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Piritta Kleiner: Frühlingserwachen 

Martha malte gestern wieder den ganzen Tag Flügel. Ich sitze am Küchentisch und versuche mich auf mein Buch zu konzentrieren. Wir hätten reden sollen, denke ich.
Sie tunkte ihre Hände in die Farben und zog Linien über weiße Flächen. An ihrer Wange klebte ein wenig Farbe. Martha wir müssen reden, wollte ich sagen, wie jeden Abend, tat es aber nicht. Ein Vogel in rot klebte auf der Leinwand und eine Sonne in blasgelb.

Martha ist einfach so in mein Leben gekommen. Sie hat meine Wände mit Bildern plakatiert, Gardinen aufgehängt, Pflanzen gekauft und achtete darauf, dass immer etwas zu Essen im Kühlschrank war. Oder Wein im Haus, falls Gäste kommen.
Ich bekomme aber nie Gäste. Ich pflege schon seit langem keine Kontakte mehr zu anderen Menschen. Das Telefon habe ich abbestellt, da es keinen gab, der anrief oder von mir angerufen wurde.
Martha war mein Dauergast. Sie stand am ersten warmen Frühlingstag vor meiner Tür und wollte Postkarten verkaufen. Solche, die von Menschen ohne Arme mit den Füßen gemalt werden. Auf den Postkarten waren seltsame Motive. Verwischte Landschaften, schief lachende Kinder, Häuser mit Rauch aus dem Schornstein.
Ich wollte keine Postkarten. Ich brauchte auch keine. Ich schreibe nie persönliche Briefe und schon gar keine Postkarten. Ich bekomme auch keine. Ich lehne Postkarten sozusagen ab. Also lehnte ich auch sie mit einer eindeutigen Handbewegung ab. Sie stand nur da und sah mich an, ihr Blick war vorwurfsvoll oder enttäuscht, vielleicht auch beides. Martha trug ein grünes Kleid mit weißen Punkten und dunkelrote, offene Schuhe. Ihre Kleidung war eigentlich unangemessen für den ersten Frühlingstag. Viel zu luftig!
Sie drückte mir eine Postkarte in die Hand, aber ich ließ sie einfach fallen und schloss schnell die Tür.

Am selben Tag beschloss ich noch einen kleinen Spaziergang in einem nahegelegenen Park zu unternehmen.
Ich zog also meine graue Windjacke an, die mir für das sonnige Wetter angemessen erschien, und verließ meine Wohnung. Als ich zu den Stufen im Treppenhaus kam, sah ich sie da sitzen, mit ihrem grünen Kleid und den bunten Postkarten. Als sie mich bemerkte, erhob sie sich und sah mich erwartungsvoll an. Ich ignorierte sie einfach und ging an ihr vorbei hinaus ins Freie. Aber Martha folgte mir. Den ganzen Spaziergang lang wich sie mir nicht von der Seite, ab und zu lächelte sie mich an. Und wenn einer ihrer dunkelroten Schuhe im Matsch der vergangenen Regentage eintauchte, lachte sie kurz laut auf. Sie trat absichtlich in die Pfützen und Matschberge. Ich war verärgert, über diese unnötige Schuhverschmutzung, über ihre kleinkindhafte Art und über ihre viel zu luftige Kleidung. Und ihr Lachen, das klang irgendwie nach Freude oder Glück, wahrscheinlich nach beidem – wer kann diese Dinge schon auseinanderhalten? Nun ja, das ärgerte mich auch ein wenig.
Als ich wieder zurückkehrte, war sie noch immer da – Martha. Sie kam einfach mit in meine Wohnung und setzte sich an den Wohnzimmertisch, an dem nur ein Stuhl stand. Und da saß sie nun auf meinem einzigen Stuhl, der Dreck ihrer Schuhe klebte am Boden, ihr grünes Kleid hatte sie spielerisch bis zu den Knien hochgezogen. Ich dachte mir, wenn ich ihr vielleicht doch eine dieser bunten, von arm- und beinlosen Menschen gemalten Karten abkaufen könnte, dann würde sie vielleicht bald wieder gehen. Also fing ich an, in meiner Jackentasche nach Kleingeld zu suchen. Ich konnte keines finden und ging deshalb ins Schlafzimmer, ließ die Wohnzimmertür aber weit offen, um sie trotzdem im Blickfeld zu behalten. Ich mag es nicht, wenn fremde Menschen in meiner Wohnung sind. Man kann ihnen nicht trauen, denn man kennt sie ja nicht.
Ich fand Kleingeld und legte es ihr auf den Tisch. Sie sah mich fragend an. „Für die Karten,“ sagte ich. Ihr Blick wurde wieder enttäuscht oder vorwurfsvoll. Dann stand sie auf, stellte sich vor das Wohnzimmerfenster und versuchte hinauszublicken. Man konnte nichts sehen. Es war abgedunkelt. Martha drehte sich zu mir um und atmete geräuschvoll ein und aus. Ich wollte sie nur schnell los werden. Doch sie riss die braunen Vorhänge auf und blieb.

Die erste Zeit fühlte ich eine angestaute Wut in mir, wenn ich Martha erblickte. Was wollte das Postkartenmädchen von mir? Wenn ich versuchte mein Buch zu lesen, konnte ich mich nicht konzentrieren. Immerzu hatte ich Angst dieses Mädchen würde etwas stehlen oder meine Wohnung ruinieren. Meistens stand ich nach kürzester Zeit aus meinem Lesesessel auf, durchquerte den Raum und fand Martha auf dem Wohnzimmersofa liegen. Ihre braunen Haare hingen quer über das Gesicht. Sie atmete gleichmäßig und die Augen waren verschlossen. Ihre geschlossenen Lider zuckten leicht.
Anfangs schlief Martha fast den ganzen Tag. In dieser Zeit schlich ich nach meiner mittäglichen Lektüre nur noch auf Zehenspitzen durch die Wohnung, kochte meinen Kaffee im Schlafzimmer mit zugezogener Tür und quälte mich auch sonst ohne ersichtlichen Grund geräuschlos durch den Tag.

Eines Tages erwachte Martha. Wie ein Phoenix aus der Asche erhob sie sich und der junge Körper füllte sich mit Leben.
Martha kochte, buk, wusch Wäsche, putzte meine Fenster und abends legte sie meine alten Jazzplatten auf.

Ich versuchte nach wie vor meinen eigenen Kaffee zu kochen, verschmähte ihre gut riechenden Speisen und schüttelte den Kopf, wenn sie eine meiner Platten auflegte. Inzwischen drehte ich täglich einen Spaziergang durch den Park, jedes Mal in der Hoffnung, das Mädchen wäre weg, wenn ich wieder zuhause ankommen würde.
Meine gewöhnliche Tour hatte ich durch Extrarunden erweitert und danach ging ich an einen nahegelegenen Kiosk, um mir eine Bratwurst zu kaufen. Mit dieser Methode versuchte ich dem Essen zu widerstehen, das jeden Abend gut riechend auf dem Esstisch stand. Ich kaute auf der nach Sägespäne schmeckenden Bratwurst herum und beobachtete die Narzissen, die am Wegesrand neben dem Kiosk wuchsen. „Die blühen nicht mehr lang, nicht wahr?“ schrie der Kioskbesitzer in meine Richtung. Er war klein und untersetzt und hatte einen dicken, runden Kopf. Ich hasste ihn dafür, dass er so schlechte Würste zubereitete und nie in einem angemessenen Ton sprach. Entweder er brüllte oder er murmelte leise vor sich hin, so, dass man ihn kaum verstand. „Wieso?“ entgegnete ich. „Na, es soll doch jetzt immer wärmer werden in den nächsten Tagen. Und dann gehen die ein, soweit ich weiß,“ schrie er. Ich war mir nicht so sicher, ob die Narzissen dann sterben mussten. Sie wirkten auf mich kräftig und gesund mit ihrem satten gelb. Ich warf meinen Pappbecher weg und wollte mich gerade auf den Weg nachhause machen. Da lief die alte Dame mit ihrem Dackel vorbei. Wir kannten uns nicht, aber da sie öfters am Kiosk vorbeikam, wenn ich meine ekelerregende Wurst aß, hatte sie begonnen mich zu grüßen. „Guten Tag mein Herr,“ die jungen Augen in ihrem alten Gesicht sahen mich fröhlich an. Ich fasste mir an die Hutkrempe, nickte ihr kurz zu und ging dann zurück in meine Wohnung.

Dann erlag ich Marthas Kochkünsten. Eines nachts konnte ich nicht einschlafen, da mein Magen mir vor lauter Knurren keine Ruhe ließ. Ich hatte die Bratwurst an diesem Nachmittag nur zur Hälfte herunterbekommen, da sie noch widerwärtiger und sägespäniger schmeckte als sonst. Von Hunger geplagt, schlich ich in die dunkle Küche und öffnete den Kühlschrank. Unter einer Folie lagen selbstgemachte Frikadellen und daneben stand eine Schüssel Kartoffelsalat. Im Licht des Kühlschranks biss ich in eine Frikadelle, wie in die verbotene Frucht. Sie schmeckte so köstlich, dass ich den Kloß regelrecht auffraß. Danach folgten weitere und nebenher schöpfte ich mit einem Löffel abwechselnd direkt aus der Kartoffelsalatschüssel und schob ihn mir ungeniert in den Mund. Nach kürzester Zeit biss ich in das letzte Kloßstückchen. Wehmütig und entzückt zugleich legte ich mich zurück in mein Bett und schlief mit Frikadellengeschmack auf der Zunge rasch ein. Ab diesem Tag konnte ich, so sehr ich mich auch anfangs noch sträubte, auf keine Speise mehr verzichten, die Martha auf den Tisch stellte.

Sobald ich eine Zeitung in den Papierkorb warf, holte Martha sie wieder heraus. Sie fing dann an mit einem roten und einem blauen Kugelschreiber Bilder auf die ausgelesene Zeitung zu malen. Meistens hatten die Figuren, die sie zeichnete Flügel, egal ob es Hunde, Katzen, Menschen oder Fantasiefiguren waren. Nicht aus Menschenfreundlichkeit, sondern weil die Bilder mir ganz gut gefielen, kaufte ich eines Tages Leinwände und Ölfarben, und legte alles auf das Wohnzimmersofa, auf dem Martha nach wie vor schlief. Sie bereitete gerade in der Küche etwas ungemein gut riechendes vor. Ich setzte mich auf den Wohnzimmerstuhl und begann mein Buch zu lesen. Irgendwann kam Martha aus der Küche, ihre Haare zerzaust und feucht von den hohen Temperaturen in der Küche.
Da erblickte sie die Leinwände und Farben. Sie strahlte über das ganze Gesicht, lief erst zu den Dingen, betastete sie behutsam und kam dann in kleinen Hüpfern auf mich zugesprungen. Ich wollte mir gerade noch die Arme schützend vor den Körper halten, da hing sie schon an meinem Hals und umarmte mich mit kleinen Schluchzern. Unterdessen merkte ich, wie es mir auf einmal ganz heiß im Gesicht wurde. Ich befreite mich aus der Umklammerung, ging mit schnellen Schritten in mein Schlafzimmer und ließ die Tür hinter mir ins Schloss fallen.

Seit Martha Leinwände hatte, verliefen unsere Abende immer gleich. Ich saß auf meinem Wohnzimmerstuhl mit meinem Buch in der Hand, während Martha Abend für Abend auf dem Boden saß und ein neues Flügelbild malte, das am Ende schnörkelig mit M-A-R-T-H-A unterschrieben wurde. Meistens beobachtete ich sie und hielt mir das Buch nur dann schnell vors Gesicht, wenn sie in meine Richtung blickte.
Als sie das erste Mal ein Bild signierte, erschrak ich fast ein wenig. Ich hatte Martha in Gedanken immer Doro genannt. Nach meiner verstorbenen Frau Dorothea. Nur sollte es jugendlicher und zeitgemäßer klingen – deshalb Doro. Aber nun hieß Doro Martha, zumindest hieß die Künstlerin in ihr Martha. Denn eine Künstlerin war sie wirklich. Ihre Bilder zogen mich noch mehr in ihren Bann als das Essen. Und da Martha ihr neuestes Bild immer am Ende des Abends zu den anderen platzierte, die sie als fertiggestellt erachtete, stapelten sich bald unzählige Leinwände in meinem Wohnzimmer.
Deshalb fing ich an, sie an die Wände zu hängen, aus Platzgründen sozusagen. Ich kann es auch nicht leiden wenn Dinge unnötig auf dem Boden herumstehen. Alles hat seinen Platz und seine Funktion. Ein Stuhl gehört auf den Boden und ist zum Sitzen da. Ein Bild gehört an die Wand und ist zum Ansehen da. Ich hängte also den Leuchtturm auf Sylt ab, das Hirschgeweih, die grässlichen Clownsbilder, die ich nur meiner verstorbenen Frau zuliebe hatte hängen lassen. Ebenfalls das Bild von mir als Leuchtfeuerwärter, der Beruf in dem ich gearbeitet hatte, bis es diesen Beruf nicht mehr gab. Stattdessen hingen jetzt gelbe Katzen mit Flügeln, grüne Hunde mit Flügeln, sogar Krokodile, Bananen, Kleiderschränke und Turnschuhe mit Flügeln an meinen Wänden. Auch wenn ich es Martha nicht mehr sagen kann: etwas Schöneres hätte sie mir nicht hinterlassen können.

Denn wir waren, wie soll ich sagen, ein eingespieltes Team mittlerweile. Morgens kochte ich Kaffee und deckte den Tisch für das Frühstück, während sie Brötchen holte und die Zeitung mitbrachte. Mittags legte ich mich meistens hin, und in der Zeit verließ Martha das Haus, um die Zutaten für das Abendessen zu besorgen. Nach dem Aufstehen machte ich mich auf den Weg in den Park. Meistens veränderte Martha währenddessen irgendetwas an der Wohnung. Sie platzierte Möbel neu, besorgte Stühle, hängte andere Vorhänge auf oder reparierte einen Blumentopf oder eine gesprungene Vase. Ich dagegen rätselte auf meinen Spaziergängen meistens darüber, was es wohl zum Abendessen geben könnte. Immer lag ich falsch, Martha kochte oftmals Gerichte, deren Namen ich nicht einmal kannte. Und während ich noch den letzten Bissen des Abendessens genoss, breitete Martha schon ihre Leinwand auf dem Boden aus. Das war für mich das Zeichen eine Jazzplatte aufzulegen, zwei Gläser Whisky einzugießen und es mir dann in meinem Lesesessel bequem zu machen. Wie soll ich es beschreiben? Martha war mein erster Gast seit Jahren und blieb so lange, dass ich ganz vergaß, was die Bedeutung des Wortes Gast eigentlich in sich birgt.

Eigentlich hätte ich es gestern doch merken können. Das erste Mal ein Vogel. Ein Vogel hat Flügel. Heute morgen habe ich es entdeckt. Die Decke auf dem Wohnzimmersofa war zerwühlt, und die Leinwände samt den restlichen Farben waren weg. Das Fenster stand offen und die gelben Vorhänge, die Martha angebracht hatte, wehten im Wind.

Mittlerweile ist es Sommer geworden und da ich mich sowieso nicht auf mein Buch konzentrieren kann, beschließe ich einen Spaziergang zu machen. Im Park merke ich, das mir die Hitze gar nicht gut tut. Die Frühlingstage waren viel angenehmer zum Spazieren und obwohl ich mittlerweile regelmäßig spazieren gehe, spielt mir mein Blutdruck heute Streiche. Also kürze ich meine Runde ab und gehe bereits jetzt, es ist noch nicht mal zwölf Uhr mittags, zum Kiosk. Die Narzissen sind längst verwelkt, stelle ich zu meinem Bedauern fest. Der Kioskbesitzer begrüßt mich und stellt mir fraglos eine seiner Sägespänwürstchen hin. „Na, wo waren sie denn die letzten Wochen? Ich habe sie täglich im Park gesehen, aber kurz vor meiner Würstchenbude sind sie immer abgebogen, wie?“ brüllt er. „Hatte Besuch,“ brülle ich zurück, obwohl wir uns direkt gegenüber stehen. „Na denn,“ murmelt er und dreht die Würstchen mit der Zange. Als ich gerade den Pappbecher in den Mülleimer werfe, kommt die alte Dame mit ihrem Dackel auf den Kiosk zugesteuert. „Guten Tag, mein Herr,“ grüßt sie und an ihren erschöpften Bewegungen und der matten Stimme bemerke ich, das die Hitze auch ihr zu schaffen macht. „sehr heiß heute,“ sagt sie zu uns. Der Kioskbesitzer bejaht und ich sage: „Ein kaltes Glas Zitronenlimonade bewirkt Wunder gegen diese Hitze. Haben sie das schon einmal probiert?“
Sie sieht mich überrascht an, tupft sich mit einem Taschentuch vorsichtig die Schweißperlen oberhalb ihrer Lippe ab und setzt dann zu einer Antwort an.