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Regina Schleheck: Gelis geile Gegenstände 

„Gegenstände“ nannten sie sie und taten unheimlich cool damit. Dabei konnte man förmlich sehen, wie sich der Geifer in ihren Mundwinkeln sammelte, während sie bemüht lässig am Tor herumstanden und nur gelegentlich den Kopf wandten,wenn ein besonders interessantes Paar Gegenstände an ihnen vorbei getragen wurde.
Die Mädchen zerfielen in verschiedene Lager. Manche, wie Gudrun Kohlenbach oder Karin Selbtner, beschleunigten den Schritt, zogen die Schultern ein und schienen nichts spannender zu finden als das Muster der Pflastersteine, die in mäandernden Folgen rotgrau, hellgrau und dunkelgrau ineinander verwoben angeordnet waren, den ganze Weg von dem Mädchenschlaftrakt auf dem Gelände des Internats bis zum Haupteingang des Lyzeums. Gudrun hatte aber auch den schwersten Stand - im doppelten Wortsinn. Sie war schon in der Untertertia derart aus dem Leim gegangen, dass es kaum auffiel, als die Fettsäckchen, die an ihrer Brust vor ihr herschwabbelten, sich irgendwann hormonell bedingt zu runden begannen und fester wurden. Dabei möchte ich schwören, dass sie die erste war. Ich weiß es deswegen so genau, weil ich beim Turnunterricht immer die zweite Hilfestellung machen musste. Die zweifelhafte Ehre war mir gleich am ersten Tag zuteil geworden, als Käsling uns an allen Geräten testete und in Riegen einteilte, die er dann je nach Leistungsniveau unterschiedliche Übungen turnen ließ. Ich gehörte zu den wenigen Externen der Klasse, turnte seit meinem dritten Lebensjahr im TuS Birkenberg und war mittlerweile im A-Kader. Während Käsling es sich nicht nehmen ließ, Kippen und Felgen am Reck oder Barren und die Sprünge am Pferd höchstpersönlich vorzuführen, überließ er mir das Vormachen der Boden- und Schwebebalkenübungen, die Überwachung des Geräteauf- und -abbaus und die Sicherung bei der Hilfestellung. Geli, Gabi und Kerstin waren nach mir die Besten und daher für alle weiteren Hilfen, Auf- und Abbauarbeiten zuständig.
Gudrun war ein hoffnungsloser Fall. Selbst Käsling, der angekündigt hatte, dass jede von uns den Handstand schaffen würde, musste vor ihrer überbordenden Leibesfülle kapitulieren. Er zerrte vergeblich an ihren Fußknöcheln, während ich als Oberarm-Schulter-Stütze bemüht war die unweigerliche Kopflandung abzubremsen. Dabei hatte ich immer wieder unfreiwillig Gelegenheit mit der Beschaffenheit ihrer schwellenden Brüste Bekanntschaft zu machen.
Karin Selbtner hingegen war so lang und hager, dass sie an Unattraktivität mit Gudrun Kohlenbachs Fettleibigkeit locker mithalten konnte und dass keine von uns Lust verspürte sich in ihrer Nähe aufzuhalten, schon gar unter den forschenden Blicken der Realschüler, die jeden Morgen auf dem Weg zu ihrem unmittelbar benachbarten Schulgebäude am Tor des Kaiserin-Auguste-Lyzeums Halt machten, um die Mädchen zu begutachten, die einzeln oder in Gruppen der Schule zustrebten.
Die Jungs lümmelten vermutlich schon am Tor herum, seit die Realschule für Knaben in den ersten Nachkriegsjahren in unmittelbarer Nähe des traditionsreichen Lyzeums samt Mädcheninternat aufgebaut worden war. Wirklich wahrgenommen haben wir ihre Anwesenheit erst in der Mittelstufe, als unsere Gegenstände mit einem Mal zu Gegenständen ihres Interesses wurden. Als sei Hässlichkeit eine ansteckende Krankheit, wurden Gudrun und Karin, immer schon unbeliebt, nun vollends geächtet, und nur wenn es ums Abschreiben von Hausaufgaben ging, gelegentlich noch geschätzt.
Die meisten von uns rotteten sich auf dem Schulweg zusammen, um sich vor den Blicken und Pöbeleien der Jungs zu schützen. Nur Geli nutzte das morgendliche Durchqueren des Schultors, um sich genussvoll einen Auftritt zu verschaffen. Geli hieß mit vollem Namen Evangelina Serafina Giuseppina Macula und war trotz ihrer italienischen Herkunft blond gelockt und ohne Makel. Ihr Näschen stülpte sich süß über vollen Lippen gen Himmel, ihr Lächeln kerbte zwei niedliche Grübchen in ihre rosigen Wangen, die Brüste knospten rundlich über einer Wespentaille, bis zu der ihre offenen Haare wallten, wenn sie mit stolz zurückgeworfenem Kopf und wiegenden Schritten auf langen schlanken Beinen an ihren Verehrern vorbei schritt, die gar nicht anders konnten, als mit weit aufgerissenen Augen und stockendem Atem hinter ihr her zu starren und ihrer Erregung in gellenden Pfiffen Luft zu verschaffen.
Wiewohl Geli sich ihrer Wirkung sehr bewusst war, ließ sie uns jedoch nie spüren, dass wir ihr nicht das Wasser reichen konnten. Im Gegenteil, sie tat, als sei ihr Aussehen nicht mehr als ein billiger Trumpf, den sie gerne zur Verfügung stellte, wenn es darum ging, den Nachstellungen der Realschüler etwas entgegenzusetzen.
Nach der morgendlichen Musterung am Tor war die erste Gelegenheit dazu der späte Nachmittag nach dem Silentium. Die Pausen- und Unterrichtsschlusszeiten des Real und des KAL waren mit Vorbedacht versetzt terminiert, so dass es im Laufe des Vormittags und auf dem Nachhauseweg wenig Berührungspunkte gab. Das Internatsgelände zu betreten war den Jungs natürlich nicht gestattet, lediglich Familienangehörigen, Mitarbeitern und uns Externen. Genauso waren die Freigänge der Mädchen begrenzt und wurden streng überwacht, um jeglicher „Herumtreiberei“, wie die Schwestern es nannten, einen Riegel vorzuschieben. Ohne dass wir damals über das entsprechende Vokabular verfügten, gab es wohl keinen Zweifel daran, dass Herumtreiben die unmittelbare Vorstufe zur Prostitution sein musste. Ich als Externe galt ohnehin als potentielle Sünderin, die den Virus des freien ungezügelten Lebens in den geschützten Klosterfrieden tragen mochte. Meine häufigen Besuche duldeten die Nonnen wohl nur aus einer Haltung der Barmherzigkeit heraus, einer Gnade, die man mir zuteil werden ließ, um mich auf den rechten Weg zu führen. Dabei war ich damals im Vergleich zu manchen der Internen ein Ausbund an Tugendhaftigkeit.
Das Außengelände des Internats war von einem Wassergraben und einer hohen Mauer umschlossen, die zudem mit Glasscherben gespickt war, um Eindringlingen das Leben schwer zu machen. Aber der Obstgarten, der sich hinter dem Wirtschaftstrakt bis zu dem kleinen Wäldchen erstreckte, erwies sich als Schwachstelle. Ein Apfelbaum, der dicht an der Grundstücksgrenze stand, zum Gebäude hin durch einen kleinen Geräteschuppen halb verdeckt, ragte mit seinen starken Ästen bis fast an die Mauer heran. Mit Hilfe einer Holzleiter war es ein Leichtes die Mauer von außen zu erklimmen, und wenn man die Leiter dann von oben in das Geäst des Baumes schob, konnte man bequem hinüberklettern und so auf das verbotene Terrain gelangen.
Hier also, am Fuß des Apfelbaums, nahm das Unheil seinen Lauf.
Es war ein Septembertag, einige Wochen nach den Sommerferien. Wir waren in die Untersekunda aufgestiegen, die letzte Station vor dem Scheideweg, wo die Spreu vom Weizen getrennt würde: Matura oder Hauswirtschaftsschule, gegebenenfalls eine Ausbildung.
In der Pause zog Geli Gabi, Kerstin und mich beiseite und zeigte uns ein Zettelchen, das einer der Jungen ihr morgens am Tor zugesteckt hatte. „Du hast die geilsten Gegenstände von allen!“, stand mit krakeligen Buchstaben darauf geschrieben. „Komm heute um fünf Uhr zum Apfelbaum an der Mauer zum Wäldchen. Wenn du uns deine nackten Äpfelchen zeigst, kriegst du fünf Mark von jedem von uns! Wetten, dass du dich nicht traust?“ Darunter waren vier Namen verzeichnet: Torben, Peter, Adam und Walter.
Das Klingeln schrillte in unsere aufgeregten Fragen.
Am Ende der sechsten Stunde schließlich fanden wir im Geräteraum wieder zusammen, während die übrige Klasse unter Käslings Aufsicht damit beschäftigt war, die Matten auf den Wagen zu verfrachten.
Kerstin und ich waren auf einen der Kästen geklettert und ließen uns von Geli eine Reckstange anreichen. „Zwei Mark von jeder von euch, wenn ihr dabei sein wollt!“, raunte Geli uns zu.
„Was? Du willst dich darauf einlassen?“, fragte Gabi entsetzt, während sie mit puterrotem Kopf eine weitere Eisenstange in die Halterung stemmte.
Geli kicherte: „Wieso sollte ich mir das entgehen lassen?“
„Und wieso sollen wir dafür zahlen, dass wir deine nackten Dinger sehen dürfen?“, warf Kerstin kühl ein und hieb mit der Faust auf den widerspenstigen Arretierungshaken, „das kann ich unter der Dusche billiger haben!“
„Du zahlst nicht für meine Dinger, sondern für die dummen Gesichter“, stellte Geli richtig. „Passt auf: ich mache meinen Striptease mit dem Rücken zu dem Geräteschuppen. Ihr habt durch das Fenster einen wunderbaren Ausblick und sie können euch nicht sehen, weil es drinnen dunkel - “
„Was munkeln die Damen im Dunklen?“ Hinter einem Kasten tauchte auf einmal Käslings Igelschnitt auf. Hatte er mitgehört, was wir verhandelt hatten? Wir stoben auseinander und fanden erst am Tor wieder zusammen, um unser Vorhaben zu besiegeln. Geli kam als letzte dazu, weil Käsling sie nach Unterrichtsschluss noch festgehalten hatte.
Angeblich seien die Umkleideräume nicht in ordnungsgemäßem Zustand gewesen. „Er hat doch etwas mitgekriegt!“, mutmaßte Kerstin, aber Geli zwinkerte nur: „Keine Sorge, selbst wenn!“
„Wenn was?“, wollte ich wissen.
„Der würde das nie an die große Glocke hängen!“, versicherte Geli. Ich hatte keine Ahnung, woher sie ihre Gewissheit nahm. Aber Käsling war sicherlich keine Plaudertasche, das stand fest.
An dem Nachmittag hat Geli mir meine Unschuld genommen. Zumindest verlor ich den Glauben an eine klare Grenzziehung zwischen Anstand und Unanständig, weil es so etwas wie Autonomie gab, das Recht über den eigenen Körper zu verfügen, ganz egal, was andere darüber dachten.
Wir hatten uns schon eine halbe Stunde vor der verabredeten Zeit in dem Schuppen eingefunden und harrten flüsternd und kichernd der Realschüler, die Punkt fünf Uhr einer nach dem anderen auf der Mauer auftauchten. Sie balancierten vorsichtig auf den Scherben herum und kauerten sich nieder, bis der letzte oben war, um dann einer nach dem anderen über die Leiter in den Apfelbaum und herunter zu klettern.
„Viel Spaß!“, zischte Gabi, und Geli schlüpfte durch die Tür des Schuppens. Als die Jungs sie sahen, wichen sie in einen Halbkreis zurück. Der Ausdruck in den Gesichtern kam mir fast ängstlich, mindestens aber ehrfurchtsvoll vor, als Geli wie ein Model auf dem Laufsteg mit wiegenden Hüften auf sie zuschritt. Evangelina Serafina Giuseppina Macula hätte in ihren späteren Jahren gewiss einer Marilyn Monroe den Rang streitig machen können, dafür möchte ich heute noch meine Hand ins Feuer legen. Sie trug eine Schlaghose, die Ihrem Schreiten etwas Fließendes verlieh, während das enge Top ihre wiegende Taille hervorhob. An dem Apfelbaum angekommen gebot sie den Jungs mit einer Handbewegung auf Abstand zu bleiben. Dann streckte sie beide Arme nach oben und griff nach einem der Äste, der voller roter Äpfel hing. Sie suchte sorgfältig ein besonders schönes Exemplar aus, riss es ab und polierte den Apfel an der Vorderseite ihres T-Shirts. Von hinten konnten wir es zunächst nicht so gut sehen, bis Geli sich nach allen Seiten drehte. Sie behielt die Jungengruppe mit einem Blick über die Schulter die ganze Zeit im Auge, während sie den Apfel in lasziv kreisenden Bewegungen über ihren Bauch und rund um ihre Brüste führte. Dann warf sie die nackten Arme in die Höhe, den Kopf in den Nacken und winkte mit ihrem Apfel, als stünde hinter den vom Donner gerührten Halbwüchsigen ein imaginäres Publikum, das ihr zujubelte. Als ich ihrem Blick in Richtung Mauer folgte, hatte ich für den Bruchteil einer Sekunde die Vision, als bewegte sich etwas in einem der Bäume am Waldrand, aber der Eindruck verflüchtigte sich sofort wieder. Geli winkte nun einen Jungen nach dem anderen zu sich heran, kassierte den versprochenen Heiermann und ließ den Apfel, den sie vorher um ihre Brüste geführt hatte, vor den Gesichtern der Jungs kreisen, lockte sie, davon abzubeißen, indem sie ihn erst dicht an ihre Lippen führte, dann neckisch hoch hielt, zur Seite oder auch nach unten, so dass der jeweilige Kandidat sich strecken oder vor ihr auf die Knie gehen musste, um abbeißen zu können. Nachdem jeder diese Prozedur einmal durchlaufen hatte, ließ sie alle wieder im Halbkreis Aufstellung nehmen, zog mit einem Ruck ihr T-Shirt hoch und vollführte mit kleinen Nachstellschritten und kessem Hüftschwung eine ganze Drehung, so dass nicht nur die Jungs, sondern auch Gabi, Kerstin und ich ihre nackten Prachtgegenstände von allen Seiten bewundern konnten. Die Jungs hatten Mühe die Münder zuzukriegen. Aber auch wir Mädels waren gebannt. Allem Schrecklichen zum Trotz: Gelis stolze Haltung, ihr Selbstbewusstsein und ihre Lust, die sie an dem Tag zur Schau trug, haben sich mir unauslöschlich eingeprägt.
Schließlich zog sie das T-Shirt wieder herunter, drehte sich zu uns um, steckte Daumen und Zeigefinger in den Mund und pfiff gellend, was für uns das Signal war, aus dem Schuppen zu stürmen und die Jungs mit Johlen und Kreischen wieder auf den Baum und aus dem Garten zu jagen. Innerhalb von ein paar Minuten war der Spuk vorbei. Wir lachten, bis uns die Tränen kamen.
Warum ich all diese Details so gut im Gedächtnis behalten habe, liegt nicht nur daran, dass an dem Nachmittag meine Kindheit zu Ende ging. Ich habe mir den Hergang dieses Nachmittags später in aller Ausführlichkeit immer wieder vor Augen geführt. Wir alle mussten ihn wieder und wieder erzählen und zu Protokoll geben. Unseren Eltern, der Oberin, dem Schulleiter, dem Kommissar und schließlich vor Gericht unter Ausschluss der Öffentlichkeit.
 Nur Geli konnte man nicht dazu befragen, denn sie wurde eine Woche nach dem Ereignis, an dem ersten Tag der Herbstferien, gegen zwei, nachdem sie nicht zum Essen erschienen war, vom Gärtner in dem Schuppen gefunden. Sie lag dort mit hochgezogenem T-Shirt und einen Apfel im Mund, erstickt, stranguliert mit der Bastschnur, die normalerweise zum Hochbinden der Bohnen verwendet wurde. Hose und Sandalen hatte sie an. Andere Gewaltspuren wurden nicht festgestellt.
Die Jungs wurden natürlich als erste verhört, aber nur einer, Adam, hatte für den fraglichen Tatzeitraum kein Alibi und galt daher als Hauptverdächtiger. Vor Gericht wurde er ein halbes Jahr später mangels Beweisen freigesprochen.
Am Tatort fanden sich keine Fingerabdrücke, die einen Hinweis hätten geben können, dass jemand von außen den Mord begangen haben könnte. Aber was heißt das schon? Es lagen ja genügend Gartenhandschuhe herum. Ich weiß nicht, was aus Adam geworden ist. Seine Familie muss direkt danach weggezogen sein.
Und noch etwas war nach diesen Ferien anders: Käsling wurde am Montag nach den Ferien in seiner Junggesellenwohnung mit dem Kopf im Gasherd aufgefunden, nachdem er in der Schule nicht erschienen war. Die Gasflasche war leer und der Todeszeitpunkt konnte nie genau geklärt werden, weil die Schwüle der zurückliegenden Woche den Zersetzungsprozess der Leiche beschleunigt haben musste. Da die anderen Mieter an dem Montagmorgen davor in Urlaub gefahren waren, war dies der letzte Tag, an dem Käsling nachweislich gelebt haben musste. Natürlich gab es Gerede, gerade im Zusammenhang mit dem Mord an Geli. Aber Käslings Privatleben gab nichts her, was einen Verdacht hätte bestätigen können. Er war immer korrekt gewesen, ein äußerst zurückhaltender Mensch. Vermisst hat ihn keine von uns. Aber ich habe nie wieder einen Mann seines Alters gesehen, der eine Kippe noch in dieser Perfektion vorführen konnte.