Karl Kirsch: Von Ouagadougou...
Das ist: Die Lebensgeschichte des Frédéric Farafina (1961 – 1997), der, nachdem er viel studiert und erlebt, zum Schluss in Bilbao Hausmeister war.Hier im Himmel sind wir unfähig, unsere irdische Hautfarbe zu sehen, denn unsere Stimmungen durchleuchten die Schicht, die uns begrenzt, von innen her. Wir, die wir unzufrieden sind und ständig in Gefahr, durch die Überfülle auf diesen Wolkenmatten an den Rand gedrängt zu werden, bis zu einer der Spalten, die das Wolkenmeer durchziehen, wir leuchten allesamt matt, ein dunkles, kupferschwarzes Glimmen zeigt sich auf unseren Gesichtern. Aber genau deshalb ist mir manchmal, als hätte sich nichts geändert seit meinem Tod, als wäre die Furcht hinabzufallen und unten auf der Erde mit den Winden heulen zu müssen, keine, die sich mit einen eventuellen Wechsel zum Schlimmeren erklären ließe. Es kann wenig Schlimmeres geben als das hier. Wir sind arm, denn wir leben in der Enge. Und wir haben Angst, weil wir arm sind. Wir tragen die Gesichtsfarbe derer, die Angst haben und arm sind. Wir trugen sie schon auf der Erde, denn in der Zeit, in der wir auf der Erde lebten, wurde diese Farbe so verstanden. Ich trug sie. Sie hat mir mein Schicksal bestimmt.
Ich stamme aus einer der angesehensten Familien Ouagadougous, Burkina Faso. Mein Vater war einer der Vizedirektoren der Staatsbank, wir gehörten der gebildeten christlichen Minderheit des Landes an. Die Liebe meines Vaters galt Voltaire, die meiner Mutter Flaubert. Ich konnte selbstverständlich studieren und schrieb mich an der damals kaum zehn Jahre alten Universität der Hauptstadt für Anglistik ein. Schon bald erweiterte ich meine Studien auch auf Deutsch, Niederländisch, Mittelhochdeutsch und Althochdeutsch, nicht ohne vertiefende Seitenblicke auf das Altisländische, den bis heute fortzeugenden Urgrund der Sprache einer Insel, die ihrer Naturattraktionen und ihres privilegierten Klimas wegen längst das Teneriffa ganz Westafrikas wäre, wenn Westafrika nur annähernd halb so reich wäre wie Westeuropa. Nach dem Vordiplom hatte ich das Glück, meine Studien an der Universität von Kiel fortsetzen zu können, wo ich mich auf Linguistik spezialisierte und meine Doktorarbeit schrieb.
Den Doktor in der Tasche, hatte ich keine andere Wahl, als in meine Heimat zurückzukehren. Doch in Ouagadougou war zu der Zeit mein Vater verhaftet worden und meine Mutter beschwor mich fort zu bleiben. Da ich aber zuvor nie auch nur einen Gedanken auf die Zeit nach dem Studium verwendet hatte, somit auch niemanden kannte, an den ich mich um Hilfe bittend wenden konnte, traf mich die amtliche Benachrichtigung, ich hätte das Land binnen einer feststehenden Frist zu verlassen, unvorbereitet und ich leistete ihr Folge. Zuhause eingetroffen, fand ich meine nächsten Angehörigen in die Dörfer von Verwandten geflohen und das Haus meiner Eltern geplündert.
Ich kann kaum verlangen, dass Sie die jüngere Geschichte Burkina Fasos genauer kennen. Und es mag auch genügen zu wissen, dass in unserem Land 1983 ein junger Offizier, der Hauptmann Sankara, sich an die Macht putschte, kurz nachdem er als Minister ab- und unter Arrest gesetzt worden war. Er war der erste Politiker nach der Unabhängigkeit des Landes, dessen Politik nicht die Ausfuhr von Waren sondern die Versorgung der Bevölkerung zum Schwerpunkt hatte. Seine nüchternen Maßnahmen zur Entwicklung im ländlichen Raum fanden lebhafte Zustimmung bei meinem, Voltaires Aufklärung verpflichteten Vater. Sein unermüdlicher Einsatz für die Besserstellung der Frauen bewirkten nicht weniger Zustimmung bei meiner Mutter, die aus der Lektüre von Madame Bovary den praktischen Schluss gezogen hatte, dass keine Frau auf ein emotional erfülltes Leben hoffen könne, so lange wie dem weiblichen Geschlecht nicht alle Führungsaufgaben in Staat oder Wirtschaft genau so selbstverständlich offen stünden wie dem männlichen. Beider Parteinahme für Sankaras Regierung war mithin rückhaltlos. Sie wurde ihnen zum Verhängnis. 1987 wurde der Hauptmann gestürzt und zusammen mit seinen engsten Mitarbeitern ohne Gerichtsprozess erschossen. Er war ungefähr sechs Wochen tot, als ich das verlassene Haus meiner Eltern bezog.
Nachdem ich mein restliches in Deutschland verdientes Geld in Bestechungsgaben umgesetzt hatte, ohne in der Universität von Ouagadougou eine Anstellung bekommen zu haben, wandte ich mich dem Altpapierhandel zu. Dem Altpapierhandel deswegen, weil außer in den besseren Vierteln der Hauptstadt im ganzen Land Zeitungen kaum gelesen werden; in den besseren Viertel von Ouagadougou aber kannte man mich und hatte Mitleid mit mir. Was ich geschenkt bekam oder aufsammeln konnte, verkaufte ich, hauptsächlich an Matratzennäher. Gab es allerdings ganzseitige farbige Anzeigen, schnitt ich sie sorgfältig aus, sammelte sie, bis ich von einer Sorte genug zusammen hatte, um sie als Wandtapete zu verkaufen, womit ich höhere Preise erzielte. Deshalb blätterte ich jede Zeitung, die ich erhielt, durch. Ich kann mich an keine Zeit meines Lebens erinnern, in der ich weniger gelesen hätte als in der.
Manchmal allerdings las ich doch. In fremdsprachigen Blättern. Sie waren selten und ich konnte es nicht lassen, an ihnen zu probieren, wie gut ich noch in der Lage war, einer mir unvertrauten Sprache etwas von ihrem Geheimnis abzulocken. Am leichtesten fiel mir das als französischem Muttersprachler bei den romanischen Sprachen. So erfuhr ich eines Tages - ein Exemplar der spanischen Zeitung El País war mir in die Hände gefallen – dass es innerhalb Spaniens Grenzen ein Baskenland gibt, das über eine eigene Sprache verfügt, welche allerdings bei der eigenen Bevölkerung kaum oder nicht durchgehend beliebt ist. Denn ein Politiker wurde von der Zeitung mit der Äußerung zitiert, dass jeder Afrikaner, der Baskisch spreche, ihm näher stehe als all die gebürtigen Basken, die sich weigerten ihre ureigene Nationalsprache zu erlernen. Dass ich, während ich über diese Sätze nachgrübelte, ihren polemischen Kern nicht wahrnahm, sondern statt dessen freudig überrascht den Schluss zog, sobald ich das Baskische nur erlernt hätte, würde mich niemand mehr aus dieser Ecke Europas vertreiben, das lag weniger daran, dass ich mit Hilfe meiner sprachlichen und linguistischen Kenntnisse das Spanische unzureichend entschlüsselte, als an meiner Misere.
Mit der Sicherheit der Überzeugung, einen Weg gefunden zu haben, in einem reichen Land leben zu können, ohne dafür Ölmagnat zu sein oder die Demütigungen eines Asylverfahrens zu erdulden, machte ich mich daran, das nötige Geld zusammenzuleihen, das die Organisation eines Baskischkurses kosten würde. Die Gespräche darüber verliefen stereotyp:
Und der Weg ist ungefährlich?
Todsicher.
Und jeder kann es lernen?
Es ist eine Sprache. Wenn man sie nicht lernen könnte, wäre es keine.
Weißt du, mich interessiert das. Nicht wegen mir. Ich denke da an jemanden.
Als ich den Betrag beisammenhatte, war die Klasse meiner Baskischschüler auf 54 Personen jeden Alters und Geschlechts angewachsen. Ich sandte ein Fax an einen mir bekannten Linguisten in Kiel, in dem ich behauptete, afrikanische Archäologen hätten enge Verbindungen zwischen dem Baskenland und einigen durch den Sklavenhandel untergegangenen, hochentwickelten Stadtstaaten Westafrikas nachweisen können und hätten mich, Dr. Frédéric Farafina, um Hilfe für einen linguistischen Beweis dieser These gebeten, sodass ich jetzt dringend Baskisch lernen müsse. Die These enthielt genügend Abenteuerliches, um in Kiel auf Interesse zu stoßen. Nur wenige Monate später konnte ich mir einen kompletten Lehrgang des Baskischen in der diplomatischen Vertretung Spaniens in Burkina Faso abholen.
Mit dem Eintreffen des Kursmaterials begannen, für eine Zeit von fast drei Jahren, die sprichwörtlichen Mühen der Ebene. Der Hinweis, dass es im Baskischen ein anderes „Du“ gibt, je nachdem ob eine Frau mit einem Mann oder ein Mann mit einer Frau spricht, dazu die Tatsache, dass ich - der am Vortag lernte, was ich am nächsten weitergab - bei Beendigung des Kurses nur 14 Teilnehmer verloren hatte (davon allein fünf durch Krankheit und Tod), das allein dürfte genügen, um sowohl meine als auch die hohe Motivation meiner Mitschüler zu illustrieren.
Ein weiteres Kunststück, das mir gelang, war offizielle Briefbögen unseres Unterrichtsministeriums zu besorgen. Auf diesen schrieb ich drei Briefe. Einen an die Universität des Baskenlandes in Bilbao, einen an den baskischen Unterrichtsminister und einen an eine große baskische Reederei: Es habe die philologische Abteilung der Universität Burkina Fasos die große Freude mitzuteilen, dass soeben der erste Studiengang des Baskischen mit überwältigendem Erfolg abgeschlossen worden sei. Die 120 Studenten des ersten Durchgangs hätten das verständliche Interesse, das schöne Land, das ihnen inzwischen so nahe sei, einmal zu besuchen. Leider bringe es die allgemeine Lage mit sich, dass man außer auf eine offizielle Einladung auch auf Sponsoring angewiesen sei, damit die Reise stattfinden könne.
Die Begeisterung, auf die diese Briefe stießen, war keine völlig ungeteilte. Aber wie ich bei meinen Zahlenangaben einkalkuliert hatte, ließ sich die Organisation einer Reise für 40 Studenten in Begleitung eines Professors - nämlich mir selbst - schließlich durchsetzen.
Die Reise selbst wurde zum Triumphzug. Mein Baskischkurs bewies den nationalistischen Institutionen die Attraktivität der von ihnen geförderten Sprache vom nahen heimischen Winkel zwischen Spanien und Frankreich bis in die entferntesten Afrikas und - warum nicht? - auch Asiens und Amerikas. Wir wurden herumgereicht, der baskische Meisterkoch Arzak bekochte uns, der Bildhauer Chillida führte uns durch seine Werkstätten, der Ministerpräsident Ardanza schüttelte uns die Hände. Es gab Tanzabende an den verschiedenen Fakultäten der Universität, genauso wie urig-ländliche Sportveranstaltungen, auf denen Steine gestemmt und Baumstämme geworfen wurden. Man sang gemeinsam baskische Volkslieder und ließ sich von uns heimische vorsingen. - Dass ich zu dieser letzten Gelegenheit Billy Mo’s Schlager Ich kauf mir einen Tirolerhut zum Besten gab, fiel nur einem Studenten aus Bremen auf, den die Begeisterung für nationale Befreiung und bewaffneten Kampf ins Baskenland verschlagen hatte und dessen Protest zum Glück übergangen wurde.
Aber nachdem der festgesetzte Abreisetermin des Kurses zwei Wochen verstrichen war, klingelten bei der Ertzaintza, der baskischen Landespolizei, die Telefone: Eine Gruppe schwarzer Familien habe es irgendwie geschafft, sich in einem Studentenwohnheim in Bilbao einzunisten, vermutlich mit Unterstützung entwicklungspolitisch orientierter Kreise. Die Ertzaintza schickte ein Räumungskommando. Wir verbarrikadierten uns und ich ging mit einer weißen Fahne hinaus, um zu verhandeln. Die Beamten verstanden mich nicht. Ein Dolmetscher kam. Der Dolmetscher redete Baskisch mit den Beamten und Französisch mit mir. Ich beharrte auf Baskisch. Die Räumung fand statt.
Mit der Obdachlosigkeit und dem Bezug improvisierter Behausungen am Stadtrand von Bilbao begann ein Alptraum, der schlimmer war als der, den ich mit meinen Vorbereitungen zu bannen gedacht hatte. Wäre es ohne Kenntnisse der Landessprache schlicht darum gegangen, so lange als illegal Eingewanderter zu überleben, bis die Behörden entweder bei der Abschiebung oder bei einer der vielen, im rechtlichen Status stark differierenden Legalisierungen des Immigranten angekommen sein würden, so hatten wir, eben wegen unserer Sprachkenntnisse, uns mit einer ungleich komplizierteren Lage herumzuschlagen. Denn so zuvorkommend unsere schriftlichen und telefonischen Anfragen - um Wohnung, um Arbeit, bei Behörden und Firmen - beantwortet wurden, so wenig erreichten wir, sobald wir den Vertretern der Behörden und Firmen persönlich gegenüberstanden. Mit uns, die ausgezeichnet Baskisch sprachen und verstanden, radebrechte man in Vorzimmern und Amtsstuben, Englisch, Französisch, Spanisch, und je mehr wir unser gründlich erlerntes Baskisch dagegen hielten, um so schlimmer wurde es. Als wir schließlich aus Protest gegen diese Behandlung mit baskischen Fahnen und Plakaten durch die Innenstadt von Bilbao zogen, hielt man das, was wir an Parolen mit uns führten, für das unverständliche Kauderwelsch einer afrikanischen Stammessprache und beschloss, schon weil wir uns an nationalen Symbolen vergriffen hätten, endgültig unsere Abschiebung. Daraufhin traten meine Leute und ich - es war das Billigste - in den Hungerstreik.
Diese Aktion bewirkte, dass sich zum ersten Mal seit unserer Räumung aus dem Studentenwohnheim jemand mit uns solidarisierte und sich immerhin bereit fand, eine Art Kinderbaskisch mit uns zu sprechen. Mitglieder einer Kirchengemeinde, deren Pfarrer uns Hilfe unter der Bedingung anbot, dass wir das Ergebnis seiner Verhandlungen mit den Behörden friedlich akzeptierten. Die Behörden ließen sich bewegen, unseren Aufenthalt zu dulden, so lange wie jeder einzelne von uns seine Teilname an einem Anfängerkurs im Baskischen nachweisen konnte. Zudem versprachen sie, nach Abschluss des Sprachkurses die Abschiebungen nicht automatisch zu vollziehen, sondern sie bei denjenigen auszusetzen, die eine Arbeit gefunden hätten. Allein ich hatte noch die Kraft, mich auf dieses Angebot einzulassen. Zu meinem Glück. Ich beeindruckte meine Lehrer so sehr durch meine durch nichts und niemanden zu übertreffende Begabung für das Baskische, dass ich bald als das Maskottchen der Schule galt und man mir dort die Stelle des Hausmeisters gab, als die zufällig frei wurde. Womit dann die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für mich endlich außer Frage stand.
Mein Leben als legalisierter Einwanderer währte viereinhalb Jahre. Im Sommer meines fünften Jahres in Bilbao bekam ich einen Anruf aus Madrid. Ein alter Freund aus Ouagadougou war dort zu Gast auf einer internationalen Konferenz. Wir wollten uns sehen. Ich stieg in den Zug und fuhr zum ersten Mal in die ans Baskenland grenzende Welt, in der ich, um mich zu verständigen, Englisch oder Französisch sprechen musste - ich hatte Baskisch, nie aber Spanisch gelernt. Im Zug las ich in Harrotzeko, einem 600 Seiten starken Modebuch einer jungen baskischen Autorin. Ich kam bis Seite 124 und bis kurz hinter Burgos. Dann rissen zwei kahlrasierte Männer mich aus dem Sitz, zerrten mich aus dem Waggon – in dem niemand auf meine baskischen, französischen und deutschen Hilfeschreie reagierte – und stießen mich aus dem fahrenden Zug. Ich verstand nicht, was sie mir zuvor gesagt hatten, aber noch im Fallen wurde mir klar, dass ich meine Reise nach Madrid wohl überlebt hätte, wenn ich statt eines baskischen einen französischen Roman bei mir gehabt hätte, ein in meiner Muttersprache geschriebenes Buch. Ich war ein Schwarzer unter den Weißen, ich hätte Fußballspieler sein, meine Mörder, die vielleicht Fußballfans waren, möglicherweise beschwichtigen können. Doch dass ich schwarz war und als einzige spanische Sprache das den spanischen Nationalisten verhasste Baskisch sprach, kostete mein Leben. Ich hatte mir eine Nischenexistenz erobert, die des Nationalnegers von Bilbao – das, was unsereins mit Glück erreichen kann. Außerhalb dieser Nische bot meine neue Existenz mir keinerlei Schutz.