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Christiane Höhmann: Snowbirds 

Wenn ich für einen Augenblick meinen Platz auf der Hotelterrasse verlasse, stürzen sie sich über die Stühle auf den Tisch, sind mit einem Sprung an meinen Teller und fressen das Rührei, lecken am Ketchup und schnuppern am Brot, dabei stoßen sie sich gegenseitig beiseite und fauchen sich an.
Wilde Katzen, klein, mit vorstehenden Rippenbögen.
Ich komme zurück, schiebe den Teller beiseite und nippe an meinem Kaffee – sie gruppieren sich auf dem Rasenstück neben mir in der Sonne wie auf einem Kalenderfoto - die winzige, weißgraue sitzt aufrecht wie aus Porzellan neben der rotbraun-gestreiften, die schwarze davor in Lauerstellung – sie schauen mich an mit ihren niedlichen Gesichtern und warten, dass ich wieder verschwinde. Denn schließlich sind sie nicht satt zu kriegen, so lange es Kellner gibt, die halb geleerte Teller wieder abräumen.
Mein Mann hat Sex mit seiner Schreibkraft, deshalb bin ich unterwegs, mitten im Winter.
Als ich sein Büro betrat, kniete sie vor ihm, er lehnte rücklings über dem Schreibtisch mit geöffneter Hose, so hatte ich ihn nie gesehen.
Das mit dem Mädchen wäre nicht so schlimm gewesen, wenn er mich nicht hätte hungern lassen, all die Jahre, auch ich habe hervorstehende Rippenbögen, mein Gesicht war einmal niedlich, wenn grelles Licht darauf fällt, verwandelt es sich in das einer Mumie.
„Wechseljahresanorexie“ nennt es mein Hausarzt. „Sie müssen mal was für sich tun. Sie müssen mal raus.“

Heute Morgen im Spiegel  war ich  schön – mit den anderen Frauen meines Alters gar nicht vergleichbar, schlaffe Matronen in Badekleidung, aus der Fettwülste quellen, oder blasse Ziegen mit Faltengesichtern und grellem Lippenstift.
Ich war immer schön, spanisch schön, wie mein Mann und unser Sohn, niemand hätte je gedacht, dass nur mein Mann aus Barcelona stammt, dass ich eine Deutsche bin mit dunkelblauen, leicht schräg gestellten Augen und schwarzen Haaren.
Dies ist meine dritte Woche hier im Hotel auf einer spanischen Insel, zusammen mit wenigen weiteren Gästen und den Katzen, denen ich Namen geben und die ich eines Tages streicheln werde, wenn ich vor Keimen und Bakterien nicht mehr zurückschrecke.
Jeden Abend stehe ich an der Bar und mustere die Gäste, die der Bus vom Flughafen in der letzten Nacht gebracht hat, schätze ab, wie lange sie hier bleiben werden – eine Woche, zwei Wochen oder vielleicht mehrere Monate. Das Hotel ist ein beliebter Ort zum Überwintern.
Wenn mir einer gefällt, pflanze ich das Wort „tanzen“ in ihn. Tanzen gehen müsste man hier, in der Wärme und Exotik des spanischen Winters, tanzen gehen mit der hübschen Spanierin gegenüber, mit mir.
Aber meistens starrt mein Gegenüber weiter in sein Bier, bestellt schon mal das nächste und überlegt wohl, wie er es drei Monate hier aushalten soll.
Ich lasse meine Augen auf Pablo fallen, den jungen Barkeeper, er dreht sich, schwingt die Hüften zur Musik, seine Augen, tiefbraun und groß, versenkt er spielerisch in meine, dann in die Augen meiner Nachbarin.
Er nennt die Touristen beim Vornamen, macht ein paar Tanzschritte, während er den Cocktailshaker kreisen lässt, kommt plötzlich hinter dem Tresen hervor und fängt an, meiner Nachbarin, einer älteren Frau aus Heilbronn, den Nacken zu massieren, was diese, sich verlegen windend, genießt.
Im Gang zur Toilette steht ein Mann mit offener Hose vor mir. Er fummelt an sich herum, ich schaue ihm kurz ins Gesicht. Es ist der junge Spanier, mit dem die Blonde aus Magdeburg hier wohnt. Jedes Jahr quartiert sie sich mit ihm im Hotel ein. Wenn sie weg ist, hat er wieder Zeit für seine Freundin.
Rasch gehe ich an ihm vorüber, Pablos Cocktails haben mich unempfindlich gemacht gegen einen Schwanz, der mir ungebeten entgegen gehalten wird.

Der Höhepunkt des nächsten Tages ist Manuel. Gegen Mittag erhebe ich mich von der Liege unter dem Sonnenschirm und spaziere zu seiner Massagebude am Strand, wo er mich empfängt, dunkel, muskulös und untersetzt wie die meisten Männer hier.
Er küsst mich auf die Wange und kneift in meinen Arm, läuft an mir vorbei und streicht über meine Schulter. Manuels Klientinnen stehen Schlange an dem wackligen Tischchen vor dem schäbigen Geschäft, sie bekommen frisch gepressten Orangensaft, Kaffee, Tee, Wasser angeboten, „sie bringen Geschenke“, sagt Manuel, „eine von ihnen einen ganzen Koffer voller Geschenke, wenn sie aus Deutschland wieder kommt.“
Manuel hat das Massagediplom einer anerkannten Schule, sagt, er habe vier Jahre darauf studiert. Manchmal, eher selten, fährt er nach Hause, zu seiner Familie, er macht eine unbestimmte Bewegung in Richtung Berge. Die Eltern seien aber schon tot, zusammen mit weiteren Mitgliedern seiner Familie von Terroristen ermordet worden. Ich möchte mehr darüber hören, aber dazu reicht mein Spanisch nicht.
Ganzkörper-Massage empfiehlt er mir, unbedingt, und schon nach der ersten Rückenbehandlung nehme ich das volle Programm und überlasse mich seinen Händen.
In der Kabine mit den verspiegelten Fenstern kommandiert er mich auf die Liege neben dem Heizöfchen.
„Bluse aus, Shorts aus, Bikinihose anlassen, das ist okay.“
Öl fließt in alle Ritzen und Poren, strömt den Rücken hinauf in die Haare, kühle Hände berühren meine Haut, linker Fuß, linkes Bein unten, oben, außen, innen.
Kleine Schmerzenslaute, der Masseur hält inne, seine Hände gehen weiter, drücken auf dem Bein herum, es keucht in meinem Ohr, mein Bein wird an einen fremden Körper gedrückt, ich schaue nicht auf, um zu erkennen, an welchen Teil dieses Körpers.
Manuels Hände wandern die Innenseite der Oberschenkel entlang, sie kneten und streichen weiter und weiter nach oben.
Dann wechselt er zum rechten Bein, fängt wieder mit dem Fuß an, den er mit Öl und einem Lappen vom Sand säubert, ehe er ihn bearbeitet. Wade, Oberschenkel, jetzt bin ich etwas entspannter, er schiebt das Bikinihöschen an den Beinöffnungen hoch und knetet die Backen. Er beugt sich an mein Ohr, sagt: „Locker, locker lassen“, dann wandern seine Hände zu meinem Rücken. Ich bin ein Stück Fleisch, nach Öl riechend, mir fehlt alles Runde, Gepolsterte, in das er seine Fingerspitzen graben könnte, jede Bewegung der energischen Hände stößt auf Knochen.
„Umdrehen.“ Es knackt in meinem Rücken. Als ich ihm den flachen Körper mit einer tiefen Mulde an Stelle des Bauches entgegenstrecke, massiert er weiter meine Beine oben, an den Seiten und in der Mitte. Er stößt mit beiden Armen vor, seine Hände treffen sich genau zwischen meinen Oberschenkeln, ich sollte mich loslassen und die seltene Berührung genießen, aber ich richte mich auf und sage: "Nein, nein, ich will das nicht.“
„Ist nur Massage“, sagt er, „oder hast du Angst?“
„Ja, ja, Angst“, sage ich, aber Angst trifft es nicht, ich misstraue ihm nicht.
„Das hat gut getan“, sage ich, als er mein Gesicht ausgestrichen, mich zugedeckt und angewiesen hat, noch eine Weile bei sanfter Musik zu ruhen. „Aber du hast Angst gehabt“, er sieht mich traurig an.
„Ist normal“, beschließt er das Gespräch, als ich angezogen aus der Bude komme, er küsst mich auf die Wange und gibt mir einen Klaps auf den Rücken. Dann lädt er mich zu einem Kaffee auf der Terrasse ein, wo wir in der Sonne sitzen und die Fischerboote und den Dezembertag an uns vorbeiziehen lassen.
Auf dem Rückweg treffe ich einen Mann aus Köln, der in meinem Hotel wohnt. Inmitten einer Gruppe Dauerurlauber sitzt er abends an einem Tisch in der Bar und klopft Sprüche. Dabei schaut er mich an, mit Schmelz im Blick, macht Komplimente und manchmal schreit er quer durch den Raum:
“Na, wie geht’s dir, mein Engelchen?“
„Hör auf damit“, pfeife ich ihn an und schüttele energisch den Kopf. Aber je später die Abende werden, desto häufiger bringt er mich zum Lachen, seine Augen schauen listig, wenn er merkt, dass  ich die Ironie in seiner Geschichte verstanden habe, sie fragen, ob er weiter gehen darf in seinen Witzen und Anzüglichkeiten, ob ich ihm folge.
Zuhause hat er eine Freundin, eine jüngere Frau, die er zu Weihnachten einfliegen lassen wird. Er zeigt sein Handy herum mit Fotos von ihr und von ihm.
Wenn die Sonne schon am Morgen hinter einer Wolke verschwindet, geht er nicht raus, er sitzt in der Hotellobby herum und trinkt Kaffee, den er sich aus dem Automaten zieht.
Dann ist seine Laune auf dem Nullpunkt und mehr als einmal bringt sein hingeraunztes Nein auf eine Frage sein Gegenüber, einen von diesen höflichen, stillen Kellnern, in mühsam unterdrückte Wut. Ich gehe durch die Halle zum Ausgang, er winkt und bestellt mir einen Espresso. Er erzählt von seiner Mutter, die in seinen Armen in der Badewanne gestorben ist, noch nicht lange her, sie hatte einen heißen Wasserstrahl abbekommen und wurde von einem Herzschlag getroffen.
Auch das erzählt er sarkastisch, rollt dabei die Augen, die Haare nach oben gegelt, das Hemd einen Knopf zu weit offen. Als ich nachfrage, wird er ernst.
Er hat die Mutter gepflegt, niemals hätte er zugelassen, dass sie ins Pflegeheim musste. Das Pflegegeld wurde ihm nachgezahlt, als die Mutter schon tot war.

Als mir der Typ jetzt am Strand entgegen kommt, spüre ich  meinen Körper, den Manuel bearbeitet hat, die Füße, die von kleinen Wellen überrollt werden, die  Beine, durch die das Blut strömt, die Hüften, den Nacken, der von der Sonne glüht.
Meine Haut hat ein Eigenleben, sie will berührt werden, nachts wälze ich mich in meinem Bett, am Morgen kann ich nicht aufstehen, bevor ich meinen Kopf nach verschütteten Fantasien durchsucht habe, um nicht an ihn zu denken und an meine Wünsche, eine Umarmung am Strand, heftige Bewegungen im Hotelbett, sein Keuchen, mein Stöhnen.
Nein.
Aber jetzt kommt er mir entgegen, mit einem schiefen Grinsen im Gesicht, er ist noch weit genug entfernt, noch kann ich mich umdrehen und zurückgehen, ich könnte sogar in Richtung Massagebude laufen, als habe ich dort etwas liegen lassen.
Ich bleibe stehen und  blinzle in die Sonne, ich sehe uns, wie wir uns die Kleider ausziehen, wie wir uns nackt gegenüber stehen am Wasser, wir wälzen uns im Sand, ich halte ihm meinen schmalen Leib hin, wir feiern Abschied, die Zerstörung unserer Körper, den letzten Sonnenbrand, bevor der Winter einzieht.
Als ich die Augen öffne, steht er vor mir und lacht spöttisch.
„Trinken wir einen Orangensaft?“, ich deute auf die wackligen Stühle und Tische eines Strandcafés. Der junge Verkäufer an der Orangenpresse strahlt, als wir an seinem Stand Platz nehmen, er schneidet Früchte auseinander und fängt an, sie auszupressen.
Der Mann schweigt noch immer. Ich lege meine Hände auf den Tisch und bewege sie zu ihm hinüber, er fängt an sie zu streicheln.
Wie lebt er, wie verbringt er seinen Alltag, so früh ohne Arbeit, welche Wünsche hat er noch an das Leben? Er schaut mich über sein Glas hinweg an, als verstehe er nicht, wovon ich rede. Aber da muss doch was sein, denke ich, irgendwas ist doch da noch.
Er tanzt nicht, also verabreden wir uns für den Abend im Deutschen Café, das ich normalerweise nicht besuchen würde.
Bei „echtem Filtercafé“ erzählt mir der Mann von seiner Freundin. Sie will Vorhänge haben an den Fenstern in seinem Schlafzimmer, sie besteht darauf. Aber er sieht das nicht ein. Seine Wohnung liegt doch im dritten Stock, und da ist kein Haus gegenüber.
„Dann machst du halt Vorhänge an die Fenster, wenn sie das will“, sage ich, „wo ist das Problem?“
Ich bin nahe daran, mir eine Packung Zigaretten zu bestellen, aber der Mann nimmt wieder meine Hände und streichelt sie.
„Spielt sich eh nicht mehr viel ab“, sagt er.
Ich schaue schweigend und warte.
„Zuhause gehe ich immer nach dem gleichen Schema vor“, sagt er,  „aber ich hab nichts davon. Ich streichle sie, ich mach’s ihr Französisch, wenn sie will, und dann lege ich mich hin. Dann war’s das.“
Jetzt bestelle ich mir ein Päckchen Zigaretten, reiße es auf, rauche und sehe ihn an. Das kann nicht sein, denke ich, das kann nicht alles sein, da muss doch noch was...Küssen wir uns erst einmal, denke ich, lege die Kippe beiseite und beuge mich über den Tisch, wobei die Kaffeetasse umkippt und sich braune Brühe auf den Boden ergießt.
„Lass uns gehen“, sage ich, als ich den Blick der Kellnerin auffange.
Im Hotelzimmer neben meinem wohnt der Düsseldorfer, wie sie ihn nennen. Wer einmal mit dem ehemaligen Besitzer einer Altstadtkneipe geredet hat, weiß, mit wem die anderen Hotelgäste unterwegs sind, ob sie sich zuviel oder zuwenig vom Büfett holen, ob sie künstliche Zähne haben oder schlecht riechen. Ätzend werden seine Bemerkungen, wenn eine beleibte Frau im Bikini am Strand vorbeiläuft.
Das Wort „Klatschbase“ sei weiblich, hatte ich früher gedacht.
Ich will nicht, dass er etwas über mich weiß.

Gegen zehn, nach dem Tatort, klopft der Mann aus Köln an meine Zimmertür. Er hat sich fein gemacht: Schwarze Hose, offenes, weißes Hemd. „Setz dich doch“, ich deute auf einen Sessel.
Jemand fängt an zu schreien, laut und quäkend.
„Telefon. Annette will dich sprechen. Sofort. Telefon. Telefon.“
Erschrocken stelle ich die Flasche Wasser wieder hin und sehe zur Tür. Der Mann greift in seine Hosentasche und zieht sein Handy heraus. „Das ist nur mein Klingelton“, sagt er.
„Pssst“, ich halte den Finger auf die geschlossenen Lippen und deute zur Wand. Der Düsseldorfer kennt diesen Klingelton wahrscheinlich gut.
„Telefon“, schreit es wieder, „Annette will dich sprechen. Sofort. Telefon. Telefon.“
Der Mann drückt einen Knopf und setzt sich auf mein Bett, ich bleibe auf dem Sessel sitzen. Er beugt sich zu mir hinüber. Wieder fängt das Handy an zu schreien: „Telefon...“
„Warum stellst du es nicht aus?“, frage ich.
„Dann wird es schlimmer, nachher“, sagt er.
Küssen geht, stelle ich fest. Küssen und dabei an etwas Schönes denken, das ist okay. Er zieht sein Hemd aus, ich streichle die glatte, braungebrannte Haut, meine Hand rutscht auf den Bauch. Er zieht mich aufs Bett, kneift leicht in meine Brüste, seine Hand wandert in meine Hose.
Als ich ihn nach einem Kondom frage, verschwindet seine Erektion auf Nimmerwiedersehen.
Das Telefon  fängt an zu schreien. Ich bringe ihn zur Tür.