Kerstin Kempker: Der Immerschwimmer
Um nicht einzuschlafen, kurbele ich das Seitenfenster herunter und halte mein Gesicht in den nächtlichen Fahrtwind. Nur nicht einschlafen, mein Mantra, mein einziger Gedanke, während die Scheinwerfer eine leere immergleiche Landstraße absuchen nach Kurven und Hindernissen. Nur nicht einschlafen, summe ich, weiße Mittelstreifen geben den Takt, das schwarz geteerte Band rollt unter mir ab. Bin es doch selber, die die Richtung halten soll und das Band zum Stehen bringen. Bin es doch selber, summe ich, nur nicht einschlafen, bin es doch selber, immer im Wechsel, bis endlich wieder ein Ortseingangsschild im Dunkeln vor mir auftaucht.Sein grelles Gelb ruft ‚Nonnenhorn’ und ich beschließe, mir einen Schlafplatz zu suchen in diesem Ort am See, in Nonnenhorn. Nur niemanden wecken, kein Sturmläuten, langsam fahre ich an den Rücken der hohen Villen entlang, die links von mir, versteckt hinter Bäumen, den See bewachen. Ihre schöne Seite schaut hinunter zum See. Gib mir ein Zeichen, wo ich dich am wenigsten störe, du Nonnenhorn; ich bin auch ganz leise, will doch nur schlafen, und dann ziehe ich weiter. Der Ort schickt mir eine hellblaue Leuchtschrift, sie scheint zu schweben. Ich halte an. ‚Zum Immerschwimmer’ steht nicht am Himmel, sondern auf Mauerwerk, und darunter ‚Pension’.
Zum Immerschwimmer, nur nicht einschlafen, bin es doch selber, summe ich mich aus dem Wagen, stelle wachsweiche Beine auf die Straße und bewege sie zum Eingang der Villa. Alt ist sie, herrschaftlich. Ich drücke gegen das Eisentor, es gibt unter Gejammer nach, durchschreite den Vorgarten und jetzt weiß da drinnen jemand Bescheid, jetzt ist die Tür beleuchtet, jetzt wird alles gut.
„Kommen Sie! Sie haben Glück“, sagt die Frau in der Tür und schiebt mich vor sich her in einen Schankraum. Mit der Linken knipst sie die Deckenbeleuchtung an, ein Wagenrad unter gelben Lichtern, mit der Rechten schiebt sie mich. Wie mit einer Pistole, ich lache und drehe mich um, schaue in helle glasige Augen und gebe der kleinen Frau in Kittelschürze meine Hand und meinen Namen. Für eine Nacht, aufs Wasser raus, das Frühstück gerne spät, ich melde mich dann.
Im ersten Stock betrete ich ‚Edeltraud’, mein Zimmer. Abschließen werde ich nicht, schlängele mich an dem massiven Ehebett vorbei zum Fenster, öffne seine Flügel und schaue über den Garten zum See. Ein kitschiger dicker Mond spiegelt sich. Immerhin, er ist echt, so echt wie damals am Strand der fette orangegelbe Ball, den ich für einen überdimensionierten Lampion hielt, bis er zu wandern begann.
Jetzt falle ich in die große Bettkiste, Daunen und Federn. Noch rasch alle Lichter an, ein Blick unter das Bett, Macht der Gewohnheit, in den Schrank. Alles frei, du kannst kommen, Schlaf, hol mich ab. Ich rolle zwischen weißen Streifen ins Schwarze. Mehr, mehr, ruft der kleine Häwelmann. Ich will nicht mehr fahren, nur schlafen.
Es muss schon spät sein, unverschämt spät. Ich eile die Treppe hinunter und folge meiner Nase in den Schankraum, Kaffee.
„Guten Morgen! Hatten Sie eine angenehme Nacht?“
In dicken Socken und Gesundheitsschlappen tapst die Wirtin hinter dem Tresen hervor, gebückt und sehr wach. Sie stellt ein Tablett mit warmen Brötchen, Butter, Marmelade, Milch und Kaffee vor mich auf den für zwei Personen gedeckten Tisch und fragt, während sie sich zu mir setzt:
„Frühstücken wir zusammen? Ist schon mein zweites. Aber immer so allein. Ist’s Ihnen recht?“
Es ist mir recht, noch weniger ist es zu ändern. Sie schenkt uns ein, ich schaue mich um. Kein Blick aufs Wasser, die Fenster sind zugehängt mit schweren nikotingestärkten Vorhängen. Nippes auf den Fensterbrettern, damit nur ja keiner auf die Idee kommt, eines öffnen zu wollen. Die fensterlose Wand gegenüber ist mit Fensterimitaten bemalt, Blick auf die Berge, eingefasst von rotweiß karierten Vorhängen, mit Zopfgummis gerafft an der Wand fixiert.
„Wissen Sie, im Sommer ist hier der Teufel los. Aber jetzt, obwohl es im Herbst so schön ist, zappenduster. Ist Zufall, dass Sie mich noch erwischt haben. Ich packe schon. Von Oktober bis Februar fahre ich nach Hause.“
Ich muss sie nur fragend angucken, schon fährt sie fort.
„Ich bin gebürtige Essenerin, Ruhrpott. Die ganze Verwandtschaft, was davon noch lebt, werden ja weniger jedes Jahr, die leben alle in Essen, Kettwig, Mülheim. Weiter ist keiner gekommen. Ist ja ein eigener Schlag da. Heimisch werd ich hier nicht. Ich sehn mich halt immer. Wenn ich dort bin, nach hier. Und von hier aus nach Norden, da komm ich halt her. Essen Sie tüchtig. Wo müssen Sie denn noch hin heute? Puh, das ist auch nicht um die Ecke. Ne, in Frankfurt, da war ich nie.
Als Kind hab ich in diesem Haus gelebt. War meine schönste Zeit. Kinderlandverschickung. Dreiundvierzig, da war ich sieben. Wir sind ins Paradies gekommen. Äpfel und Birnen sind vom Himmel gefallen. Zuhause sind wir bald jede Nacht bei Alarm runter in den Kohlenkeller. Und hier ausschlafen, satt essen, baden, das Paradies. Ich bin immer wieder hierher gekommen bis einundsechzig, da ist die Frau Maria gestorben. So hab ich sie immer genannt. Eine feine Frau.“
Die Wirtin nimmt einen Schluck Kaffee und blickt in ihre leere Tasse.
„Hat sich allein durchgeschlagen mit ihrem Sohn. Albrecht, ein komischer Kauz. Sehen Sie das Foto?“
Sie deutet mit dem Kinn hinter mich.
„Das ist er. Albrecht, der Immerschwimmer. Vierundfünfzig, in dem Dreh muss das gewesen sein.“
Weil ich meinen Frühstücksplatz nicht verlasse, holt die Wirtin den kleinen verglasten Bilderrahmen von der Wand, wischt ihn mit dem Schürzenzipfel ab und reicht ihn mir so vorsichtig, als dürfe das Bild auf keinen Fall Schaden nehmen. Der schmächtige Junge auf dem vergilbten Schwarzweißfoto ist vielleicht vierzehn, höchstens sechzehn Jahre alt. In Badehose steht er am Rand eines Bootsstegs und schaut aufmerksam in die Kamera. Es ist nicht der traurige Ernst, der mich gefangen nimmt, auch nicht die Verletzlichkeit, die der magere Leib ausstrahlt. Es ist eine besondere Kraft, deren Quelle ich suche, ein physikalisch haltloser Schwerpunkt und eine seltsame Transparenz.
Die Wirtin hat mich am Haken. Ohne dass ich aufschaue von dem Bild, fließt ihre Erzählung mir da hinein.
„Immerschwimmer hat der Albrecht schon als Kind geantwortet, wenn ihn jemand gefragt hat, was willst du denn einmal werden? Er hat Ernst gemacht, mit Zwanzig ist er im See geblieben. Über vierzig Jahre ist das jetzt her. Aber die Leute erzählen ihren Kindern noch immer, dass da draußen der Immerschwimmer ist.“
Sie deutet auf die Vorhänge, die den See verbergen. Wen sollen sie schützen? Die Gäste, auf die ein kleiner Schauer zwar anregend wirkt, die ihn bei Bedarf aber wieder vergessen sollen?
„Die Leute packen ihre Wünsche und Ängste auf ihn, das Wunder ihrer Kindheit, ein lokales Wunder und ein ganzjähriges dazu. Sei fleißig, streng dich gefälligst an. Willst du enden wie der Immerschwimmer?, drohen sie ihren Kindern. Sonntags spazieren die Familien mit kleinen Tüten zum See hinunter. Die Kinder suchen nach Rinden und Holzstücken, auf denen sie für ihn Speisereste zu Wasser lassen.“
Ich nehme ein zweites Brötchen aus dem Korb und lasse sie weiterreden, während ich es aufschneide, ein Duft, und seine Hälften mit Butter und Marmelade bestreiche.
„Entenfüttern ist langweilig. Aber der Immerschwimmer, der lockt sie aus ihren Häusern. Ist ihm nicht kalt?, fragen die Kinder. Die Eltern trösten sie, so gut sie können: Er hat sich gewöhnt daran. Er trägt ein Schuppenkleid. Er ruht auf dem Rücken der großen Fische und schläft in einem untergegangenen Schiff auf weichen Polstern. So können Sie sie sonntags reden hören.
Er braucht ihre Hilfsmittel nicht, am wenigsten die Speiseschiffchen, immer nur sonntags. Am Ufer lässt er sich nicht blicken. Auch wenn ihn nach all den Jahren niemand mehr einfangen und an Land bringen wird, er bleibt auf der Hut.“
Glaubt die Wirtin wirklich, der Junge, an den sie sich kaum erinnern wird, sei mit Zwanzig nicht einfach ertrunken, sondern seiner Berufung gefolgt? Denkt diese kleine patente Frau, die allein eine Pension führt und also mit Menschen, Behörden, Geld und Handwerkern umzugehen weiß, tatsächlich, der Immerschwimmer, der jetzt im Pensionsalter sein müsste, schwimme noch immer? Fürchtet sie, er könne eines Tages nass und zerzaust aus dem Wasser steigen und an ihr Fenster klopfen? Was sagt sie?
„Die Schiffchen, wirklich gesehen hat noch keiner, ob es der Immerschwimmer ist, der sie abräumt, oder das Wasser selber. Wer aber lange genug am Ufer steht und nach ihm Ausschau hält, der sieht ihn irgendwann, in der Ferne.“
Als würde sie merken, dass sie zu weit gegangen ist, bietet die Wirtin mir noch einen Kaffee an. Ich muss weiter. Spinnereien kann ich jetzt nicht gebrauchen. Gehen kann ich so auch nicht. Ich frage sie:
„Erinnern Sie sich noch an Albrecht? Wie war er als Kind?“
Fakten will ich, keine Altweiberfantasien.
„Albrecht, ja, so hieß er. Später war er nur noch der Immerschwimmer. An Albrecht, auch an den Namen, erinnern sich nur die Alten. Er war vielleicht drei, als ich hierher kam, und demnach fünf, als wir zurück nach Essen zogen. Damals habe ich nicht viel von ihm mitbekommen. Ein Dreijähriger ist für eine Siebenjährige uninteressant. Ich mochte seine Mutter, die Frau Maria. Sie hatte ihren Rhythmus und eine Ruhe, nichts hat sie da rausgebracht. Etwas Unerschütterliches, auch ihrem Sohn gegenüber. Sie hat ihn nicht vom Wasser ferngehalten. Aber selber hat sie nie einen Fuß da hineingesetzt. Als er dann verschwand, war sie noch ruhiger als sonst. Sie blieb bei ihren Tagesverrichtungen. Bei meinem letzten Besuch, einundsechzig war das, habe ich oft am Ufer gestanden und Ausschau gehalten. Mit den Leuten geredet, ob es Zeichen gibt. Weil mit ihr konnte ich nicht reden. Sie sagte immer nur: Er kommt oder er kommt nicht. Er kam nicht und sie ist gestorben. Ohne Tamtam, einfach tot. Am einen Tag noch das übliche Programm, Zimmer herrichten, Gäste bewirten, Gartenarbeit, Abrechnung. Am nächsten Tag tot.
Der Junge, ich weiß nicht viel über ihn. Wenn das Foto nicht wäre, ich könnte ihn kaum beschreiben. Flüchtig war er, flüchtig, ich weiß kein besseres Wort. Irgendwie unfertig, wie eine schnell hingeworfene Zeichnung, angedeutet, nicht ausgemalt. Verstehen Sie? Es fiel nie besonders auf, wenn er im Raum war. Und wenn er nicht da war, fehlte er nicht. Ich kann mich nicht erinnern, dass er gesprochen hat. Er war aber auch nicht stumm. Das wäre mir aufgefallen.“
Ich bin wütend auf die Wirtin und weiß nicht weshalb. Wie sie über den Jungen spricht, den sie kaum bemerkt hat. Du gehst jetzt, sage ich mir, ohne Umschweife. Ich verabschiede mich herzlicher, als ich eben noch dachte. Sie fährt morgen oder übermorgen, das Haus steht im Winter leer.
Schon fast am Tor, beschließe ich, die Villa einmal zu umkreisen. Auf den roten Dielen der überdachten Veranda gehe ich um zwei Ecken und dann die Stufen hinab durch hohes Gras zum Ufer und schaue wie der Junge auf dem Foto vom Steg zurück zum Haus. Es war ein Abschiedsblick, mit dem er sein Zuhause betrachtete. Am Ende des kurzen schlierigen Stegs setze ich mich auf nachgiebige Bohlen, hänge die Beine ins Wasser, noch warm genug zum Baden. Ein See, weit wie ein Meer.
Fern vom Menschengeschnatter im Wasser liegen, er hat nie etwas anderes gewollt. Schon als kleiner Junge hat er auf die Frage, was er denn einmal werden wolle, mit der größten Selbstverständlichkeit geantwortet: Immerschwimmer. Als ihm die Erklärungen, die sie ihm daraufhin abverlangten, zu mühsam wurden, hat er zu schweigen begonnen. Und irgendwann nahmen die Leute an, er könne nicht sprechen, und ließen ihn in Ruhe.
Wie alle hat er sprechen gelernt, aber kaum gesprochen. Es muss ihm etwas gefehlt haben, ein Grund, eine Absicht, etwas so Selbstverständliches, dass niemand es zu benennen wusste. Ihm selber fehlte es nicht, er spürte nur diesen Unterschied, die gespannte Feder, an der seine Kameraden zappelten, scherzten und sich stritten, lauter und bunter als die Vögel, kantig wie frisch gebrochene Äste. Schutzlos mögen sie ihm vorgekommen sein, die aufgeregt hastenden Menschen, die einen Kampf kämpften, den er nicht kannte. Sie sagten von dem Jungen: Der ist zurückgeblieben, ist nicht ganz richtig im Kopf. Und er blieb zurück, blieb gerne und immer weiter zurück. Er blieb im Dorf, als alle aufbrachen in die Welt und er die Schule gerade so hinter sich gebracht hatte, ohne jeden Ehrgeiz, nur mit den Ablagerungen, die eine beständige Anwesenheit und oberflächliche Aufmerksamkeit über die Jahre hinweg ohne seinen Willen in ihm gebildet hatten.
Als er keinen Grund mehr sah, an Land zu gehen, ist er im See geblieben. Er kleidet ihn sommers in Samt und im Winter in seiner Tiefe in kühles Schweigen. Er trägt ihn, unterhält ihn mit Farben und Lichtspielen, sanften Unterwassertönen. Er streichelt und neckt ihn im Dickicht. Es gibt kein Warum, kein Wie lange, kein Wohin, nur ihn im See, frei von jeder Anstrengung. Alles ergibt sich von selber, ganz ohne sein Zutun bewegen sich ihm Arme und Beine. Ein sanfter Mensch treibt durch sein Leben.
Als Kind wusste er nicht zu unterscheiden zwischen Traum und Wirklichkeit. Beides galt ihm gleich viel und gleich wenig. Die Hexen und Bösewichter der Märchen schreckten ihn nicht, das Gute bot keine Verlockung. Er hatte etwas Durchsichtiges, Konturloses, die Leute vergaßen seine Anwesenheit. Er machte kein Aufsehens, tauchte auf, verschwand. Geduldig hörte er ihnen zu, ohne ihre Aufregung, ihren Eifer zu begreifen. Sich einzumischen kam ihm nie in den Sinn. Keiner erinnert sich, je gehört zu haben, wie er gerufen wurde. Seine Pausen im Wasser wurden mit der Zeit immer länger.
Ich bin ganz im Wasser. Mit dem ruhiger werdenden Atem werden auch die Züge langsamer. Immer auf diesem Wasser liegen, den Boden nicht kennen, nicht sehen, aber jederzeit zu ihm hinabsinken können. Im Ungefähren schwimmen, sicher wie nie, kein Horizont, nur unendlich viele nach innen und nach außen gewölbte Wasserspiegel. In ihnen der Himmel und langgestreckte Bäume, an deren Stämmen ich hinausschwimme, kein Land mehr, nur noch Himmel, der das Wasser wiegt. Kein Widerstand, nur dieser eine beständige des Wassers, den ich längst nicht mehr spüre.