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Julia Pass: Kaninchenblues 

Ohne Weckerläuten wache ich um halb elf auf und spüre die Müdigkeit violett an meinen Augenringen kleben. Ich habe zehn Stunden durchgeschlafen und nur meine Blase zwingt mich dazu, aufzustehen. Ich gähne, ich furze, ich bin alleine. Was nur mit diesem matten Tag anfangen? Zu tun hätte ich genug. Da gibt es ein Buch an dem geschrieben werden müsste und eine Freundin, die seit drei Tagen auf meinen Rückruf wartet und noch eine und noch eine. Weiters einen Großvater im Altenheim, der von mir seit unzähligen Wochen nicht mehr besucht wurde. Ich hasse es, immer zuhause zu bleiben, doch fühle mich unwohl, sobald ich woanders bin. Es macht mich wütend mit meiner Einsamkeit alleine zu sein, doch Gespräche mit Menschen belasten meine  Soziophobie. Bereits als ich aus dem Bett steige, versage ich, weil es keine Minute am Tag gibt, die mich erfolgreich oder fleißig sein lässt. Immer diese Müdigkeit, diese Trägheit und der Kaninchenkäfig im Wohnzimmer stinkt penetrant, weil ich mich nicht daran erinnern kann, ihn in letzter Zeit gereinigt zu haben. Ich habe immer geglaubt, dass ich in meinem Alter bereits Mutter sein würde, aber wenn ich Trixi und Maxi so betrachte, dann bin ich erleichtert, dass sich diese Vorstellung nicht bewahrheitet hat. Ich starre auf meine Zehen, auf die langen Fußnägel und schlendere Richtung Toilette; unter meinen Schritten wirbeln weiche Staubbällchen umher und liebkosen meine Knöchel. Wenigstens gibt es keine Urintropfen auf meinem Klodeckel, es gibt keinen Mann. Irgendwann einmal wirkte ich anziehend auf den einen oder anderen Kerl. Zu einer Zeit, als ich davon überzeugt gewesen war, dass es sich bei meiner Person um etwas ganz besonders Wertvolles hielte. Ich habe studiert, ich habe alles gewusst und gerne darüber gesprochen, ich hatte Verlangen nach Büchern und Ambitionen; die unaufgeräumte WG strahlte intellektuellen Charme aus, mehr noch, sie übte auf Männer, die mich umgarnten, eine erotische Note, voll gebrauchter Kondome und zerwühlter Bettdecken, aus.

Im Alter von vierundzwanzig habe ich einen Roman in einem Kleinverlag veröffentlicht. Man bewunderte und verehrte mich. Zumindest jene, die es nicht besser wussten, jene, die nicht erkannten, dass meine Sätze von aussätziger Gewöhnlichkeit waren und ich froh sein konnte, dass sich Vitamin B um mich erbarmt hatte. Die Verehrung der Unwissenden basierte auf der Überzeugung, dass mein Erstling das Sprungbrett für eine große Karriere sein würde, dass ich es schaffen würde.  Aber ich habe es bis heute nicht geschafft und meine Eltern, die einst so gerne mit mir prahlten, schämen sich für mich, weil ich nicht berühmt geworden bin und nur so getan habe, als würde es gelingen. Wenn ich ihnen sage, dass ich nicht aufhören möchte zu schreiben, fühlen sie sich provoziert und streichen mir mit gelbem Textmarker Stellenanzeigen in diversen Zeitungen an. Die wenigen Freundinnen, die es noch gibt und bereits Mütter sind und/oder Geld verdienen, sprechen mich aus Solidarität nicht mehr auf mein schriftstellerisches Schaffen an. Sie halten das Schreiben für eine Wunde, für eine Niederlage, die ich zu bewältigen habe und freuen sich wahrscheinlich insgeheim, dass ich nicht recht behalten habe mit der Annahme fundamental und betörend anders zu sein als sie. Ich bin mir darüber im Klaren, dass ich zu meiner höchst persönlichen Nichtigkeit mutiert bin, gebe mich aber nicht damit zufrieden, dass es niemals mehr Erfolge geben wird. Ich weigere mich, mir erklären zu müssen, dass es das war und ich ewig müde und faul in meiner Wohnung bleibe. Doch diese ersten Tage im Frühling, die machen mich noch schläfriger als sonst und ich hasse die Taubheit in meinen Gliedern, meinem Kopf, mich.

Während ich meinen Kaffee sitzend, auf dem grau gewordenen Boden trinke, betrachte ich Trixi und Maxi, wie sie depressiv ihre Nasen zittern lassen. Maxi ist braun, Trixi weiß. Sie hat rote Augen, das finden manche widerlich, ich aber fühle mich angezogen von ihrem blutigen Blick. Die beiden stinken, sind fett und der karge Auslauf verhindert, dass sich das ändert. Ich bin eine Tierquälerin, obwohl ich doch als Studentin Spendengelder für eine Tierschutzorganisation gesammelt habe. Plötzlich weine ich. Die Bedeutungslosigkeit meines Daseins macht mich traurig. Ich könnte heute von meinem Bücherregal erschlagen werden, oder vergessen, den Gasschalter vom Herd abzudrehen und diese Gedanken machen mir keine Angst. Ich bin nutzlos und uninteressant. Nichts macht mich zu etwas Besonderem. Ich wollte Kettenraucherin werden, um den Unmut anderer auf mich zu ziehen, oder mir die Haare grün färben, um ausgelacht zu werden. Ich hasse Zigaretten und bekomme von Ammoniak üble Hautausschläge. Ich schütte mir ein bisschen heißen Kaffee auf meine Hand, das tut angenehm weh und ich drehe das Radio auf. Mich überkommt die enthusiastische Lust heute eine Zäsur zu setzen und den Tag zu einem neuen zu erklären. Alles soll anders werden und vor allem ich.

Es ist Mittwochvormittag. Obwohl die Sonne scheint und es zwanzig Grad hat, sind nicht viele Menschen auf der Straße. Sie tun, sie schaffen, sie lassen sich Gehaltszettel ausstellen. Ich nicht, ich habe es geschafft, die Wohnungstüre hinter mir zuzusperren und mich dem grauen Asphalt auszusetzen. In der Apotheke kaufe ich mir drei verschiedene Vitaminpillen, die Körper und Geist wieder fit machen sollen. Danach betrete ich die Tierhandlung, um neue Streu für den Käfig zu kaufen und verlasse das Geschäft mit zwei Kaninchenleinen. „Wir werden spazieren gehen!“, begrüße ich die depressiven Tiere, stecke sie in ihre Reisebox und fahre mit dem Auto in den Wienerwald. Ich bin schon lange nicht mehr gefahren. Eine Fußgängerin hüpft auf dem Zebrastreifen mit angsterfülltem Blick auf die Seite, ein Mann im Mercedes und später einer im BMW strecken mir im Laufe der Fahrt ihre Mittelfinger entgegen und bewegen ihre Münder im Takt zu Flüchen, die ich nicht hören kann.

Die Kaninchen werden angeleint. Ich bin aufgeregt, gar nicht müde. Ein Tag in der Sonne und das Leben wird neu. Ich werde anfangen an einem Buch zu arbeiten, es wird genial werden und in den Schreibpausen putze ich meine Wohnung und veranstalte Abendessen für vernachlässigte Freundinnen. Trixi möchte nicht so gerne gehen, sie  bleibt immer wieder sitzen und atmet schwer, vielleicht ist das Halsband ein wenig zu eng für sie, sie ist noch ein bisschen dicker als Maxi. Ich hebe sie auf und trage sie auf meinem Arm, ihre Nervosität übt keinerlei Unruhe auf mich aus. Maxi genießt es, so zu tun, als wäre er ein Wildhase und bleibt nur dann stehen, wenn er an einem Löwenzahn am Wegesrand knabbern möchte. Wir gehen eine halbe Stunde, wir begegnen nur ab und zu Pensionisten, die bei dem Kaninchenanblick entzückt aufschreien und wenn ich mir sicher bin, dass ich alleine bin, rede ich mit mir selbst in schulmeisterlichem, aber aufmunterndem Ton und sage:“ Es ist Fakt, dass du die letzten Wochen, ja Monate nicht gerade zu deinem besten genützt hast. Deine Freunde sind weniger geworden, deine Miete mehr und die Mahnbriefe auch. Du hast zwanzig Fernsehsender und kennst ihre Programme mit erschreckender Exaktheit auswendig. Geschrieben hast du nur dann, wenn du Youtube-Videos in mangelnder Orthographie kommentiert hast. Du weißt schon lange nicht mehr, was auf dieser Welt passiert. Es interessiert dich nicht, du hast dich hohl werden lassen und hast dich und alles was dich anbelangt, vernachlässigt. Jetzt ist es vorbei damit. Change! Yes, we can!“

Irgendwann werden auch Maxis verkümmerte Käfigmuskel müde, wir brauchen eine Pause und suchen uns eine Bank in einer Waldlichtung. Ich habe  zwar bereits meine drei Vitaminpillen zu Mittag gegessen, aber die Vollkommenheit ihrer energetischen Wirkung wird sich wohl erst nach regelmäßigem Genuss in meinen Gehirnzellen und Augenringen entfalten. Ich befestige die Enden der Kaninchenleinen an meinem Gürtel, die zwei hocken unter der Bank, Trixi atmet schwer, das muss sie aushalten und ich lege mich auf den Rücken, die Holzsprossen entlang. Ein bisschen kann ich Blumen riechen und ein bisschen wärmt mich die Sonne. Das Vogelgezwitscher empfinde ich nicht als störend und ich ruhe mich aus von meinem Neuanfang, der sich erwartungsvoll in diesen Tag eingenistet hat.

„Halt! Rolf! Halt! Aus! Steh!“ Ich öffne die Augen, der Himmel ist ein wenig graublau geworden, aber es ist immer noch Frühling. Unter mir ein Massaker, das eigentlich schon vorbei ist, als ich völlig klar bin und Haarsträhnen und Schlaf beiseite gestreift sind. Ich kenne mich mit Hunden nicht aus. Dieser hier ist mittelgroß, mittelschön, mittelbraun und in seinem Mund hängt weißes und warmrotes Fell. Ich setze mich auf, ein Mann zwingt den Mittelhund Trixi aus seinem Maul plumpsen zu lassen, Maxi bekommt von all dem nichts mehr mit. „Um Himmels Willen! Um Himmels Willen! Rolf, du bleibst jetzt sitzen!“ Rolf bekommt einen Klaps auf den Po und starrt gelangweilt in eine andere Richtung. „Ich weiß nicht, was ich sagen soll.“, sagt der Mann. Er ist typmäßig seinem Hund recht ähnlich. Mittelmäßig eben, aber von einer sympathischen Erscheinung. „Sie atmet noch.“, flüstere ich und bin fasziniert von der Darmschlinge, die aus Trixis Unterbauch herausgekrochen ist. „Sollen wir schnell zu einem Tierarzt?“, fragt er. Ich schüttle den Kopf. Wir sind mitten im Wald, Trixis Freund ist tot und aus ihrem Körper fließt so viel Blut, dass sie es wohl nicht bis zum Tierarzt schaffen würde. Meine Hand wandert zu dem rotweißen Elend, ich hebe es auf und berühre die Darmschlinge. Ich schließe die Augen und lasse den kleinen Kopf auf die Holzbank krachen. Er und ich, wir starren uns an. Wir kennen uns nicht und teilen doch die Brutalität und die Traurigkeit dieses Moments. Ich fühle mich ein wenig taub und sage:“ Frühjahrsmüdigkeit.“ Dann weine ich. Zum zweiten Mal an diesem Tag. Wir setzen uns auf die Bank, unter uns die Kaninchenleichen und Rolf legt sich mit seiner roten Schnauze unter die Füße seines Besitzers. „Ich bin untröstlich.“, haucht er schwach und ist peinlich berührt von den Tränen einer fremden Frau. „ Ich wollte sie gar nicht.“, tröste ich ihn, „Herbert hat sie mir zu meinem siebenundzwanzigsten Geburtstag geschenkt. Ich habe so getan, als würde ich mich freuen. Ich habe auch so getan, als würde ich mich freuen, als er mich drei Monate später verlassen hat.“ Ich lache. Nicht hysterisch, sondern leise und ehrlich, weil die absurden Ereignisse der letzten paar Minuten auf ihre Weise unerträglich amüsant sind.

Ich sitze auf dem Beifahrersitz eines roten Skoda, weil ich mich heute nicht mehr imstande fühle, Auto zu fahren. Vor einer Stunde wurde Trixi und Maxi mit der Schaufel, die eigentlich für Rolfs Kacke zuständig ist, ein Grab unter einer Tanne gegraben. „Ich sehe aus wie eine Mörderin.“, sage ich und inspiziere meine hasenblutroten Hände. Jonas, so heißt er, tippt an seinem Navigationssystem herum, um mich ohne Anweisungen meinerseits, nachhause bringen zu können. Rolf sitzt auf dem Rücksitz, er ist ganz brav und still, ich glaube, ich kann ihn nicht hassen. Jonas übersieht keine Fußgänger und niemand zeigt ihm den Mittelfinger. Als er mich vor der Haustüre absetzt, erkläre ich ihm, dass heute der Tag sei, ab dem alles anders werden sollte. Dass ich nicht mehr müde sein möchte und meine Wohnung putzen will. Jonas bittet mich, mitputzen zu dürfen und komischerweise wehre ich dieses Angebot nicht ab. Es ist mittlerweile vier Uhr Nachmittags.

Ich sortiere alte Kleidung, alte Briefe, alte Fotos, alte Aufzeichnungen nie geschriebener Romane aus und stecke sie in den leeren Käfig. Jonas schlichtet meine Bücher aus den Regalen und staubt sie anschließend ab, er spritzt Glasreiniger auf die Fenster und wischt mit Zeitungspapier drüber, er entsorgt den erinnerungsträchtigen Hasenkäfig unten im Restmüll und schrubbt die Fliesen im Badezimmer. Gemeinsam kehren wir den Boden und putzen die Spiegel. Rolf schnüffelt öfter mal an der Stelle, die bis vor kurzem Trixis und Maxis Lebensmittelpunkt darstellte, und ist ein bisschen nervös. Jonas und ich unterhalten uns, fühlen uns aber nicht gezwungen, pausenlos miteinander zu reden. Das Aufräumen an sich ist Geräuschkulisse genug und klimpert, raschelt und schrubbt etwaiges peinliches Schweigen fort. Jonas war mal verheiratet und ist es jetzt nicht mehr. Er hat eine Tochter, die ist klein, aber er sieht sie nicht häufig. Sein Job ist nichts aufregendes, in irgendeinem Büro in irgendeinem Gebäude, er spielt gerne Tennis und ist Mitglied einer Tierschutzorganisation. Er kann nicht Skifahren, weil er kaputte Kniescheiben hat. Er ist süchtig nach Vanillejoghurt. Er geht manchmal in die Kirche, die evangelische. Einmal hat er Urlaub in Kalifornien gemacht, dort hat es ihm sehr gefallen. Er mag es warm. Er mag den Frühling. Ich weiß nicht, wer Jonas ist, aber er ist mir sehr behilflich und ich mag seine Mittelmäßigkeit. Das sage ich ihm und als er mich ein wenig traurig ansieht, erkläre ich ihm:“ Es ist schön mittelmäßig zu sein. Da stehen einem alle Chancen nach unten und oben offen.“ Als mich meine Wohnung so anstrahlt, wie sie es noch nie getan hat, bitte ich ihn noch, mir zu helfen, meine Möbel ein wenig umzustellen. Wo früher der Esstisch stand, befindet sich jetzt die Couch und umgekehrt, der Teppich wird vor die Wohnzimmertüre geschoben und der Schreibtisch ersetzt den Hasenkäfig. Jonas und ich nehmen auf dem Boden Platz und trinken ein Glas kaltes Wasser. Rolf hechelt, wir haben vergessen, ihm eine Schüssel auf den Boden zu stellen, aber angesichts seiner Tat, findet Jonas diese Unaufmerksamkeit nur Recht und billig. „Was machst du eigentlich so?“, fragt er mich und ihm wird wohl erst jetzt bewusst, dass ich nur ihn habe reden lassen. Das kann ich gut. Als Interviewerin fungieren, in der Hoffnung, dass man auf mich vergisst und meistens klappt das auch. Ich beiße mir auf die Unterlippe und murmle:“ Im Moment. Da kann ich das nicht…also. Es ist schwer zu definieren.“ Er hakt nicht nach und trinkt sein Wasser in einem Zug leer. „Es war ein turbulenter Tag.“, sagt er, „möchtest du vielleicht noch mit mir Abendessen gehen?“ „Nein.“, antworte ich, „das käme mir heute ein wenig pietätlos vor. Ich möchte das Risiko nicht eingehen, beim Studieren der Speisekarte auf Hasenragout zu stoßen.“ Jonas zeigt sich verständnisvoll, lässt mir seine Telefonnummer da und geht. Ich bleibe kurz stehen, verharre, bin alleine und setze mich an meinen Schreibtisch. Ich öffne eine leere Datei und das reine Weiß möchte von mir beschrieben werden. Heute Nacht. Schon stehen ein paar Buchstaben zwischen heute und morgen. Ich weiß, dass ich es kann. Und wenn es vollbracht ist, dann rufe ich Jonas an und erzähle ihm, was ich so mache.