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Marcus Hammerschmitt: Tagebuch der Entdeckung Afrikas 

Erster Tag

Neuerdings gesteigertes Interesse für meine natürliche Umgebung. 
Marienkäfer zur Untersuchung gefangen. Leider nur geringer Erkenntnisgewinn, Vergrößerung meiner alten Taschenlupe war zu mickrig, Käfer wurde beim Versuch des Zerschneidens völlig zerdrückt. 
Frau hat mich gefragt, was ich da am Küchentisch treibe. Hat sich noch nicht ganz von unserer Ägyptenreise erholt. Abends dann im Fernsehen historische Aufnahmen von der Großwildjagd in Afrika. Fand das einen noblen Sport, im Gegensatz zum Kommentator, der an ökologischen Vorurteilen litt. Sendung aufgezeichnet. Blutfontänen aus dem Hals der Giraffe, der Zusammenbruch des Elefanten. Im Internet nach Tropenhelmen gesucht. Gebrauchtes Exemplar ersteigert.


Zweiter Tag

Kartenmaterial gesichtet. Meine Kamera auf Funktionsfähigkeit geprüft. 
Mehrere Dutzend Pyramidenbilder vom Speicher gelöscht. Frau bis jetzt völlig ahnungslos. Glaubt, ich würde unseren Ausflug ins Tal der Könige nachbereiten. Den alten Humboldt aus dem Regal gezogen, gleich wieder zurückgesteckt. Die Amazonasgeschichten sind mir zu feucht. 
Brauche mehr Trockenheit und Hitze. Will dem Ruf des inneren Afrikas Folge leisten. Warte ungeduldig auf den Tropenhelm.

Nachtrag, tief in der Nacht:

Wie nicht anders zu erwarten davon geträumt, dass ich ein Massai bin. 
Beim Aufwachen Schwielen an der Hand vom Halten des Speers und des Schilds. Musste ins Bad, Wasser trinken, da meine Kehle staubtrocken war. Haut seltsam dunkel. Schnell geduscht, fühlte mich danach gleich wohler.


Dritter Tag

Nach der Arbeit Tropenhelm von der Post abgeholt. Passt leider nicht. 
Habe mir mit Zeitungspapier beholfen, will mich an die Überwindung von Widerständen gewöhnen. Von Ungeduld beseelt spontanen Entschluss
gefasst: wollte sofort zu den Wilden. Mit Tropenhelm, Kamera, Kletterseil und Taschenlampe vor die Haustür getreten. Dunkelhäutiger Prospektverteiler auf der gegenüberliegenden Straße hat mich zuerst angeglotzt, dann ausgelacht. Zusätzlich durch einen plötzlichen Regenguss zum taktischen Rückzug gezwungen worden. Über die Regenfestigkeit meiner bisher vorhandenen Rumpfausrüstung nachgegrübelt. Versucht, die Scham über den Spott des Prospektverteilers produktiv zu wenden: So einen rollenden Koffer wie der ihn hat, brauche ich auch.

Halte mich gegenüber meiner Frau noch bedeckt.


Vierter Tag

Teile meiner Ausrüstung mit ins Büro genommen. Gründliche Erforschung der Räumlichkeiten, vor allem durch Photographie und Vermessung. Vom Fenster aus Eingeborene auf der Straße geknipst, die in buntem Treiben mit dem Erwerb spärlicher Güter beschäftigt waren. Starke Sehnsucht danach verspürt, mich unter sie zu mischen, und den wilden Puls des armen, aber freien Lebens zu spüren. Gegenüber meinem normalen Berufsalltag sehr kritisch eingestellt gewesen. Tropenhelm vermisst.

Nach der Arbeit Rollkoffer gekauft, und nach Hause transportiert. Vom Reisefieber geschüttelt verschiedene Utensilien im Rollkoffer
verstaut: Wanderkompass, Taschenmesser, zwei Flaschen stilles Wasser, Schlafsack, Isomatte, Fernglas, Vitaminpillen, Medikament gegen Reisekrankheit, Erlenmeyerkolben und Reagenzgläser, Erfrischungstücher, Kriminalroman, Butterkekse. Frau war bei der wöchentlichen Shiatsu-Massage, daher kein Aufsehen erregt. Durch den Hinterausgang in den Garten getreten. Abendluft tief eingeatmet. Das chinesische Sprichwort zum Thema Reisen laut memoriert. Tropenhelm wegen mangelnder Passform noch einmal auf meinem Kopf zurecht gerückt und Zeitungspapier justiert. Danach zusammen mit dem Rollkoffer den Zaun zum Nachbargrundstück überwunden. Kleines Basislager eingerichtet, und dem Rollkoffer die wichtigsten Ausrüstungsgegenstände entnommen. Sofort mit einer Unzahl verschiedener pflanzlicher Spezies konfrontiert gewesen. Proben genommen. Dann plötzlich auf eine Wilde getroffen, die nackt auf einer Campingliege in der Abendsonne lag. Hat mich verdutzt angesehen. 
Wollte sie fotografieren, löste bei ihr dadurch heftige Reaktion aus: 
Sprang auf, griff sich ein bereitliegendes Badetuch um sich damit zu bedecken, und begann mich gleichzeitig übelst zu beschimpfen, auf Deutsch. Will hier nicht wiederholen, was sie mir an den Kopf geworfen hat. Flucht ergriffen. Beim Sprung mit dem Rollkoffer über den Gartenzaun gestürzt und glücklicherweise in einen uneinsehbaren Teil meines eigenen Gartens gerollt. Gewartet, bis sich die Wilde von der Grenze zwischen unseren Grundstücken zurückgezogen hat. Im Schutz der Dunkelheit nach Hause zurückgekehrt. Über die Grundlagen meiner Forschertätigkeit gründlich nachgedacht. Reichlich Alkohol getrunken.


Fünfter Tag

Beim Frühstück von meiner Frau darauf hingewiesen worden, dass im Viertel ein Spanner sein Unwesen treibe. Die beste Freundin unserer unmittelbaren Nachbarin sei selbst von ihm belästigt worden. Er habe sie beim Sonnenbaden zu fotografieren versucht. Sein Gesicht sei nicht zu erkennen gewesen, weil er einen Tropenhelm getragen habe. Die Freundin der Nachbarin habe ihn, wie im Selbstverteidigungskurs empfohlen, durch lautes Schreien vertrieben; auf der Flucht sei er über den Zaun zu unserem Grundstück gesprungen und dann verschwunden. 
Habe meiner Frau milde widersprochen. Nicht jeder, der einen Tropenhelm trage, müsse gleich als Spanner betrachtet werden, meinte ich. Frau hat mich mit gerunzelter Stirn gemustert.

Zur Arbeit gegangen, Bildband über die Serengeti studiert.

Bei der Heimkehr sofort wieder unbändiger Forscherdrang. Gewitzigt von der Vortagserfahrung Tropenhelm zu den anderen Sachen im Rollkoffer getan, dann erst losgezogen. Erster Halt: der Kanal am Ende der Straße. Ausrüstung hervorgeholt. Der Kanal führt gerade wegen anhaltender Hitze sehr wenig Wasser. Wadiähnliche Struktur konstatiert und mit der Kamera dokumentiert. Unter Anwesenheit verschiedener Eingeborener. Junge wilde Mutter mit Nasenring und Würstchenhaaren hat mich auf meine Tätigkeit angesprochen. Auch dieses Wadi ist anscheinend früher deutsche Kolonie gewesen, Deutschkenntnisse sind weit verbreitet. Habe ihr erklärt, dass ich alles erforsche, auch sie. 
Hat mich zweifelnd angesehen und dann die rechte Hand scheibenwischerartig vor ihrem Gesicht hin- und herbewegt. Hat sich danach entfernt. Habe mir nichts anmerken lassen. Wasserproben genommen. Kinder der Würstchenhaarfrau haben mich aus sicherer Entfernung mit Steinen beworfen. Nicht getroffen. Habe in mein Notizbuch geschrieben: Eingeborene sind zunächst freundlich, dann aber falsch.

Am späten Abend von meiner Frau zur Rede gestellt worden. Irgendwas sei doch im Busch, das könne sie doch spüren. Habe nicht mehr hinter dem Berg halten können, und ihr meine Forschungsergebnisse, meine Fotos, sowie meinen Tropenhelm gezeigt. Frau war sehr interessiert. 
Dann hat sie mir über den Kopf gestreichelt und gesagt:

"Ich verlasse dich jetzt. Mach's gut."

Später dann aus ihrem Zimmer lautes Weinen gehört. Ist über meinem Kopf hin und her gegangen. Noch später Zeuge gewesen, wie sie zwei schwere Koffer durch das Treppenhaus manövriert hat. Wollte sich nicht helfen lassen. Hat keine Antwort auf die Frage gegeben, wohin sie geht. Gleichfalls keine Reaktion auf meine Anregung, dass wir doch gemeinsam auf Forschungsreise gehen könnten. Hat beim Abschied nicht gewinkt. Lage scheint ernst zu sein.

Vor dem Zubettgehen einen pusteligen Ausschlag an meinen Beinen festgestellt, Ursache wahrscheinlich das verschmutzte Wasser im Wadi. 
Hat bei der Inspektion böse zu jucken angefangen. Mich darüber gefreut, dass die steinewerfenden Kinder der Wilden wahrscheinlich aussehen, als hätten sie die Beulenpest. Cortisonsalbe aus meiner Expeditionsapotheke eingesetzt, danach schnelle Beruhigung.

Zum ersten Mal Livingstone wirklich verstanden.


Sechster Tag

Eingesehen, dass ich die Sache bisher völlig falsch angepackt habe. 
Ganz klare Fehlkalkulation, was die Dimension des Vorhabens angeht. 
Daher im Job einen formlosen Antrag an das Bundesforschungsministerium geschrieben, um Trägersklaven und Fuhrpark finanzieren zu können. Zur Sicherheit auch Scotts Irrtum mit den Ponys erwähnt. Bin von einem Kollegen darauf angesprochen worden, dass er seit Tagen bestimmte Berichte von mir erwartet. Habe ihm klar gemacht, dass andere Dinge Vorrang haben. Antrag an das Ministerium gleich ausgedruckt und nach der Arbeit zur Post gebracht.

Bei der Heimkehr leider auf dem Anrufbeantworter keine Nachricht von meiner Frau gefunden. Ist möglicherweise in eine Gegend abgereist, in der Telefone noch nicht zum Alltag gehören.

Den Biss der Einsamkeit im Nacken gespürt. Mich wie ein Welpe ohne Mutter gefühlt.

Erfahren, dass der Zoo an diesem Abend länger auf hatte. Hingegangen. 
Den Löwen vertraut zugewunken. Im Reptilienhaus kurz an den Ankauf einer Boa gedacht, mich dann aber daran erinnert, dass ich Schlangen nicht mag. Bei den Chitintieren an meinen Respekt vor Skorpionen erinnert worden. Beschlossen, jetzt öfter in den Zoo zu gehen, um mich für die anstehenden Strapazen und Gefahren abzuhärten. Mich daran erinnert, dass einige der frühen Afrikaforscher sehr ängstlich gewesen sein sollen, aber über die Angst triumphiert haben.

Dann wieder Alkohol. Mitten in der Nacht Aufbruch zu einer Exkursion im Dunkeln. Magisch angezogen worden von hellen Dingen, wie Verkehrsampeln und Telefonsäulen. Laut Datenspeicher meiner Kamera auch einiges davon fotografiert. Anscheinend Zusammenstoß mit der Polizei, ist aber meinen lückenhaften Erinnerungen nach glimpflich abgelaufen. In der Aufregung des Tropenhelms verlustig gegangen. 
Tiefes Bedauern darüber empfunden, sofort den Entschluss gefasst, im Internet nach einem neuen zu suchen.


Siebter Tag

Kopfweh gehabt und daher nicht zur Arbeit gegangen. Die Gelegenheit zur Erforschung des Wohnzimmers ergriffen. Eine gewisse Befriedigung über die Tatsache verspürt, dass einige der Zimmerpflanzen aus exotischen Weltgegenden stammen. Hauptergebnis des Vormittags: 
Pflanzen sind zu trocken. Wasser zugeführt.

Einen neuen Tropenhelm ersteigert, wenig später meinen alten in der Toilette wiedergefunden. Mich gewundert. Tropenhelm war in der Kloschüssel, völlig bedeckt von Spülwasser. Spülwasser, das bis Oberkante Unterlippe in der Kloschüssel hoch stand, war massiv von organischem Material verunreinigt. Umfeld der Kloschüssel gleichermaßen großflächig dreckig. Vermute, dass ein durch den Tropenhelm hervorgerufener Verstopfungseffekt wiederholte Spülungsanstrengungen vereitelt hat. Erst Badezimmer gereinigt, dann dem Alkohol für immer abgeschworen. Besudelten Tropenhelm ebenfalls gereinigt, bis nichts mehr zu riechen war. Wink des Schicksals
begriffen: Wenn jetzt der zweite Tropenhelm kommt, kann ich meiner Frau einen abtreten. Hätte schon viel früher daran denken sollen. 
Ihren Namen mit Bleistift an die Wand meines Arbeitszimmers geschrieben. Sah aber doof aus, dieser "Franziska"-Schriftzug auf der weißen Raufaser. Versucht, ihn auszuradieren. Sah dann leider noch doofer aus als vorher. Mich gefragt, was das jetzt alles wieder soll.

Bei Nachforschungen zur Ernährungssituation auf erschreckende Zustände gestoßen. Da Frau den wöchentlichen Einkauf nicht getätigt hat, wirkte Kühlschrank wüst und leer. Zuerst Wut auf sie empfunden, dann selber tätig geworden. Im Supermarkt misstrauisch gewesen. Der Einkauf von Nahrungsmitteln fällt normalerweise nicht in meine Kompetenz, daher davon ausgegangen, dass mich die Wilden übers Ohr hauen wollen. 
Rückgeld dreimal nachgezählt und in die goldfarbenen Münzen ostentativ hinein gebissen. Festgestellt, dass Geld schlecht schmeckt. Bei der Vorstellung Bauchweh bekommen, dass durch diesen sinnlosen Akt Bakterien von den Händen der Wilden auf mich übertragen worden sein könnten. Kurz an einen Arztbesuch gedacht, dann mich am Riemen
gerissen: Wie hätte Livingstone reagiert? Im nebenliegenden Baumarkt weiße Wandfarbe und einen Pinsel gekauft. Wand im Arbeitszimmer gestrichen. Fällt jetzt kaum noch auf, dass die drei anderen Wände ein wenig dunkler sind. Sehr früh zu Bett. Davon geträumt, der russische Staatspräsident zu sein, der auf einer gleichgeschlechtlichen Hochzeit Balalaika spielt und ein trauriges russisches Hochzeitlied zum besten gibt.


Achter Tag

Ausgeruht und beschwingt zur Arbeit gegangen. Fristlose Kündigung entgegengenommen. Dem Chef entgegengeschmettert, dass mir der Rausschmiss wegen eines anstehenden Karrierewechsels gerade recht komme. Chef dadurch um seine gute Laune gebracht. Nach dem Ausräumen meines Schreibtisches schnell noch mit Bleistift den Umriss Afrikas an die Bürowand gezeichnet. Hat wegen meiner Detailverliebtheit etwas länger gedauert. Beschlossen, meinem Chef aus Burkina Faso eine Ansichtskarte zu schreiben: Vorderseite - landestypische Ansicht; Rückseite - ein von mir selbst gezeichneter Hintern. Am Bankomaten mein Guthaben überprüft. Festgestellt, dass die materielle Vorbereitung meiner Expedition meine Rücklagen unvermutet schnell zum Abschmelzen bringt. Leider noch immer keine Antwort vom Bundesforschungsministerium.


Neunter Tag

In der Nacht schwere Sinnkrise durchlitten. Plötzlich mit überwältigender Klarheit eingesehen, dass meine Expeditionspläne möglicherweise auf tönernen Füßen stehen. Finanzielle Probleme, logistische Unstimmigkeiten sowie die Abwesenheit meiner Frau könnten das Unternehmen scheitern lassen, wie einst Scotts Wettrennen gegen Amundsen. Eingesehen, dass die vorschnelle Annahme der Kündigung, sowie die Dekoration der Bürowand mit dem Afrikaumriss wohl als Impulshandlungen zu werten sind, die meine Lage erschweren. Meine Leidenschaft als wildes Tier erkannt, das der Züchtigung bedarf, damit seine Kraft in produktive Bahnen gelenkt werden kann. Dann völlig unvorbereitet vom schwärzesten Gedanken der ganzen Nacht getroffen
worden: dass Afrika möglicherweise bereits komplett entdeckt ist. Von den Konsequenzen dieser Idee nahezu erdrückt worden. Tief beunruhigt eingeschlafen.

Morgens sofort meinem Schicksal in die Augen gesehen und mit ähnlicher Klarheit wie in der Nacht erkannt, dass die Ziele meiner Expedition umdefiniert werden müssen. Ohne jeden Skrupel die Entdeckung Afrikas nun durch ein völlig anderes Erkenntnisinteresse ersetzt: Will jetzt herausfinden, ob in dem einstmals dunklen, nunmehr aber schon grunderhellten Kontinent noch alles seine Ordnung hat. Sehr grobe und vorläufige Liste mit den dringendsten Anliegen einer solchen Kontrollexpedition erstellt. Löwenzählung, Giraffengesundheitsprüfung und Analyse sowie Verkostung von Kilimandscharoschnee gehören dazu. 
Dem unmittelbaren Expeditionsbeginn aber die Auffindung meiner Frau vorgeschaltet. Vermutet, dass sie sich zu ihrer alternden Mutter nach Osnabrück abgesetzt hat. Beschlossen, dass ich Osnabrück für exotisch genug halten will, um meine neu aufgestellte Expedition genau dort ernsthaft beginnen zu lassen, vorausgesetzt, dass ich meiner Frau habhaft werden kann. Habe am Fahrkartenschalter der Kinshasa-Bahn einen Beförderungsvertrag für die Reise nach Osnabrück abgeschlossen. 
Über die Modernität des Buchungsvorgangs erstaunt gewesen, offenbar kommt großflächig elektronische Datenverarbeitung zum Einsatz. Während der ganzen Zeit vom Schalterbeamten, der offensichtlich aus der ehemaligen DDR stammte, seltsam angesehen worden. Ihn dann gefragt, ob er noch nie einen Man mit Tropenhelm gesehen habe. Als Zeichen meiner Entschlossenheit den Helm auch auf dem Nachhauseweg nicht abgesetzt. 
Will ihn aus demselben Grund auch beim Kofferpacken aufbehalten.