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Monika Götsch: Um 3 am See 

Sie hatte ihn nicht mitnehmen wollen.
Immer muss ich ihn mitnehmen, immer muss ich aufpassen, hatte Dorothea gesagt. Ich bin doch nicht Fabians Babysitter.
Da stand die Sonne ganz hoch am Himmel. Einer der ersten Tage für die weiße Hose, ein perfekter Tag, um mit Lu draußen herum zu liegen, Rotwein zu trinken und vielleicht zu knutschen oder mehr.
Aber die Mutter hatte ihr den Bruder unter den Arm geklemmt.
-Du nimmst ihn mit, pass gefälligst auf ihn auf, sonst setzt es was.
-Rache, hatte Dorothea gezischt, das gibt Rache.
Sie hatte Fabians Pfote gepackt und ihn die Straße runter  zur Bushaltestelle gezerrt. Fabian kam kaum die Stufen in den Bus hinauf mit seinen dicken, kurzen Beinen. Er trug seinen Cowboyhut, ein geflochtenes, ausladendes Ding, und die Knarre hatte er auch dabei.
Hoffentlich, dachte Dorothea, hoffentlich kommt mein Pickel nicht raus. Manchmal kommt ja so ein eitriger Pickel gerade dann raus, wenn es am wenigstens passt. Wenn Lu sich über mein Gesicht beugt...Ekelhaft.
Dorothea und Fabian saßen ganz vorn im Bus. Fabian quasselte in einem fort. Natürlich wollte er schon hinter den Maisfeldern nach der ersten Kurve was zu trinken, und Dorothea kramte in ihrer Tasche und zog zwischen der Wolldecke und der Rotweinflasche die Limonade hervor. Fabian trank gierig, dann schloss er den Flaschenhals mit dem Daumen, schüttelte, zog den Daumen weg und das gelbe Zeug schäumte direkt auf Dorotheas weiße Hose. Dorothea kniff Fabian fest in die Seite. Der schrie. Da hielt der Bus schon wieder. Dorothea stieg aus, den schreienden Fabian mit seinem irren Riesenhut fest an der Hand. Sie hatte einen gelben Fleck auf der neuen Hose, mitten auf dem rechten Oberschenkel.
- Wie weit müssen wir laufen, fragte Fabian schluchzend.
- Sehr weit, sagte Dorothea.
Sie hatte sich umgesehen, nirgends eine Spur von Lu. Er hätte sie mit dem Fahrrad abholen können, aber er holte sie nicht ab. Also würde sie allein zum See gehen. Macht nichts, dachte Dorothea, macht nichts. Sie fing an zu singen.
- Just a perfect day.
- Was singst du da? fragte Fabian.
Auf jeden Schritt von Dorothea machte er zwei Schritte, kleine, ungleichmäßige Sprünge.
- Doro, wohin gehen wir?
- Just a perfect day. Das ist cool. Davon verstehst du nichts. Aber wenn ich den Fleck nicht aus meiner Hose rauskriege, dann gibt es richtig Ärger, verstehst du? Richtig Ärger kriegst du.
Sie funkelte ihn an.
- Du bekommst das Geld aus meinem Geldbeutel, sagte Fabian. Ich geb dir mein ganzes Geld, okeee?
Er sagte okeee, es klang bescheuert, ein lang gedehntes okeee. Dorothea lachte.
- Hast ja eh nix.
- Wohl hab ich was!
In der Ferne sah man schon den See, vor Jahren ausgehoben, eine ebenmäßig gezogene Kiesgrube voll hellgrünem Wasser. Im Sommer lag hier das halbe, miese Dorf dicht an dicht zwischen den Büschen am Ufer. Aber heute war nichts los, ein normaler Werktag. Die Leute hatten noch nicht begriffen, dass Frühling war, nur Lu hatte das begriffen. Lu begriff so was, er hatte einen Sinn dafür: die Luft, der Himmel, dass etwas anfing. Und sie, Dorothea, war an einem solchen blauen Tag verabredet mit Lu. Ausgerechnet sie. Ausgerechnet Lu.
- Nach der Schule, gleich um drei am See, hatte er gesagt.
Dorothea stand da, wie festgefroren. Er hatte auf dem Fahrrad gesessen und sich nur kurz über seine Schulter zu ihr umgedreht. Sein Haar war ganz verstrubbelt. Kein Wunder, dass alle in Lu verknallt waren, Isabelle, Dorothea, alle.
Lu hatte gerufen: Nach dem Mittagessen, um drei, See Südseite! Du kommst doch ganz bestimmt?
- Klar doch, hatte Dorothea gerufen, was Besseres war ihr auf die Schnelle nicht eingefallen, ein richtig doofes Klar doch. Sie stand nun mal auf dem Schlauch, wie ihre ganze Familie. Was einer wie Lu an ihr finden konnte. An einem Mädel fast ohne Busen und mit dicken Beinen und ohne Locken, die immer mit diesem Baby von Bruder rumhing. Immer hatte sie diesen Bruder an der Backe, nachmittags auf dem Pausenhof, bei Isabelle im Partykeller, immer. Weil die Mutter in die Stadt zur Bestrahlung musste und die Tage danach kotzend im Bett verbrachte und alles an Dorothea ausließ, an wem auch sonst, wo der Vater ja vor ihrer Krankheit abgehauen war. Und Dorothea bekam ihren Bruder auf´s Auge gedrückt.
Arschig, dachte Dorothea. Ich Arsch.
Aber Lu mochte sie. Er hatte gelächelt. Ganz bestimmt hatte er ihr über seine Schulter zugelächelt. Unfassbar. Unfassbar süß.
Zu Hause gab es nach der Schule massenhaft Königsberger Klops und Salzkartoffeln und Erbsen. Mal sehen, wie lang ich das drin behalte, hatte Dorotheas Mutter gesagt. Das klang nur blöd. Die Mutter kochte wie immer viel zu viel, ganze Berge, als wären sie noch zu viert, oder sie kochte gar nichts und zwang Dorothea, sich auf Schokoriegel zu stürzen und Chips und fett zu werden wie sie mal fett gewesen war. Wer um alles in der Welt konnte an einem solchen ersten, leichten Frühlingstag Königsberger Klops mit Salzkartoffeln und Erbsen essen, außer vielleicht Fabian, der alles in sich hinein schob, mmm, lecker, und Mama auf den Schoß kroch und an ihrem Kopftuch herum zupfte, dass es ihr nach hinten rutschte und man diese glänzende Stirn sah, die gar nicht mehr aufhörte, so weit ging es nackt nach hinten.
Dorothea hatte ihren Teller einfach stehen lassen, war nach oben gegangen und hatte sich, auf dem Rücken liegend, in die weiße Hose gequetscht, über deren Bund vorne und seitlich ein Stück Wabbelfleisch hing. Lu würde dieses Wabbelfleisch bemerken, wenn er mit ihr knutschte. Wenn er überhaupt mit ihr knutschen wollte, wo er doch ganz schlank und fest war und so gut roch wie Dorothea bestimmt nie, nach frischer Luft und nach Honig. Klar, dass alle Mädels nur ihn toll fanden, nur ihn. Dann fiel ihr ein, dass Lu vielleicht Mark dabei haben würde, weil Lu eigentlich nirgends ohne Mark auftauchte, Mark und Lu waren unzertrennlich, das wusste Dorothea.
Auch das noch, dachte sie,  blieb stehen, öffnete den Schraubverschluss der Weinflasche und trank. Es brannte in der Kehle genau so, wie es brennen sollte. Mark, schlimmer geht´s gar nicht. Erst Fabian, den sie mit einem Sack Gummibärchen ausschalten musste, dann Mark. Hoffentlich kommt er allein, denn sonst wird das nichts werden mit so einer Knutscherei wie am Samstag bei Isabelle. Bestimmt zehn Minuten lang hatten sie und Lu geknutscht. Ganz plötzlich, hinter der Toilette im Flur hatte er sie gepackt und geküsst, in einem dunklen Winkel, wo keiner sie sehen konnte, und sie hatten sich geküsst und geküsst, bis Isabelles Eltern alle Lichter angemacht und das Fest für beendet erklärt hatten. Schluss mit der Sauferei, hatte der Alte gebrüllt, dabei war gerade erst Mitternacht.
Verdammt, dachte Dorothea, der vom Gedanken an die Knutscherei der Bauch ganz heiß geworden war, bestimmt kommt er mit Mark. Verdammt, sagte sie und ließ Fabians limonadeklebrige Hand los.
Sie hockten auf einer Wolldecke am südlichen Seeufer im Kies, zwischen ein paar spärlich grünenden Büschen, die bis ans Wasser reichten.
- Was verdammt? Man soll nicht verdammt sagen!
- Ich sag verdammt, wenn ich dazu Bock hab, okay? Verdammt, weil es an diesem See verdammt einsam ist.
- Das macht doch nichts, sagte Fabian. Wir spielen Cowboy und Indianer. Ich bin der Cowboy.
Er hob sein Gewehr und zielte mitten in Dorotheas Gesicht. Peng.
Dorothea stand auf und griff nach seinem Hut.
- Lass das bloß bleiben, sagte sie. Schau, was ich mit deinem Hut mache.
Sie blinzelte gegen die Sonne, zog den rechten Arm um ihren Körper und schleuderte den Hut wie einen Frisbee in den See. Mein Hut, schrie Fabian. Dorothea setzte sich auf die Wolldecke, nahm einen Schluck aus ihrer Flasche und wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab. Dann rieche ich halt nach Wein, wenn Lu kommt. Seine Schuld. Schöne Frauen lässt man nicht warten, hatte Papa gesagt. Bin ich etwa keine schöne Frau? Dorothea ließ sich auf den Rücken fallen und blinzelte in den blauen Himmel. Fabian schluchzte. Er hatte sich neben ihr im Kies ganz zusammen gekrümmt.
Das hatte er von der Mutter, diese stundenlange, vorwurfsvolle Schluchzerei.
- Mein Hut. Mein Hut.
Der Hut schwamm zwei Meter vom schilfigen Uferrand entfernt. Er war umgekippt und sah aus wie ein großes, braunes Nest. Das ist gar kein Hut, lachte Dorothea beim nächsten Schluck. Das sieht doch ein Blinder mit Krückstock. Das ist ein Nest. Du hattest ein Nest auf dem Kopf.
- Das ist mein Cowboyhut, du!
- Pech gehabt, jetzt ist es ein Nest, schau doch mal, wie schön dein Nest schwimmen kann! Gleich kommt eine Ente vorbei, quak, quak und legt ein dickes schleimiges Ei hinein!
Dorothea sang. Just a perfect day, you make me forget myself. Sie trank. Sie musste die Flasche mit beiden Händen halten, 1,5 Liter, das war gewaltig, ein dunkelroter, süßer Wein. Im letzten Jahr hatten sie ihn aus ineinander gesteckten Strohhalmen getrunken, hier am See, da war Lu noch gar nicht dabei gewesen. Wer weiß, was sie sonst gemacht hätten, Dorothea und Lu. Dorothea hatte damals sogar nackt gebadet. Alle hatten sie nackt gebadet, die Bäume waren da dicht belaubt gewesen und im See zogen Schwärme von kleinen Fischen um Dorotheas Unterschenkel.  Sie war sich ausnahmsweise schön vorgekommen, so nackt im See und auch danach, auf der Decke. Käseweiß, aber schön. Die blonden Haare hatte sie noch in der Sonne trocknen lassen und mit den Fingern nach hinten gekämmt, damit die Mutter nichts spitz kriegte von ihrem Bad im See, FKK, das hätte sie abstoßend gefunden, die Mutter sah sich ja nicht mal mehr selber im Spiegel an, seit der Narbe an der Brust und dem Haarausfall, dabei war Nacktsein doch das Natürlichste der Welt.
- Du bist selber ein Ei, rief Fabian.
- Und du bist so niedlich, wenn du dich aufregst, sagte Dorothea. Sie begann wieder zu singen.
- You just keep me hanging on, you just keep me ha-a-nging on.
Sie trank. Ob ihre Lippen blau waren und die Zähne?
- Fabian, hab ich blaue Zähne?
Fabian kroch zu Dorothea.
- Nein, aber du stinkst. Du holst mir doch den Cowboyhut, bevor wir gehen?
- Weiß nich´, sagte Dorothea. Geh endlich zum Wasser, spielen.
Wenn Lu käme, würde er sehen, dass sie die Flasche schon zur Hälfte geleert hatte. Am Nachmittag. 0,75 Liter Rotwein in eineinhalb Stunden. Kräftiger Zug für eine Neuntklässlerin, würde er sagen. Cool. Alle Achtung.
Wenn er nur endlich kommt. Wenn er kommt. Wenn er überhaupt kommt. Hatte er sie gelinkt? Wie Isabelle? Ich liebe dich, hatte er ihr geschrieben, Isabelle hatte den Brief allen gezeigt, ich liebe dich am meisten in deinem rosa Kleid, ohne was drunter, und Isabelle war in der Schule erschienen, mitten im Winter, in ihrem rosa Kleid, ohne was drunter, und dann hatte er sich auf dem Pausenhof über Isabelle halb tot gelacht und Dorothea und ihre Freundinnen hatten mitgelacht, weil sie Isabelle nicht sonderlich mochten. Mit dem Finger hatten er und Mark auf Isabelles sliplosen Hintern gezeigt, haha, die glaubt auch alles. Dorothea stieg das Blut in Wellen über die Brust in den Kopf. Wenn er es nun genauso machen würde? Genauso mit ihr? Wenn er da drüben saß und sah, wie sie wegen ihm abhing?
Der Himmel drehte sich, der See, Fabian, der Steine ins Wasser warf, ganze Hände voll, die Büsche, alles schleuderte hin und her, auch wenn sie lag und die Augen schloss, drehte es sich und sackte schließlich weg, ins Nichts.
- Holst du mir jetzt den Cowboyhut?
Da war er wieder. Fabian. Dorothea öffnete die Augen. Die Sonne stand tiefer, sie fröstelte.
- Fuck up! Selber schuld, wenn du nicht schwimmen kannst.
Fabian schluchzte auf.
- Du musst ihn mir holen! Du hast ihn in den See geworfen! Ich will nach Hause. Ich sag´s der Mama.
- Fuck.
Fabian stand im Schatten. Sie sah sein Gesicht nicht, nur die Kontur seines großen, runden Kopfs über den schmalen Schultern. Er sagte kein Wort. 
- Mir ist so übel, stöhnte Dorothea. Sie rollte auf die Seite. Es wurde nicht besser.  Fabian stand am See und schöpfte Wasser mit beiden Händen. Wenn bloß Lu mir nicht auflauert, irgendwo in den Büschen da drüben, mit Mark. Wenn er bloß nicht mitkriegt, wie ich hier abwracke wegen ihm.  Noch ein kleiner Schluck, das hilft. Sie trank, dann sackte sie wieder zurück auf das Handtuch.
Auf ihr rechtes Bein floss etwas Kaltes. Fabian rieb mit beiden Händen auf ihrem Hosenbein herum.
- Hör auf, stöhnte Dorothea. Hör auf, mir ist schlecht.
- Ich mach den Fleck weg, okee? Es ist schon gar nicht mehr gelb, Doro, ich hol noch mehr Wasser. Ich trag das mit den Händen, es schwappt gar nicht.  Und wenn der Fleck weg ist, holst du meinen Cowboyhut aus dem See, okee?
Noch mehr Seewasser floss über ihr Bein.
- Hör endlich auf damit!
Dorothea gab Fabian einen Stoß mit der Faust. Fabian taumelte.
- Ich hab doch gar nichts gemacht!
- Lass mich in Ruh!
Fabian starrte sie an, dieser Mistkerl, dieser schwankende Mistkerl, das Wasser, die Bäume, alles schwankte. Dorothea nahm all ihre Kraft zusammen und knallte Fabian eine. Die Ohrfeige landete irgendwie seitlich, am Rand seines Gesichts. Fabian stürzte, am Wasser blieb er liegen. Es war ganz still. Dorothea wälzte sich auf die andere Seite.  Sie heulte so heftig, dass sich ihr ganzer Körper zusammen krampfte. Als sie aufwachte, dunkelte es schon. Sie fror.
- Fabian, wir gehen, sagte sie und trat mit dem Fuß gegen die Rotweinflasche. Die Flasche schlug über die Kiesel und rollte in den See. Dorothea hielt sich den Kopf. Es tat so verdammt weh. Sie übergab sich.
Neben der Wolldecke lag eine aufgerissene, leere Tüte Gummibärchen.
- Los, Fabian, zeig dich. Wir gehen.
Fabian kroch aus dem Gebüsch hervor. Er war ganz weiß im Gesicht.
- Erst den Hut, sagte er.
- Scheiß auf deinen Hut. Wir gehen.
Er näherte sich Dorothea. Sie hielt die Hand hin, um seine zu nehmen, wenigstens das, eine warme, weiche, klebrige Hand. Aber sie fasste ins Leere.
Fabian hatte schon nach seiner Knarre gegriffen und weit ausgeholt. Dann schlug er zu, von unten her und so fest er konnte.