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Anja Vogel: Ginko 

Buchstaben reihen sich aneinander, schnell setzt ein neuer an den vorhergehenden an. Ein Wort entsteht. Und ein weiteres. Vertippt. Kurz zurück. Und weiter. Noch mehr Worte. Sätze bauen sich zusammen. Eine Grußformel zum Schluss. Ich halte inne, schaue auf den Monitor, auf dem sich Sonnenlicht spiegelt, lasse dann meinen Blick zum Fenster hinausgleiten. Wie reingewaschen ist der Himmel über den Hochhäusern, die Farben der Gebäude sind tief und die Konturen scharf und alles erscheint ein wenig greifbarer als vor einer Woche noch. Ich kenne das. Ende Januar gab es schon einmal diese Vorahnung, diese milden Temperaturen und dieses Lichtspiel, das unvermittelt die Laune aufhellt und eine plötzliche Tatenkraft wachrüttelt. Dasselbe Spiel noch einmal letzten Monat, doch wie zuvor im Januar konnte es sich erneut nicht halten, war noch zu schwach, sich gegen den natürlichen Lauf durchzusetzen und zog sich demütig zurück, um nun endlich, nach zwei Anläufen und zwei Verschnaufpausen, endgültig durchzubrechen. Geglückt. Seit einer Woche ist Frühling.
Ein Lächeln zieht über mein Gesicht und mit geradezu einnehmender Selbstverständlichkeit überkommt mich das Bedürfnis hinauszugehen. Es ist keine Frage des Wollens, bei diesem Anblick da draußen muss ich gut gelaunt die Stadt hinter mir lassen, muss hinaus in die Natur, Wiesen und Wälder durchstreifen und mich an zarten grünen Trieben erfreuen. Es scheint wie ein vorgeschriebener Ritus, in Filmen, Gedichten und Büchern verewigt, dem ich mich nicht entziehen kann.
Aber ich bleibe sitzen, lese erneut die E-Mail, die ich einer Frau schreibe, die ich nie zuvor gesehen habe, die ich nur unter dem Nickname ginko kenne und von der ich unter anderem weiß, dass sie etwas älter ist als ich, ihren letzten Urlaub in Schweden verbracht hat, Schnellrestaurants nicht mag - und meine Vorliebe für Frauen teilt. Seit etwa sechs Wochen schreiben wir einander, sie fragt nach Fortschritten meiner Seminararbeit, und ich wünsche ihr einen schönen Feierabend, wie mein Wochenende war, will sie wissen, und ich antworte ihr, dass mich das Wetter hinausgelockt hat. Es ist ein Schreiben, das ich über die Wochen liebgewonnen habe, ein schon fast fester Bestandteil meiner Freizeit, der auf mehr hoffen lässt. Vielleicht können wir Freundinnen werden. Vielleicht frisch Verliebte.
Das ist möglich.
Das gilt es herauszufinden!
Und plötzlich, als ich die Sonne auf meinem Gesicht spüre, überfällt mich die Lust, ja der Drang, es sofort zu erfahren. Erneut lasse ich meine Hände über die Tastatur gleiten, verschreibe mich in meiner Hektik unzählige Male, korrigiere die Buchstabendreher und lese dann den vorsichtigen Vorschlag, sich einfach mal zu treffen. Klingt gut. Absenden.

Langsam laufe ich neben ginko her, die in Wirklichkeit Paula heißt und die ich mir ganz anders vorgestellt habe. Mit ihren blauen Jeans, einem weiten Pullover und einem leisen Lächeln wirkt sie viel unscheinbarer als in ihren Sätzen, die ganz unbeschwert erzählt hatten, die stets vollgepackt waren mit Adjektiven und Adverbien und Smileys und Lautauszeichnungen. Die Leichtigkeit, die in unseren E-Mails vorhanden war, will sich im Gespräch nicht einstellen, und immer wieder entstehen Pausen, in denen mein Blick über den Teich wandert und ich mir krampfhaft versuche Fragen einfallen zu lassen. Doch nichts scheint angemessen an diesem Sonntagnachmittag, an dem überall Vögel zwitschern, Enten zu zweit über das Wasser ziehen und in allen Winkeln und Ecken ein Strahl Sonne zu stecken scheint. Auch Paula sieht das wohl so. Also schweigen wir.
Zehn Minuten.
Fünfzehn.
Länger.
Und es wäre nicht einmal schlimm - ich bin kein allzu gesprächiger Mensch, auch sie stört es offensichtlich nicht - , wäre da nicht das Gefühl, dass es unnatürlich ist. Wir müssen reden - diesen Gedanken werde ich nicht los zwischen all den Pärchen, die die Wege bevölkern, als hätten sie nur darauf gewartet, endlich hervorkommen zu können, um eng umschlungen vor uns auf und ab zu gehen wie stolze Schwäne. Und endlich durchbreche ich das Schweigen mit einer Floskel über das Wetter, dann unterhalten wir uns über Urlaubsziele, über Hobbys, über Belanglosigkeiten, während wir den Teich zwei mal umrunden, ein Eis essen, anschließend durch eine Gartenanlage ziehen, irgendwann wieder zurücklaufen. Neben einem Pavillon, genau an der gleichen Stelle, an der wir uns vor ein paar Stunden getroffen haben, verabschieden wir uns.
„Bis bald“, sage ich und kann eine gewisse Erleichterung nicht leugnen.
„Bis bald“, lächelt sie zurück und weiß wahrscheinlich so wenig wie ich, wie ernst dieses Versprechen gemeint ist.
Sie verschwindet in einem kleinen Seitenweg.
Ich laufe zurück zum Teich, lasse meinen Blick über das Wasser gleiten, das sich in der Sonne kräuselt - und wünsche mir plötzlich, ich hätte Paula zum Abschied geküsst und ihr nicht wie einem Geschäftspartner die Hand hingestreckt. Es hätte zu diesem Tag gepasst, zu diesem Vogelgezwitscher und den Federwolken, zu diesen Weiden, die sich elegant auf den Teich neigen, als wöllten sie die Wassertemperatur befühlen und sich ein wenig erfrischen.

Leise Musik dringt aus den Lautsprecherboxen und erfüllt den Hintergrund, das Licht einer Straßenlaterne fällt ins Zimmer, meine Hände liegen regungslos auf der Tastatur.
Ich überlege, ob ich ginko schreibe.
Oder warte ich?
Vielleicht meldet sie sich heute.
Oder morgen.
Oder gar nicht.
Vielleicht treffen wir uns erneut. Auf ein Eis. Gehen zusammen ins Kino. Später kochen wir bei ihr oder mir und trinken Wein zu Pasta oder Pizza.
Ich denke zurück an unseren Spaziergang im Park und kann es schwer einschätzen. Es ist möglich, vielleicht sogar wahrscheinlich. Ein schüchternes Kennenlernen kann es werden, langsam und vorsichtig, mit zu großer Vorsicht vielleicht und zu sehr in die Länge gezogen, dass es anstrengend wird, mit unbestimmtem Ausgang, oder ohne Ausgang wie mein letzter Versuch. Nach Tagen, nach Wochen zerstreut sich vielleicht alles, und dann ist Sommer und ich werde mit einer anderen ginko den Teich umrunden und mich zum Baden verabreden.
Ich zögere, folge den Klängen der Musik und kann mich nicht entschließen ihr zu antworten. Mein Blick wandert durch das Zimmer, bleibt an einem Bild hängen, das mich vor drei, vier Jahren beim Urlaub an der See zeigt - noch ganz jung und unentschlossen.
Ich blicke zurück auf den Monitor - und öffne schließlich die mir bekannte Homepage mit Kontaktanzeigen, die sich in der letzten Woche offensichtlich verdreifacht, ja verzehnfacht haben. Wahrer Ausverkauf scheint hier stattzufinden. Zwischen all den romantischen und süßlich poetischen Texten, die der Frühling mit Überschwang gebärt, sticht mir einer ins Auge, der direkt und ohne viele Adjektive sein Anliegen nennt.
Kennwort: nur spaß.
Mehrmals gehe ich die Sätze durch, die vor Tippfehlern wimmeln, störe mich an der Kleinschreibung, dann schließe ich die Seite und das Postfach und schalte den Rechner aus.
Tags darauf habe ich eine Antwort von ginko. Sie schreibt, das Treffen habe ihr gefallen (Smiley), obwohl sie schrecklich nervös war (Sternchen puh schweißabwisch Sternchen), schreibt, sie würde sich auf ein Wiedersehen sehr freuen, vielleicht ja am nächsten Sonntag (drei Punkte und drei Fragezeichen und im Anschluss ein Smiley). Das ist lange hin, überlege ich, lese erneut ein paar Anzeigen, bleibe erneut an 'Kennwort: nur spaß' hängen, zögere einen Moment lang, dann antworte ich ginko, dass ich mich auf ein Wiedersehen ebenso freue, lese die Anzeige, die ich mittlerweile auswendig kenne, noch einmal und klicke auf antworten.

„Ich suche keine Beziehung“, erzählt mir die Frau gegenüber, die sich Lea nennt, frei weg. „Nichts Festes, einfach bissel was Schönes im Frühling“, sie lacht und ich fühle mich angesteckt von diesem Lachen. Ihre Offenheit und ihre Unkompliziertheit gefallen mir. Gestern erst habe ich die Anzeige gelesen, heute schon sitzen wir hier und unterhalten uns unbeschwert, als würden wir uns gut kennen. Ich rede ohne groß zu überlegen. Später sehen wir einen Kinofilm, wobei ihre Hand in meinen Schoss wandert und dort wie selbstverständlich liegen bliebt. Ich schaue immer wieder zur Seite, sehe ihr Gesicht, das starr auf die Leinwand gerichtet ist und nicht zu dieser Hand zu gehören scheint, deren Druck sich stetig erhöht und mir Hitze in den Kopf schießen lässt. Irgendwann liegt mein Arm um ihre Schulter. Ebenso selbstverständlich. Vielleicht ist es das Zugeständnis ihrer Anzeige, vielleicht ist alles belanglos - ich weiß es nicht, fühle mich ungewohnt leicht und genieße diese Leichtigkeit.
Eng umschlungen verlassen wir das Kino, halten in einem Schnellrestaurant und essen im grellen Neonlicht Burger - und plötzlich muss ich an ginko denken, die Schnellrestaurants hasst. Vor allem dieses Licht, das keine Atmosphäre erzeugt, würde sie stören - wie es mich ein wenig stört. Doch was denke ich jetzt an ginko? Ich verscheuche sie aus meinen Gedanken und blinzle Lea zu, die mir lachend eine Geschichte von ihrem letzten Urlaub erzählt, die ich nicht wirklich durchschaue, dennoch eifrig kommentiere, woraufhin sie noch lauter zu lachen beginnt.
Später stehe ich mit ihr an einer Kreuzung, zwischen Wohnhäusern,  an denen unsere Stimmen und unserer Gekicher zurückhallen. Wir zögern den Moment des Verabschiedens hinaus, finden immer wieder neue Themen oder wiederholen bereits Gesagtes, können uns nicht lösen, nicht vom Ort, nicht vom Augenblick. Schließlich küssen wir uns, einfach so, ohne dass ich nachher sagen kann, wer den ersten Schritt getan hat. Ich lache sie an, und wir küssen uns erneut, lange und ausdauernd diesmal, lassen erst nach unzähligen Minuten wieder voneinander ab.
„Bis Samstag.“, sagt sie.
„Bei mir?“, frage ich.
Sie nickt mit einem Grinsen, bevor sie sich abrupt herumdreht und dem Bus hinterher rennt.
Ich sehe ihr noch kurz nach, schlendere dann nach Hause, laufe einen Umweg durch verlassene Straßen, beobachte Fassaden mit ihrem Muster aus dunklen und leuchtenden Fenstern und kann für den Moment tatsächlich glauben, ein wenig verliebt zu sein.
Daheim empfängt mich eine drückende Stille.
Unschlüssig stehe ich im Flur, spüre plötzlich einen fahlen Geschmack im Mund.
Ich gehe in die Küche, verspeise ein paar Toasts, während der Kühlschrank ein tiefes Brummen von sich gibt. Dann schalte ich, viel zu munter zum schlafen, den Rechner ein, sehe aus Gewohnheit, aus Langeweile nach Post. Ginko hat geschrieben. Ein Lächeln zieht über mein Gesicht, als ich den Text lese. Sie freut sich auf den Sonntag, hat viel zu arbeiten (Sternchen seufz Sternchen), ist deshalb etwas kurz angebunden, freut sich aber auf ein Wiedersehen (Smiley). Ich mich auch, antworte ich ihr. Smiley. Absenden.

Samstagabend. Fröhlich steht Lea vor meiner Tür. Herein. Herein. Alles ist vorbereitet. Mein Bett ist mit frischer Wäsche überzogen und zwei Flaschen Wein sind bereitgestellt. Wir kommen uns schrittweise näher, tauschen flüchtige Berührungen, die keinen Wert darauf legen, zufällig zu erscheinen - das müssen sie nicht. Unsere Hände spielen miteinander, aneinander. Irgendwann fällt ihr T-Shirt zu Boden. Geschickte Finger öffnen den Verschluss meines BHs. Ich öffne ihren. Klein sind ihre Brüste und im Halbdunkel zum anfassen schön. Meine Zunge kommt ihnen näher, sie lacht laut auf und ein wenig überrascht halte ich inne. Weiter, lacht sie. Weiter. Weiter. Ihre Hose streife ich ab, meine fällt daneben, und wir liegen nackt aufeinander, als hätten wir nichts anderes erwartet, als müsste es genau so und nicht anders sein. Weiter bis zum Schluss, weil es der vorgeschriebene Verlauf ist - der Gedanke drängt sich mir plötzlich auf und stört. Ich zucke leicht zurück, als sie laut aufstöhnt. Kurz darauf führen auch ihre Bemühungen an mir zum Erfolg. Dann liegen wir schweigend nebeneinander. Ihre Hand fährt über meine verschwitzte Haut, über Schultern, Arme, Bauch. Ob wir uns wiedersehen wollen, fragt sie in die Stille hinein. Ich antworte nicht, kann nicht. Denn da ist dieses Gefühl, als müsste ich erst Jemanden um Erlaubnis bitten. Und dieser Jemand ist niemand anderes als ginko - die schweigsame ginko, die kaum Zeit hat, die viel zu viel arbeitet und nie einen Hamburger im grellen Neonlicht verspeisen würde.
Ich erhebe mich, verlasse das Zimmer, warte in der Küche, bis Lea ihre Sachen zusammengesucht und sich wieder angezogen hat.
Wir verabschieden uns mit einer flüchtigen Umarmung.
Die Haustüre fällt zu.
Und mir ist schlecht.
Nachts schlafe ich unruhig, träume wirr und schwitze und fühle mich am Sonntagmorgen, der viel zu sonnig vor dem Fenster steht, wie erschlagen. Kurzzeitig überlege ich, zu meinem verabredeten Treffen nicht zu erscheinen, dann aber stelle ich mir vor, wie ginko vergebens wartet, wie sie immer wieder auf die Uhr blickt, immer unruhiger wird und schließlich geknickt nach Hause schlurft und mache mich doch auf den Weg. Alles andere wäre unhöflich.

„Wie war dein Samstag?“, fragt Paula.
„Ganz ok.“, sage ich. „Nichts groß passiert.“
Ich will den Arm um sie legen, als wir durch den Park spazieren, vorbei an blühenden Narzisseninseln, die sich verspielt über den Rasen ziehen, traue mich jedoch nicht und wünsche mir plötzlich, Lea wäre jetzt hier.