienstfrei. Wenn er sich bis dahin gedulde, so wolle sie ihn hinterher gerne führen. In diesem Nichts- und Niemands-Land, wie sie spöttisch sagte, ein wenig herumfahren. Es gäbe auch Bikes zu mieten.
Sie hatte nicht übertrieben: Da war nichts, auf der anderen Seite des „Eisernen Vorhangs“, nichts jedenfalls von dem, was er insgeheim doch erwartet hatte. Die Luft war ebenso wenig bleigeschwängert wie andernorts auch, die Fäuste, wenn sie hier überhaupt geballt wurden, blieben in den Hosentaschen. Statt Winterpalais gab es Sommerfrische, und die einzige Fahne, die weithin flatterte, war eine aus Wodka – wohl eher Trinkspiritus.
Die Welt setzte sich hier so fort, wie sie drüben geendet hatte. Mit Kiefernwald, mit verbreitetem Moos und Abfällen. Es gab ein schwerblütiges Gefallenen-Denkmal, eine nicht regelmässig benutzte Mülldeponie und eine von grob zugehauenen Baumstämmen umfasste Feuerstelle. Mit Resten von einem inzwischen verkohlten Schwein, dem eine finnische Busreise-Gruppe aus Turku so ziemlich alles von den Rippen herunter gesäbelt hatte.
Anfangs tauschten sie Förmlichkeiten aus, wozu ihre abrupte Art Englisch zu sprechen sowie der Anblick ihrer Uniform sicherlich beitrugen. Sie hatte sich nicht umgezogen, was ihn erstaunte, hatte sich, wie sie sagte, nur etwas frisch gemacht, worunter sie offensichtlich auch das Weissen ihres Gesichtes verstand. Danach setzte sie auf den Knall-Effekt: Redete davon, dass es hier letzthin geknallt habe, dass es an der Grenze fortgesetzt zu Knallereien komme, jemand, ein Kollege, letzthin abgeknallt worden sei – bäng-bäng! Ein anderer, ein Vorgesetzter offenbar, völlig durchgeknallt sei. Sie selbst, am Vorabend, einen Knaller gehabt habe. Unwillkürlich blickte er auf ihre Pistole, ein grosses Kaliber, ähnlich einer Beretta, vorne an ihrem Gurt. Er fragte sich, wie sie da mit ihren Krallen, gegebenenfalls, rankommen wollte.
Was immer sie sagte: Sie gab es stossartig – und wie aus einer Maschinenpistole geschossen von sich, wobei sie am Ende des Satzes eine verächtliche Unterlippe zog. Auch liebte sie es, sich von Satz zu Satz zu steigern, sich in einen Sinn hineinzureden, eine Aussage richtiggehend eskalieren zu lassen. Ich bin ich, sagte sie beispielsweise und so herausfordernd, als ob er es bestreiten wollte. Fügte nach kurzem Besinnen hinzu: Mal davon abgesehen, dass wir hier alle anders sind. Und euren Vorstellungen überhaupt nicht zu entsprechen brauchen.
Sie trage keine Panzerweste, sagte sie, als sie dann in einer Lichtung von den Rädern gestiegen waren. Sie trug auch keinen BH – unter ihrem Shirt: grosse Brüste, ihre zwei Bertas, wie sie sagte, und bereit zum Ausklinken.
Wie sie dann auf dem Moos lagen, in der Lichtung lagen, wirkt sie sehr weiss, mit ihrem hochgeschobenen Rock und im Sonnenlicht flammte das Geflecht auf ihrem Geschlecht wie ein Steppenfeuer, das er Lust anzublasen hatte. Das Rot ihres Haares, fand er, passte perfekt zum Grün des Mooses, das den ganzen Waldboden bedeckte. Seltsamerweise gab es keine Stechmücken, obwohl es hier, soviel er wusste und auch nachgelesen hatte, Stechmücken eigentlich geben musste. Der Wald hier, dachte er, war doch derselbe wie in Finnland. Und in Finnland, sagte er, gibt es Mücken. Myriaden von Mücken, sagte er. Aber irgendwie fehlte ihm jetzt das Wort für Mücken.
Moustiques, sagte er versuchsweise, suchte aber weiter nach dem englischen Wort, sagte Malaria, machte irgendein Sirrr-Geräusch, fuchtelte mit den Händen dazu, sagte Musticci obwohl es ja Zanzara hiess, wie ihm zu spät einfiel, sagte schliesslich auch Mig, war sich für einen Augenblick sogar sicher, dass Mig Mücke hiess – warum sollte ein Flugzeug nicht Mücke heissen, natürlich hiess Mig Mücke, vor allem wenn man das Wort durch erneute Sssss-Geräusche unterlegte.
Die Migs seien Schrott, erwiderte sie kurz. So wie alles hier Schrott und hoffnungslos veraltet und verrottet sei – und machte mit der Hand eine Absturzbewegung. Sie mache sich da keine Illusionen, sagte sie. Auch in Bezug auf ihren Job hier nicht. Die Grenzen, die Borders, sagte sie, kämen zunehmend ausser Mode. Seien eigentlich immer nur dazu da gewesen, Unterschiede zu zementieren. Aber es gebe immer weniger Unterschiede. Oder siehst Du hier Unterschiede? Er sah keine. Cola-Büchsen lagen jetzt überall auf der Welt in der Gegend herum. Nur dass die Frauen nicht überall so flächendeckend geschminkt waren. Und über den Wangenknochen nicht durchwegs so herausfordernd glänzten.
Die einzigen Grenzen, die zu verteidigen sich lohne, hatte sie gesagt, seien die Grenzen, die man sich selbst setze. Sagte sie, nahm den Augenbrauenstift und zog um ihre Oberschenkel herum, zwei Handbreit überm Knie, eine gestrichelte Grenzlinie. Hier beginne ihre Border area, sagte sie. Also kein Gelände, um Grenzerfahrungen zu machen!
Der Eindruck, dass hier alles ins Leere lief. Ausser Moosen und Flechten, gelegentlichen Schlehen gab es nichts hinter dieser Grenze. Selbst die Apfelbäume trugen nur Holzäpfel! Einmal, auf einer seit Stunden leeren Landstrasse, wurden sie von wildem Gejohle überholt: Junge Burschen, die ihnen aus dem offenen Wagenfenster heraus den Mittelfinger zeigten. Dazu irgendwas brüllten. Was sie, wie sie vorgab, nicht verstand. Es dauerte, bis sich der Staub gelegt hatte.
Später an derselben Strasse, zwei einsame, von Bäumen überschattete Häuser, von denen das eine sperrangelweit offen steht. Drinnen dann eine Art von Laden, mit Broten, Konserven und Wurstwaren, welche der Ladenbesitzer, ein gebürtiger Este, auch scheibenweise verkauft. Die vier Scheiben, die er nach grossem Disput schliesslich herunterschneidet, essen sie sozusagen von der Klinge weg, trinken dazu drei Büchsen Ice-Beer. Mit den restlichen Büchsen setzen Sie sich höflichkeitshalber in die Schankstube. Trinken erst das Bier, dann, auf ihren Vorschlag hin, Wodka. Erst pur, dann mit Cola. Worauf er mit Blick auf ihre Schenkel, wo das Weiss der Haut mit dem rauen Filzstoff der Uniform kontrastiert, zu bleiben beschliesst. Das ihnen mehrmals angebotene Zimmer, wozu drei Ikonen, aber nur ein Krug mit Wasser gehören, nicht mehr länger ausschlägt. Bezüge gibt es keine neuen, das Kopfkissen aber wird vom Ladenbesitzer aufgeklopft.
Anfangs stört ihn der Lärm, den sie macht. Später stört ihn der Lärm, den sie macht, nicht mehr so sehr. Und als sie dann ruhig ist, auch ihr kleiner Hintern Ruhe gibt, glaubt er zu hören, wie das Haus, das die ganze Zeit den Atem angehalten hat, erleichtert aufschnauft. Wie er am Morgen erwacht, sieht er als erstes ihre braunen Uniformstücke. Sie sind nicht mehr über das ganze Zimmer verstreut, sondern ordentlich über den Stuhl gelegt: Rock, Uniformjacke, das moosgrüne Shirt, obendrauf die seltsame Spitzkappe mit dem Stern, wie sie schon von den Rotgardisten getragen worden ist. Nur die Beretta mitsamt der Koppel liegt wie eine grosse, gefährlich gerollte Schlange auf ihrem Nachttisch. In der Nacht hat ihr Gesicht etwas vom Schimmer verloren, ist gegen den Morgen zu ein bisschen matter geworden, und die leicht geöffneten Lippen könnten etwas Lippenstift schon vertragen.
Sie ist keine Soldatin, wie sie vorgegeben hat, kein Border Guard, hat für den Platz am Drehkreuz, wie sie sagt, bezahlt. Das heisst: ihn von einer mit ihr befreundeten Korporalin gekauft. Drei Dollars pro Diensttag, wovon ein Dollar an den diensthabenden Wachtchef geht. Was sich aber, sagt sie und schwenkt die Dollar-Noten aus seiner Brieftasche, auch bezahlt machen wird! Und jetzt, sagt sie, habe er die Wahl: Entweder die Freundin besuchen, die in der Kreisstadt einen Erotik-Shop betreibt oder zur Olga hinfahren, die zusammen mit ihrem Afghanen im Wald lebt.
Unterwegs sehen sie halbnackte Frauen, die sich zwischen den hellen Birken nach Blaubeeren bücken. Um beim Pflücken ihre Kleider zu schonen, sagt sie – und sie möge keine Blaubeeren. Stattdessen verpasst sie ihm eine ordentliche Leibesvisitation. Wozu er erst die Beine spreizen und sich dann mit den über den Kopf erhobenen Händen gegen eine Birke stemmen muss. Hinter ihm stehend tastet sie mit flachen Händen seinen Körper ab: von der Brust zum Gürtel fährt sie erst, dann hinunter zum Schritt, berührt flüchtig seine Eier, lässt sie gleich wieder los, um mit beiden Händen seine Hinterbacken zu packen. Die Art, wie sie nach ihm fasste, hatte etwas Routiniertes, etwas Professionelles, vielmal Erprobtes, wie er fand. Es war angenehm, sich in ihre Hände zu begeben.
Hier also hätten wir das Ding, sagt sie.
Mittleres Kaliber, sagt sie. Und ist nicht erstaunt, dass er dort, wo sie gerade stehen, im helllichtesten Wald der Welt, in sie eindringt. Wobei nach ihrem Nachgeben nun unversehens auch der Moosboden nachgibt und sein Vordringen ein vorzeitiges Ende hat.
Bei der Olga sind selbst noch die Johannisbeersträucher eingezäunt. Wegen dem Elch heisst es. Morgen wird es wegen der Wölfe heissen. Und wie die Olga den grossen Zaun öffnet, springen ihre zwei Hunde und ihre zwei Brüste heraus. Was nützt es, dass sie sich schnell noch das Männerhemd über den zu knappen Bikini gezogen hat. Sie ist nicht mehr jung, die Olga. Doch zwischen dem Autoschrott, der verbeult auf der Waldlichtung verrostet und den der Pjotr, der russische Leutnant, wie sie ihn nennen, in den letzten Jahren hier angeschleppt hat, seit dem Afghanistan-Krieg, sieht man das nicht.
Wie er wieder auf ihr liegt, ein letztes Mal, wie er glaubt, bei ihr liegt, sieht er, dass ihr rotes Haar um ihr weisses Gesicht herum eine Aureole bildet.
Wenn du auf mich schiessen müsstest, fragt er verzweifelt, wohin würdest du zielen? Zwischen die Augen, sagt sie, wie mechanisch – aus dieser Distanz.
Sie bemerkt sein Erschrecken wohl nicht. Klappt stattdessen den Kragenspiegel hoch und blickt aufmerksam hinein. Scheint zufrieden mit ihrem Anblick, klappt den Kragenspiegel wieder hinunter.
Morgen ist der dritte Tag, sagt sie. Morgen werden wir sehen, ob wir uns wirklich näher gekommen sind oder uns schon wieder entfremden. Was vielleicht, sagt sie, auch das Beste wäre. Sie sieht ihn an mit schmalen Augen und sieht alles voraus: Die Datscha, das er ihr kaufen wird und den Zaun, den er drum herumzieht. Einen soliden Maschendrahtzahn – gegen die Wölfe.
In der Nacht sagt er ihr, dass er sie geradezu grenzenlos liebt – und wiederholt es bis zum Morgen unklug noch vier Male.