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Stephan Waldscheidt: Mademoiselle Saphir 

Später, und ich springe über Pfützen, in denen sich Wolken spiegeln, weiße Wolken, Schäfchenwolken, Wolken zum Reinbeißen, Aufsteigen, Mitfliegen. Ein falscher Schritt, nein, ein richtiger, und ich falle in den Himmel. Die Hölle liegt hinter mir, du liegst noch oben auf dem Bett – musste es immer dasselbe Hotel sein, dasselbe Zimmer, ausgerechnet Nummer 17? Dass du sentimental sein kannst, menschlich, überrascht mich noch immer. Oder war es, weil du von dort oben die Straße im Blick behältst, dein Weg zurück zu Heim und Herd und Evelyn?
Steh auf, geh zum Fenster, aber stoße dir deine Zehen nicht an den paar spitzen Erinnerungen und dann schau hinaus, da, die beinahe dünne, beinahe Blonde hinter den Dächern der wartenden Autos, da gehe ich und verlasse dich, verlass dich drauf.
Wie kostbar die Sekunden schmelzen, die Schritte über den kiesigen Parkplatz, jeder Atemzug, sie alle bringen mich weiter weg von dir und dem verschwendeten Leben. Über deine kalten Berührungen habe ich meinen dicksten Pullover gezogen, selbstgestrickt wie meine Dummheiten, niemand soll die Schatten deiner Hände sehen, die Kerben deiner Küsse, die Narben deiner Gleichgültigkeit. Nie war ich so langweilig, wie ich mich in deinen Augen fand, nie so dick wie unter deinem Spott. Zwischen Evelyn – deinem Weib, Mutter deiner Kinder – und der Erfüllung deiner Wünsche rannte ich mich müde. Ich war ich, doch hatte ich mir das schon bald ganz ausgeredet. Die einen verschleppen Erkältungen, die anderen verschleppen Frauen (geheime Träume, hm, wenn ich an unsere Spiele denke, mir wird übel und geil und ich hoffe, ich kann die beiden Gefühle jemals wieder trennen). Andere, solche wie ich, verschleppen den Frühling.
Ich habe mich zurück. Jawohl.
Am Parkplatz gehe ich an deinem Auto vorbei und tue so, als würde es mich nicht nackt und schreiend kennen, als hätte es sich nicht mit seinen tausend harten Kanten aus Kunststoff und Blech und heißem ebenso wie kaltem Leder jahrelang gegen mich gewehrt. Ich habe Haare zurückgelassen, reichlich blonde für deine brünette Frau, zwei Ohrringe habe ich verloren (eigens fürs Verlieren beim Trödler gekauft), einen mauvefarbenen String vergessen (eigens fürs Vergessen ein Loch in den Schritt geschnitten), reichlich Lippenstift und Schminke und Creme und Intimeres verschmiert (wie beispielsweise meine Seele). Kilometer haben wir nicht viele zusammen zurückgelegt, ich und dein Auto, aber gereist sind wir bis zu den Sternen. Schön, was ich für Sterne hielt, waren mottenleichenvolle Straßenlampen, aber wie hätte ich einer zuckenden Laterne widerstehen können, an einem Regenabend am Sportplatz kurz vorm Waldrand, Stunden nach der Niederlage der Auswärtsmannschaft (du weißt schon, Heimvorteil)? Ich habe mein Schicksal verdient (und ein gutes Dutzend Blasenentzündungen wegen zu kurzer Röcke und Sex auf kalten Mauern und anderen idiotischen Orten, vor denen meine Mutter mich leider nie gewarnt hat). Für Dummheit (selbstgestrickt), für Liebe (mein Selbst verstrickt) kann es nur ein Urteil geben: die Höchststrafe höchstselbst. Nicht lebenslänglich, nicht mit dir, doch sechs Jahre können länger sein als eine Menge Leben. Motten werden nicht alt, die dummen schon gar nicht.
Ach, Frühling. Der Wind, echt dieses Mal und erfrischend, nicht wie der abgestandene Plastikatem, der aus den Minibars quillt, wenn man sie aufmacht und das einsame Fläschchen Piccolo aus dem wackeligen Türfach nimmt, nicht warm und nach den verbrannten Haaren anderer zur Höchststrafe verurteilter Frauen stinkend wie die Badezimmerföne, die uns ihre Warnungen ins Ohr flüstern, die wir immer nur beinahe verstehen; wir halten sie für Fernsehprogramme aus dem Zimmer nebenan, für benachbarte Leben, uns können sie nicht meinen, wir sind doch nicht so, nicht wir. Ich blicke hinein in diesen frischen Wind, der die Landstraße entlang fährt, bis meine Augen wohltuend tränen, lasse mich von ihm bauschen wie ein leichtes Frühlingskleid, lasse ihn hinein in jede Pore, lasse ihn dich hinaustreiben, deinen Atem in meinem Gesicht, wenn du auf mir lagst und angestrengt das Muster in der Tapete (Kirschblüten-Yin und Kirschblüten-Yang) hinter meinem Kopf studiertest und an deinen nächsten Termin in der Firma dachtest, an die saftigen Rouladen deiner Frau, an deine, unsere saftige Kollegin (Margret Meier), die dir einen Korb schon gegeben hat (du wirst es wieder versuchen, auch bei mir hat es drei Anläufe gebraucht), die von deiner Frau verdächtigt wird, Ohrringe zu verlieren und mauvefarbene Strings und blonde Haare, weil sie jünger ist, weil ihre Brüste noch nicht erodiert sind, weil: Sie ist unentdecktes Terrain (Terra Incognita Immaculata), und weil sie für dich wie Frühling riecht unter den eng und weiß beblusten Achselhöhlen, denen du in den Meetings hinterher schnüffelst, wenn du glaubst, niemand bemerke es. Ich bin niemand und finde es eklig, wie sie schwitzt.
Du riechst aus dem Mund, mein Lieber, Ex-Lieber, niemals wirklich Lieber, und dennoch Liebster, denn selbst du bist mehr als nichts, keine Null, sprich: Mein Leben durch dich zu dividieren ist durchaus möglich, und weil du nur noch ein Bruchteil des Mannes bist, den ich mir zu Anfang zusammengewünscht hatte (stark und schön und reich und gut und Prinz und edles Ross in einem), wird mein Leben nach der Division – eins geteilt durch, sagen wir, ein Viertel gibt vier – größer sein, mehr sein als zuvor (Du kommst noch mit? Ach, besser nicht, besser bleibst du, wo du bist.).
Nichts ist ein Anfang, den ich mir ab heute wieder zutrauen will. Heute, heute, heute, heute, wie kann ich dieses Wort ab heute wieder mit der Zungenspitze küssen, wie will ich es wertschätzen und in Ehren halten und jeden Morgen Verbeugungen samt Hofknicks vor ihm machen, mein neues Heute, wo warst du nur so lange, wie konnte ich nicht wissen, wie ich dich vermisste.
Heute bin ich ich.
Angenehm. Schöner Tag heute.
Und dieser frische Wind und diese lange Straße (noch ein paar Schlaglöcher vom Winter, aber welche der hier in und zwischen den Zeilen Anwesenden hätte die nicht), sie sieht aus, als nähme sie kein Ende, kein jähes wie Liebeleien, kein schleichendes wie Ehen, sie sieht aus, als sehnte sie sich nach Füßen in peinlich hohen Schuhen, Größe 38, die ihr mit ihren dünnen Absätzen den Rücken kratzen von hier bis Kilometer Zehntausend irgendwo jenseits des flimmernden Horizonts. Ich balanciere auf dem Mittelstreifen ohne Netz und doppelten Boden und habe keine Angst, ich könnte herunterfallen und im Asphalt ertrinken.
Es werden Autos kommen, es wird sich herumsprechen, dass ich heute hier entlang schlendere, meine Blüten weit offen, eine Botin des Frühlings, und sie alle werden ihre Türen für mich aufsperren, aber ich werde sie nicht mit mir und meinen Plänen für den Sommer füttern, sollen sie doch sehen, wo sie ihre Würmchen herbekommen und ihren Weißblusenachselschweiß, non, Monsieur, merçi, Monsieur, von hier ab reise ich allein, will nur mal eben nachsehen, ob hinter dem Horizont noch etwas Welt wächst, ein Stück reicht mir schon, wenn es frisch aufgeschnitten wird für mich, ich bin es mir wert, alles zu verachten, was in grellen Vitrinen, oh, und unter Straßenlampen und im Licht von Minibars und matten Badezimmern vor sich hingammelt (Du darfst!). Wie kann sich eine gerade aufgestandene, aus dem Ei geschlüpfte, dem Mutterschoß entsprungene Jahreszeit schon so himmlisch geil und fett und herrlich fühlen?
Ja doch, es darf ein bisschen mehr sein.
Ein Blick zurück, nein, ein Blick zurück, doch bitte, ein Blick zurück, so lass mich doch nur dieses eine Mal über meine linke (herzseitige!) Sentimentalität zurückblicken, ich werde schon nicht zur Salzsäule, das verspreche ich, ich verspreche es, ich kenne mich aus mit Versprechen, habe so viele gehört und gehortet, ein Album voll zu Hause, und da kleben sie hinter knisterndem Transparentpapier auf schwarzen Seiten und weigern sich, an Farbe und Form und Verlockung zu verlieren, ich nehme sie beim Wort wie ich dich beim Wort genommen habe, Liebster, wie du mich genommen hast und meine Worte waren dir scheißegal.
Wie ordinär.
Du mochtest es, wenn ich (fantastisch, Fremder, wie du meine Fotze fickst) ungezogen gegen dein Brusthaar stammelte und mich wand, als wollte ich dir und mir entfliehen. Mein Körper ließ mich im Stich. Nicht mich hast du verführt, den Pakt geschmiedet hast du mit meiner Haut und meinem Fleisch und allem wehrlos Greifbaren, mit Nervenenden in meinem kleinen Knopf (streicheln Sie bitte hier) und meinem kleinen Kopf (schmeicheln Sie bitte dort), überall, du hast neue Nervenbahnen in mir verlegt, du Elektriker der Liebe, du. Verführt hat mich mein eigener Leib, hat mir zugeflüstert, was sich so gut anfühlt, kann doch nicht schlecht sein, he, ich bin dein Körper, du kennst mich dein Leben lang, würde ich dich anlügen, kann dieses Prickeln und Kitzeln, dieses Erhitzen und Fließen, kann dieses Schmelzen, sich Auflösen, Verschwinden, kann dies eine Lüge sein?
Aber ja.
Alles kann, wenn alles sich nur genug Mühe gibt mit den Unwahrheiten, das Fleisch ist willig und macht den Geist schwach.
Ich gehe noch ein Stück. Ich will den Wind und keine Erinnerungen mehr. Es ist vorbei.
So wie es schon vor einem Jahr vorbei war und auch vor zweien. Vor drei Jahren war ich hier und habe das gleiche gedacht und getan und mich belogen wie vor vier Jahren und vor fünf, weil du mich vor sechs Jahren verlassen hast, eben hier, Frühlingsanfang, dieselbe Adresse (seien wir kitschig: Heartbreak Hotel), dieselbe Mätresse, aber nächstes Jahr wird es vorbei sein mit dem Vorbeisein, das verspreche ich mir in mein Album hinein, wo ich bald mehr Raum beanspruche als du, ach, nein, wo ich schon immer mehr Raum beansprucht habe, um der Wahrheit die Ehre zu tun, einmal muss man ja damit anfangen.
Du hast mir deine nie ernst gemeinten Versprechen gegeben, aber erst ich habe sie zu etwas glattgebügelt, was man sammeln kann und brav einklebt und sauber besucht, jeden Tag und jede Stunde, während man auf das Klingeln des Telefons wartet und nicht aufs Klo geht, weil man fürchtet, du könntest einen gerade dann erwischen, was einem peinlich gewesen wäre, du solltest einen doch immer nur von der besten Seite ... ja, das Übliche, Geliebtenprobleme, zwischen Freundinnen über Tee und Kaffee und zu viel Schokolade zerredet, im Kino zuschanden gesehen, aus Büchern herausgelesen, in Zeitschriften abgegriffen immer und immer und immer und immer und immer und immer wieder.
Punkt.
Es wird kein siebtes Jahr geben, meine Liebe, drei Mal in die Hände gespuckt und neun Mal schwarzer Kater, dieses Mal ist es kein Versprechen, dieses Mal ist es ein Schwur, der –ausformuliert, um ihm größeres Gewicht zu verleihen, aufgeschrieben in meinem Blut, nun ja, das, was noch davon übrig ist – der Schwur also lautet:
Hiermit schwöre ich feierlich bei den Knochen meines verstorbenen Liebeslebens (Vater) und den Knochen meiner hinfälligen Würde (Mutter), nie wieder im Frühjahr hierher zu diesem Hotel – ah, Moment, ein Schlupfloch, ich könnte ja im Sommer kommen, also nochmal von vorn: Hiermit schwöre ich, nie wieder und zu keiner Jahreszeit und auch nicht dann, sollte man die Jahreszeiten einmal abgeschafft haben und auch nicht, wenn uns eine Zeitmaschine Reisen durch die Zeit ermöglichte oder wenn die Zeit selbst abgeschafft würde, jemals wieder hierher zu kommen, um dann am Ende doch nur dieselben Gedanken zu denken, an denselben Versprechen zu schnuppern und dieselbe Straße zu treten aus Wut und Hass (übersetzt: Selbstwut, Selbsthass). Nie wieder. Das schwöre ich ...
Ich. Man steigt nie im Leben zwei Mal in dasselbe Ich.
Noch ein Schlupfloch, unstopfbar, schwören sinnlos, doch aufgeben? Nein! Wer immer ich bin, ich kann mich, wer immer ich bin, schon lange nicht mehr leiden.
Werde diesen Ort von heut’ an meiden.
Wenn ich (mir doch egal, wer das ist, soll mich in Ruhe lassen) nur wüsste, wie ich aus der Rille steige, Mademoiselle Saphir am Ende eines Tonabnehmers, bin schon so alt, dass ich mich noch in Schallplattenspielermetaphern ergehe (Margret Meier schwitzt und vögelt ganz gewiss mit iPod auf den Ohren), aber wie komme ich aus der Rille raus, die ich seit sechs Jahren tiefer, tiefer, tiefer ritze, wird jedes Jahr schwerer und ich werde leichter, bald hat es sich ausgeritzt, dann ist nichts mehr übrig von mir (wem auch immer) und die tiefe Rille ist ein Graben und voller Saphirstaub und das Lied klingt verkratzt und charmant wie eine Sängerin aus Blues, lange tot, die Pailletten auf ihrem Kleid längst matt, wie es da hängt und hängt im Theaterfundus und von unglücklich verliebten Steuerzahlern auf nichts mehr wartet, außer vielleicht auf einen passenden Körper und eine Reise ins Grab (Friedhofszwang!).
Ich habe vergessen, was für ein Lied ich spiele. Hier unten im Grab, Grab, Graben klingt alles gleich dumpf. Ich sollte jetzt zurückgehen, auf mein Zimmer, Zimmer 17, mich in den Laken vergraben und seinen Duft einatmen auf der Suche nach einem Molekül von Dir, das die tausend Wäschen überstanden hat, das vielleicht auf dem Teppich meine Fußsohlen liebkost, ein paar neue Nervenbahnen verlegt, in mich eindringt und ein Kind zeugt mit einem anderen Molekül, einem von meinen, lass uns wenigstens auf molekularer Ebene eins werden und uns vermählen, das genügt mir schon, doch, im Ernst, wenn ich eins gelernt habe, dann ist es Genügsamkeit, mir reichen ein paar Erinnerungen, die ich mir selbst zurechterfinde und die nichts mehr mit Dir zu tun haben, Erinnerungen an Erinnerungen an Erinnerungen, ich liebe doch nicht Dich immer noch, wie könnte ich das, ich habe Dich längst vergessen, ich liebe nur die Erinnerung.
So wie ich den Frühling liebe. Und das Erwachen.
Vielleicht nächstes Jahr, wieder, hier.
Vielleicht morgen, früh, nicht mehr.
Gute Nacht.
Mit Rosen bedacht.
Es riecht nach Frühling draußen.
Bitte, komm ins Bett und schließ das Fenster und zieh den Vorhang zu und lass uns auf den Sommer warten.