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Heidi van Elderen: Männer wie wir 

An meinem 45. Geburtstag erkannte ich, dass mein Vater nichts dafür konnte. Meine Unfähigkeit mich zu verlieben war eine Folge der Lichtverschmutzung. Die Diagnose bekam ich schwarz auf weiß und wissenschaftlich belegt: „Echte Frühlingsgefühle gibt es höchstens noch bei den Eskimos“, stand in der Rheinischen Post. „Künstliches Licht und geheizte Räume unserer zivilisierten Welt sind laut Professor Rinker dafür verantwortlich, dass sich der Wechsel vom Winter zum Frühling im menschlichen Hormonhaushalt nicht mehr bemerkbar macht.“ Was das für die bedeutet, bei denen der Hormonhaushalt ganzjährig auf Winter statt auf Sommer geschaltet ist, konnte man sich ja ausrechnen.
Meines Wissens bezahlen die Krankenkassen noch nicht für die Therapie, aber wenn Sie ebenfalls darunter leiden, sich nicht verlieben zu können, vor Müdigkeit den Schwanz hängen lassen und weder mit Schlaf noch Psychopharmaka das Loch in ihrem Kopf stopfen können, sollten Sie es mir gleichtun, Straßenlaternen und Leuchtreklamtafeln den Rücken kehren und nach Grönland reisen. 
 „Was willst denn da so lange?“, fragte Herbert und schmeckte ab. „Da ist es doch jetzt dunkel wie im Arsch.“ Ich hielt ihm den ausgerissenen Artikel unter die Nase. Er verstand sofort, reagierte aber gewohnt unsensibel. „Und dann stehst du da mit deinen Frühlingsgefühlen und es gibt nur Eskimos und Eisbären zum Ficken.“ Mein Mitbewohner, der unglücklicherweise auch mein bester und einziger Freund war, lachte so, dass eine Ravioli aus seinem Mund rutschte und zurück in den Topf fiel. Seit er in den Puff ging, war er so ordinär. Doch meine Abscheu vor Herbert hat sich in den Jahren an etwas ganz anderem fett gefressen: unserer Ähnlichkeit. Die fing schon bei Äußerlichkeiten an. Klein und kurzsichtig, kinn- und bartlos schleppten wir uns durch unsere arbeitslosen Leben, im Gepäck die Gewissheit, zu jenen Männern zu gehören, die schon als Kind nie in die Fußballmannschaft gewählt worden waren und es auch im Leben nie über die Ersatzbank hinaus brachten. Wen wundert es da noch, dass wir uns bei den „Absoluten Anfängern“ kennen lernten. Ein Verein für Leute über 30, die noch nie Sex hatten. Sie denken jetzt vielleicht, das wäre eine Art Kontaktbörse nach dem Motto „Jungfrau trifft Jungfrau“. Das hatte ich auch gehofft. Aber man muss sich das eher wie bei den Anonymen Alkoholikern vorstellen. Einer stand auf und sagte: „Ich heiße Karl, bin 35 Jahre alt und hatte noch nie Sex.“ Gruppenleiterin Theresa, die Maya genannt werden wollte, sagte in sanftem Singsang: „Schön, dass du zu uns gefunden hast, Karl. Wir werden dir dabei helfen, bald auch die körperliche Liebe zu entdecken.“ Die anderen, ebenfalls unfreiwillig unschuldigen Frauen rissen sich nun nicht die Kleider vom Leib und stürzten sich auf Karl, obwohl damit  alle Probleme auf einmal gelöst gewesen wären. Stattdessen wurde diskutiert, wie wenig Zeit Karls Arbeit für die Begegnung mit Frauen ließ, warum seine Mutter ihn immer gezwungen hatte, ihr die Haare zu föhnen und wie oft er masturbierte. Als ob das Ganze nicht ohnehin schon peinlich genug war. Ich wusste spätestens nach meiner Vorstellung, dass ich mich am falschen Ort befand. „Ich bin Thilo, 40 Jahre alt, hatte noch nie Sex und war auch noch nie verliebt.“ Fast ohne zu stottern. Maya-Theresa schaute trotzdem irritiert. „Aber du hast doch sicher schon mal für jemanden geschwärmt.“ Ich schüttelte den Kopf. Betretenes Schweigen. „Hast du schon mal über eine Therapie nachgedacht?“ fragte Theresa und ordnete ihren Batikschal so, dass er die hektischen roten Flecken in ihrem Ausschnitt verbarg. Ich wusste Bescheid. Jungfräulichkeit war ein lösbares Problem, Liebesunfähigkeit zeichnete in diesem Kreis offenbar die wahrhaft Irren aus. Nur der schmächtige Mann in der zweiten Reihe lächelte mir schüchtern zu. Ein Gleichgesinnter. Zwei Wochen später zog Herbert, damals 37, bei mir ein. Ich hatte ein Zimmer frei und freute mich über Geld und Gesellschaft. Er wollte bei Muttern raus und suchte eine billige Bleibe. Zu den Treffen sind wir nicht mehr gegangen.
Drei Jahre später spendierte sich Herbert eine Entjungferung zu Weihnachten und ging anschließend so oft hin, wie er es sich leisten konnte, ungefähr zweimal im Monat.  Bei mir meldete sich der Trieb zum Glück nur alle fünf Monate mal. Dann ließ ich ihn einen Kohlkopf begatten und legte ihn anschließend wieder schlafen. Aber ich hatte ein anderes Problem: ich träumte davon, mich zu verlieben. Und noch mehr wünschte ich mir, jemand würde sich in mich verlieben. Nicht so sehr, weil ich mich nach einer Frau sehnte. Sondern weil ich endlich wie alle anderen und vor allem nicht mehr so alleine sein wollte. Herbert wusste das. Er schob mir eine Flasche Bier hin. „Den ganzen Liebesscheiß vergessen und endlich in der Realität ankommen, das musst du. Und da ist für unsereins eben im besten Fall noch ein guter Fick drin. In Grönland nicht mal das. Die Eisbärendamen fressen dich schon beim Vorspiel und die Eskimomädels stinken nach Robbenfellunterwäsche und Fischtran. Falls sie dich überhaupt so nah rankommen lassen.“ „Inuit. Nicht Eskimos, sondern Inuit.“ Herbert rollte nur mit den Augen, nahm einen Schluck und rülpste säuglingsgleich. Das ärgerte ihn. Die schlechten Manieren, von denen er glaubte, sie seien männlich, hatte er schon erfolgreich eingeübt - an Lautstärke und Resonanz musste er aber noch intensiv trainieren.  „Thilo, Frauen verlieben sich nicht in Männer wie uns. Hast du das immer noch nicht begriffen?“
Ich antwortete nicht, vielleicht weil ich wusste, dass er Recht hatte. Schon als Fünfjähriger war ich regelmäßig gewarnt worden. „Thilo, nimm dich vor dem Weibsvolk in Acht“, hatte mein Vater immer gesagt, während ich auf der Klobrille saß und zuschaute, wie er die blauen Flecken im Gesicht überschminkte, bevor er einkaufen ging. „In Männer wie uns verliebt sich keine Frau. Und wenn wir doch eine abbekommen, entpuppt sie sich spätestens nach der Hochzeit als Männer fressendes Monster.“ Obwohl meine Mutter mich fast nie schlug und auch nur ganz selten an den Haaren zog, folgte ich Vaters Rat. Wenn die anderen Jungs meiner Klasse im Freibad hinter der Hecke lagen, um den Mädchen auf die Brüste zu glotzen, beobachte ich im Zoo die Giraffen. Als man sich in meiner Ausbildung nach der Arbeit zum Picknick und Paaren auf den Rheinwiesen traf, saß ich Zuhause und schaute Tierfilme. Tiere hatten etwas, das ich bei Mädchen immer vermisst habe. Erst als alle anderen heirateten und Kinder in die Welt setzten, ging mir auf, dass ich etwas verpasst hatte. Aber da schaffte ich es schon nicht mehr, es zu ändern. Die traumatischen Erfahrungen in meiner Kindheit seien dafür verantwortlich, dass ich mich nicht verlieben könne und zu Depressionen neige, hatte mal eine Therapeutin gemutmaßt. Ich wollte ihr nun nicht Unrecht tun. Als sie die Diagnose stellte, gab es Rinkers Erkenntnisse über die verheerenden Folgen der Lichtverschmutzung schließlich noch nicht.
Die ersten zwei Monate marinierte mich Grönland mit Dunkelheit und Kälte. Ich saugte den Winter auf, lag in meinem kleinen, zugigen Hotelzimmer in Upernavik am Fenster und schaute zu, wie die Nordlichter grün und blau und gespenstisch durch den Himmel huschten. Es gefiel mir auf der Insel, auf der die meisten Orte nur mit dem Boot oder Flugzeug erreichbar waren und man so isoliert lebte, wie ich mich schon immer gefühlt hatte. Das Eis schien alles Leben eingefroren zu haben, selbst die Leere in meinem Kopf. Zum ersten Mal sah ich Menschen, die genauso langsam gingen wie ich, und fühlte mich zuhause. 
Als die Sonne der Nacht einige Stunden abtrotzen konnte, ging ich nach draußen.  Die Tundra trug noch ihr weißes Winterkleid, doch in meinen Füßen keimten schon Gänseblümchen. Ich, der sonst selbst zum Bäcker eine Station mit der Bahn gefahren war, ging plötzlich jeden Tag spazieren und lächelte manchmal sogar den Schlittenhunden zu. Einmal traf ich im Speisesaal einen Japaner, der mich fragte, wo man pulverisierte Eisbärenpenisse kaufen könne. Vor Schreck verschüttete ich meinen Tee. „Ist gut für die Potenz“, sagte er, kicherte wie ein 13-jähriges Mädchen und klopfte mir auf die Schulter. Das mit den Frühlingsgefühlen schien nicht nur bei mir zu wirken. Eine Frau, die mir gefiel, hatte ich allerdings noch nicht gesehen. Aber ich hatte noch Zeit: Ich wollte Grönland frühestens im Sommer verlassen und eigentlich auch erst dann, wenn ich mich verliebt hatte.
Doch solange musste ich nicht warten. An einem Montag im April sah ich sie. Wir spazierten beide in der Bucht, sie hielt inne und schaute träumerisch aufs Meer hinaus. Ihr weißblondes Haar glitzerte in der Sonne. Sie hatte gerade die richtige Größe, um ihren Kopf auf meine Schultern zu legen und sah zugleich so stark aus, als könne sie mich auf ihrem Rücken mühelos übers Eis tragen. Sie war etwa 50 Meter von mir entfernt, ich traute mich nicht, sie anzusprechen. Aber wir schauten uns in die Augen. Und am nächsten Tag kamen wir beide wieder, zur selben Uhrzeit. Und am Tag danach auch.
Ich fragte im Hotel nach der Fremden. Keiner wusste, wo sie genau wohnte. Sie käme immer allein, sagte der junge Koch, er glaubte nicht, dass sie Kinder hatte. Die Hotelbesitzerin stellte einen Teller mit Mattak, das ist Walhaut mit Speck, auf meinem Tisch ab, wischte sich die runzeligen Hände an der Schürze ab und stemmte sie in die Hüften. Sie schaute mich eindringlich an: „Du interessierst dich also für die Schönheit, die sich draußen in der Bucht herum treibt?“ Ich nickte. Sie beugte sich vor und begann zu flüstern, obwohl wir die einzigen im Raum waren. Eine Wolke Spiritusgeruch fiel aus ihrem Mund und stellte sich zwischen mich und mein Abendessen. „Sie hat schon drei Männer ins Grab gebracht. Ich vermute, mit Haut und Haar gefressen. Der erste hat seine Frau geschlagen, der zweite sein Geld vertrunken und der dritte trieb sich durch die Betten. Deshalb nennen sie manche Weiber im Ort Arnatsiaq, was soviel wie „gute Frau“ heißt.“ Sie schnaufte. „Wenn du mich fragst, sollte eine Ehefrau alleine ihren Mann versorgen können. Dazu gehört auch, ihn notfalls eigenständig von der Eisscholle zu schubsen.“ Während Sie zurück in die Küche ging, murmelte sie noch vor sich hin, dass Arnatsiaq hier keiner haben wolle. Eine geheimnisvolle Schönheit, die jedes Frühjahr den Frauen im Ort hilft, ihre Männer umzubringen? Sie müssen zugeben, dass Sie diese Geschichte auch nicht geglaubt hätten.
Ich ging weiterhin jeden Tag zur Bucht und schickte sogar Herbert ein Bild von ihr. Bei den „absoluten Anfängern“ hatte ich gelernt, dass Frauen nicht heimlich fotografiert werden wollen. Ich zeigte ihr deshalb die Kamera. Sie nickte mir unmerklich zu und stellte sich in Positur, kam aber nicht näher. Herbert war beeindruckt. „Was für eine Wuchtbrumme“, schrieb er „Aber pass auf, Junge. Die Kleine sieht so aus, als wolle sie dich zum Frühstück  vernaschen.“ Vielleicht war es genau das, was ich wollte: vernascht werden.
Ich begann um sie zu werben. Abends im Hotelzimmer machte ich Sit-ups für die Bauchmuskeln. Unter der Daunenjacke waren sie natürlich nicht zu sehen, aber der Sommer würde kommen. Es gab kein Blumengeschäft im Dorf, die grönländischen Glockenblumen blühten noch nicht und Arnatsiaq sah nicht wie eine Frau aus, die Schmuck trug, deshalb brachte ich ihr manchmal in Salzwasser gekochte Seehundfilets mit, eine Spezialität aus der Hotelküche. Sie schien sich zu freuen, jedenfalls aß sie immer alles auf. Nach einer Weile sprachen wir auch miteinander. Eigentlich sprach nur ich, denn Arnatsiaq verstand meine Sprache genauso wenig wie ich die ihre. Sie meinen jetzt vielleicht, unsere Beziehung wäre von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen, aber das stimmt nicht. Meine Eltern hatten die gleiche Muttersprache und haben sich doch nie verstanden. Zwischen uns dagegen gab es eine Verständigungsebene, die keiner Worte bedurfte. Ich gebe zu, das Sprachproblem machte die Sache für mich außerdem viel einfacher. Ich redete soviel wie nie zuvor, las sogar Gedichte von Heine vor und sagte, wie schön ich ihre dicken Schenkel fand – ohne jemals Angst haben zu müssen, sie könne mich auslachen oder missverstehen. Manchmal tanzte sie auf dem Eis für mich und das war mir Antwort genug. Doch auch nach Wochen blieben wir immer einige Meter auf Distanz.
Dann wagte ich es. Ich setzte mich neben sie. Mein Herz schlug Purzelbäume und mein Magen rumorte. Ich war nicht sicher, ob das die besagten Schmetterlinge oder ein drohender Durchfall waren. Sie brummte zustimmend und rückte nicht einen Millimeter ab. Ich legte meine Hand auf ihre Tatze. Sie roch nach Salzwasser und Wind. Ich war in meinem Leben nie so glücklich gewesen. Die Eiderenten kreischten. Als hätte sie auf ein Signal gewartet, drehte sie mir den Kopf zu und schaute mich voller Verlangen an. Da wusste ich, dass es doch Frauen, ja sogar ganz wunderbare Frauen, gab, die sich in Männer wie uns verlieben konnten. Sie lächelte und zeigte ihre großen, ja unglaublich großen, weißen Zähne.
In einem hatten Herbert und mein Vater doch Recht. Denn gefressen, gefressen hat sie mich.