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Antje Olowaili: Frühblüherin 

Die Ölkreide schleift mit leisem Singen übers Papier. Ich öffne die Augen und betrachte die Linie, dann das Original: Füße abgeschnitten. Eine Frau ohne Füße, wie ein Vogel ohne Flügel, gefangen in Gelb ...
Noch mal von vorn. Die neue Kurve beginne ich bei den Füßen. Knacks, die Kreide fliegt über den oberen Rand: Kopf abgeschnitten. Eine Frau ohne Kopf, gedankenlos, reduziert auf den Körper.
Ich blase über die Zeichnung. Immer sind die Frauen größer als mein Malgrund, egal welches Format ich wähle. Selbst wenn ich zweieinhalb Meter Leinwand auf den Keilrahmen spanne – die Frauen passen nicht darauf.
Das Original sitzt auf einem weinroten Ball, nackt. Mona macht das zum ersten Mal. Vor einer Woche hab ich sie getroffen. Ihre Nase war’s: Mit Schwung teilt sie Monas Gesicht in zwei ungleiche Hälften. Ich wusste nicht, was mich daran fesselte. Zum Malen muss ich nichts wissen. Denken verzerrt. Das Bild findet seinen Weg vom Auge über die Hand aufs Papier.
Es gibt Gedankenmaler, man nennt, was sie tun, intellektuelle Kunst. Anders die Triebmaler, die nennt man Malschweine. Dann gibt es Gefühlsmaler, Impressionisten, und solche, die Bellas Artes malen, schöne Kunst.
Bei mir ist es anders. Ich habe Mona getroffen und will nur zu Papier bringen, was ich sehe. Das hat Zauber. Das Bild sucht sich seine Form selbst. Die Aussage auch. Ich male einfach, was muss.
Unter meinem Blick schlägt Mona die Wimpern nieder. Röte steigt in ihr Ohr. Malen ist wie Berühren. Ob sie das spürt? Ich greife zum Grün und streiche auf dem Papier über ihren Arm. Schlüsselbeingrube, Schulterkurve, Ellenbeuge, Handgelenk. Fünf schlanke Finger, ich lasse keinen aus. Plötzlich zappelt die Hand wie Krabbenbeine zum Kratzen hinters Ohr. Das Ohr, eine Spiralmuschel, ich setze Blau an und zeichne die Muschel.
Machst du das oft, fragt der Mund, fremde Frauen porträtieren?
Ich lächle und male den fragenden Mund. Wenn du so willst ...
Ihr Blick streift die Bilder an der Wand und schwenkt herum zu mir. Mit Violett fange ich den Blick, setze ihn wie einen Vogel aufs Papier, wimpernschlagend, auf den rasanten Nasenbogen.
Wenn sie ihn nur lang genug halten könnte! Schon blinzelt sie, verwirrt von meinem Schauen. Durchschaut – so fühlen Modelle sich, wenn sie betrachtet werden. Ich kann nichts dafür. Sie fühlen das, weil sie anderen nicht in die Augen sehen. Sie bewerfen ihr Gegenüber mit Blicken wie mit Bällen. Fangen auf, spielen zurück. Eintritt gewähren sie ihren Mitspielern nicht.
Täten sie es, sie würden einander durchdringen wie Wasser ...
In meiner Lieblingsbar, wo ich gern auf Modellsuche gehe, stehe ich im Ruf eines stechenden Blicks. Mein Schauen wird als Flirten verstanden – während ich schon, versunken in einen Lippenschwung oder einen Brauenbogen, das nächste Bild male.
Mona biegt den Rücken durch. Wellenmuster im Strand sind ihre Rippenbögen, spannen die Haut unter den Brüsten. Ich setze Ocker an. Stillsitzen, eins der schwierigsten Dinge. Obgleich die Brüste sich im Rhythmus des Atems heben und senken, ziehen ihre Höfe sich unvermittelt zusammen, als ich sie auf dem Papier umrunde. Es muss mein Blick sein ...
Warm genug? frage ich und drehe, obwohl es Sommer ist, die Heizung auf.
Mona nickt. Ihre Augen halten sich ans Holzgestell der Staffelei, wie um nicht zu schwanken. Ich sehe mich um. Grafikschränke, überquellende Regale mit Malutensilien. Probehalber hänge ich weiße Laken zu ihrer Linken auf, um den Hintergrund auszublenden und Monas Körper Seitenlicht zu geben.
Mein Modell wirkt unruhig, als ich in ihrer Nähe hantiere. Nacktsein zwischen Farbtöpfen und einer Malerin, das ist nicht leicht. Um es ihr leichter zu machen, greife ich nach Pinseln, prüfe die Biegsamkeit der Borsten mit den Fingerkuppen, schraube Farbdeckel ab und stelle Dosen auf. Farblappen, Wasser, Bindemittel. Mona verfolgt den Vorgang. Farbeanrühren. Ein Ablenkungsmanöver, das ich immer dann einsetze, wenn die Spannung unerträglich wird.
Als das Weiß streichfähig ist, setze ich Licht auf die Hügel ihrer Brüste, schattiere die Rundungen dunkelocker und lege blaugraue Tiefen an. Plötzlich schweben mir die Formen auf dem Papier entgegen, das Bild tritt aus der Fläche heraus in den Raum. Ich lächle.
Monas Mundwinkel zucken. Ich ahne, was in ihr vorgeht. Früher selbst Modell gewesen ... die Schmerzen in den von Starre überforderten Gelenken: ein Stützarm, nah am Bersten, ein Standbein, das aus der Hüftschale kippen will.
Solange sie posiert, kann Mona das Geschehen hinter der Staffelei nicht verfolgen. Sie verfolgt meine Bewegungen und lässt ihr eigenes Bild entstehen.
Die Heizung bollert. Mit einem Blick auf mein Gegenüber ziehe ich das T-Shirt aus. Stört es dich?
Warum sollte es. Mona grinst: Ich trage weniger als du.
Ich lache und knie vor der Staffelei nieder, um ihre Füße zu malen. Füße sind ein Mysterium. So wie Hände. Geschichten, die sie erzählen, faszinieren mich mehr als der sinnlichste Torso. Jeder Finger, jeder Zeh hat seine Persönlichkeit. Keiner gleicht dem anderen. Und doch ergeben sie nur zusammen einen Sinn. Darin das Greifen, das Stehen sichtbar zu machen, ist meine Aufgabe. Oft dauert die Arbeit an einem Fuß länger als am ganzen Oberkörper.
Kannst dich oben bewegen, ermuntere ich sie.
Aus Erfahrung weiß ich, dass das eine Wohltat ist. Arme heben, Schultern rollen, Oberkörper drehen, Rücken krümmen, Kopf neigen, Lippen befeuchten, Aufatmen – all die kleinen Bewegungen, die uns im Gleichgewicht halten. Sie erwecken auch das allzu starre Stützverhalten der Füße zum Leben, ich sehe Knorpel hüpfen und Sehnen sich straffen, das hilft beim Malen.
So arbeite ich, bis ein Gähnen durch ihre Glieder bebt – das untrügliche Zeichen für eine Pause. Zeit für einen Kaffee. Ich stülpe den Pinsel ins Wasserglas.
Während der Kocher braust und ich der Handmühle einen dunklen Duft entlocke, sondiert Mona, in Rot mit Tupfenmustern gewickelt, die Aussicht vom Balkon. Als ich den Kaffee nach draußen trage, baumelt sie wie ein Klappmesser in der Hängematte, die Beine steif nach oben gelegt. Lächelnd muss ich für Sekunden stehen bleiben.
Womit verbringst du eigentlich deine Zeit? Mit der Frage leite ich einen Small Talk ein. Höfliche Distanz lautet die Spielregel. Wenn ein Gespräch zu nahe tritt, dann wird sich das Modell nicht mehr unbefangen ausziehen. Ich habe das oft erlebt, als ich noch damit mein Geld verdiente. Manchmal ist es gut, auf beiden Seiten gestanden zu haben.
Zum Beispiel war da ein Maler, zwanzig Jahre älter als ich, Kunsthochschulprofessor. Auf seine Art war er verliebt, in mich oder was er sah: meinen Körper. Sein ganzes Wünschen prägte sich in die Bilder ein.
Diese Spannung zwischen der beinahe unerträglich intimen Körpersprache eines enthüllten Menschen und dem Tabu des Anfassens schafft das Bild. Berührung findet nur auf der Leinwand statt. Dorther rührt der Zauber von Aktgemälden: Sie zeigen mehr als einen nackten Menschen. In ihnen schwebt der unerfüllte Wunsch nach Nähe, Begreifen, Liebkosung.
Ich stand so lange vor seiner Staffelei, bis der Maler eines Tages die Zeichenkohle aus der Hand legte und mit rußigen Fingern auf mich zukam. Noch ehe ich einen Gedanken fassen konnte, hatte er meinen Kopf gegriffen, seine Zähne auf meine Lippen gepresst – hart und gierig, als wollte er mich fressen – und mir seine Zunge in den Hals gesteckt. Nicht das, was ich einen Kuss nennen würde.
Von da an war es vorbei. Ich entzog mich. Er brummte Entschuldigungen. Die Kerze war ausgeblasen. Ich habe sein Atelier nie wieder betreten.
In der Dunkelkammer. Monas Antwort kommt aus dem Nichts, sie bricht das Schweigen und Schlürfen so plötzlich, dass ich für Momente neben mir stehe, Faden verloren. Fragend sehe ich sie an.
Ich entwickle Fotos.
Du fotografierst?
Sie nickt. Ich will das studieren. Zur Zeit jobbe ich bloß im Labor. Handwerk lernen, weißt schon.
Die, die es wissen müssen, predigen an der Kunsthochschule: Nur zwanzig Prozent eines Kunstwerks werden vom Talent erschaffen. Der Rest sei harte Übung.
Ein weiter Weg, sage ich, klappt nur wenn du nicht anders kannst.
Ja, murmelt sie und schaut Mauerseglern beim Landeanflug auf das Nest unterm Dachbalken zu. Sie ziehen Schlaufen, Wurm im Schnabel, beäugen Mona und sondieren die Lage, bevor sie ihr Versteck preisgeben. Mich kennen sie auswendig, doch Mona ist ein Risiko.
Sie fürchten, dass deine Blicke töten.
Mona erwacht und stellt das Feuer ein. Ich schieße Fotos, keine Kugeln. Sie lacht.
Eben. Lässt sich der Unterschied zwischen Fotografie und Malerei treffender ausdrücken? Bilder schießen, Momente einfangen, Motive jagen. Hat was Kriegerisches.
Es ist oft gefragt worden, ob die Malerei aussterben werde, weil die Fotografie erfunden wurde. Fotos könnten genauer abbilden, was ist. Akademien eröffnen Fotografiestudiengänge und Medienkunst, um den Ablauf ins Bild zu bringen.
Ich meine, Fisch lässt sich nicht durch Fleisch ersetzen. Jede Kunstgattung hat ihre Faszination. Mich reizt die Farbe, das Formen auf dem Papier. Mehr als nur voyeuristisches Schauen durch eine Linse und klick.
Malerei ist zeitlos. Sie jagt nichts, noch zeigt sie Abläufe. In ihr sind ungezählte Augenblicke zu einem Mosaik verdichtet, Wochen oder Monate scheinen darin auf. Das verströmt einen Hauch von Ewigkeit. In meinem Atelier stehen Bilder ein Jahr oder länger mit dem Gesicht zur Wand, um später weiter gemalt zu werden. Sie reifen da wie Früchte.
Lass uns weitermachen, schlage ich vor, ehe das Gespräch in die Tiefe geht. Mona nimmt ihre Tasse und setzt sich auf den Ball, fügt die Füße in die Kreideumrisse auf dem Boden. Fast nie ist Deckungsgleichheit zu erreichen. Auch von dieser Unwiederholbarkeit lebt Malerei. Unter der dünnen Farbhaut der Bilder schimmern veränderte Haltungen und Bewegungen wie Adern durch.
Der Ball macht eine schöne Sitzhaltung. Ich lächle anerkennend: Das Becken kippt vor, betont den Hintern, die Bauchplatte und den Schwung der Wirbelsäule. Wunderbar, ein Gedicht, ich proste ihr mit dem Kaffee zu. Dann grabe ich die Ölkreide in den noch feuchten Farbauftrag und lasse die veränderte Körperhaltung aus dem Bild wachsen wie eine neue Jahreszeit.
Woran erkennt man, ob ein Bild gut ist, fragt Mona, ich meine die Qualität ...?
Irritiert lausche ich dem Wort nach. Qualität. Kommt das von Qual? Kann Gequältes gut werden? Die Antwort wähle ich mit Bedacht, haarscharf an ihrer Frage vorbei:
Malen macht mich glücklich. Je größer der Rausch, desto besser das Bild. Quälen würde ich mich nicht.
Ich zweifle oft, gibt Mona zu. Das Schauspiel in der Entwicklerwanne, weißt du, wenn ein Bild aus dem Dunkel tritt, das ist großartig. Aber ich sehe nie, ob ein Foto gut ist oder ob ich nur in der flachen Pfütze der Mittelmäßigkeit pansche.
Glückwunsch! Ich lächle schief. Das macht dich zur hoffnungsvollen Anwärterin auf einen Kunststudienplatz.
Machst dich nicht lustig. Mona zieht die Knie hoch.
Nicht die Spur. Für Momente lasse ich den Malarm sinken. Kunstprofessoren erwarten Selbstzweifel. Unglücklich sollst du sein, hat meine Professorin von mir verlangt. Nur ein unglücklicher Künstler malt gute Bilder.
Und du? will Mona wissen.
Schulterzuckend stelle ich ihre Füße in die Spuren zurück. Sie lässt es geschehen. Meist nimmt man den Ehrgeiz zu wichtig, behaupte ich. Was soll das für ein Leben sein: Glück den Erfolgen zu opfern?
Ein Bild wird am Kunstmarkt wertvoller gehandelt als das Glück. In Monas Stimme leise Ironie.
Ich nicke. Dann lasse ich einen schwer verdaulichen Satz von den Lippen: Die Gnade der Inspiration ist ohne Zweifel.
Ich gebe zu, das klingt gewagt, und Gnade ist nicht immer da. Das Angetriebensein von einer Eingebung, die stärker ist als Lehrmeinungen und Kunstdiskurs. Ob Mona das kennt?
Mein Modell runzelt die Stirn. Sekundenfalten, ein Vorgeschmack auf späteres Alter, durchziehen ihre Haut. Ich deute sie in Hellgrün an, sacht, als wären sie kaum, jetzt noch nicht, nur ein Schimmer. Mona hat das meiste noch vor sich. Zwanzig Jahre jünger als ich. Ich beneide sie nicht.
Haben nicht alle großen Künstler gelitten?
Mona fragt, wie Leute fragen.
Nein.
Schweigen. Ratlos greift sie nach der Tasse.
Halt, rufe ich, als der Kaffee eine Armlänge entfernt neben ihr schwebt. Bleib so ... nicht reden ... jetzt...
Wie immer, wenn ein Bild die Regie übernimmt, setzt mein Sprachzentrum aus. Mit offenen Mund starrt das Modell mich an. Indigoblau erfindet meine Hand einen rechten Arm ins Bild, der aus dem Format hinaus auf die Holzplatte greift und Pinsel in der Hand hält. Dicke, farbverschmierte Pinsel.
Nie passen die Frauen ins Format. Ich kann ein Lied davon singen. Wortlos ziehe ich einen Bogen aus dem Grafikschrank, schneide breite Streifen ab und klebe sie an den Malgrund. Lockere dich, sage ich abwesend, das hier dauert.
Von der nächsten Stunde merke ich nicht viel. Als hätte jemand die Uhr weitergedreht. Nur dass Mona Tränen in den Augen hat. Mein Arm, klagt sie.
Ihr Arm. Wie ein Haltesignal ragt er aus dem Bild. Die Figur – von oben bis unten mit Pinselstrichen bedeckt, bunt wie eine Wiese. Als wäre sie eine Farbbesessene, die sich selbst erschaffen hat und ihr Bild sprengt.
Ich stelle die Farbtöpfe beiseite.
Erschrick nicht, warne ich Mona. Jetzt kommt, was kommen muss: der Moment, in dem das Modell hinter die Staffelei tritt.
Mona hat das tupfenrote Tuch um ihren Körper geschlungen, schüttelt den Arm und kommt auf mich zu. Mona mit einem trockenen und einem feuchten Auge bleibt vor mir stehen. Dicht vor mir, wie vor einem Spiegel, in dem sie ihre Wirkung ganz aus der Nähe prüft, schaut sie mich an, schaut durch mich hindurch, sieht Mauersegler hinter meiner Stirn und fängt sie ein.
Ich fürchte nicht, dass Blicke töten. Ich bleibe so. Lasse sie jagen, was immer sie sucht. Ich werde meine Zunge nicht in ihren Hals stecken.
Grün, sagt sie und wischt etwas von meiner Wange. Sie lacht. Ich werde es mir das nächste Mal ansehen. An der Wand. Mit Abstand. Heute ist es zu nah.
Dann wendet sie sich zur Umkleide und sagt im Hinausgehen etwas, das mich überrascht: Man kann nicht auf beiden Seiten gleichzeitig stehen.
Allein sitze ich vor der Staffelei und atme aus. Starre auf das Bild, hingerissener als eine Mutter von ihrem Neugeborenen. Kennt das wer? Ich frage alle Malerinnen. Maler.
Die ersten Worte beginnen zu rieseln. Sprachzentrum setzt ein. Wie soll sie heißen? fragt es in mir. Madre, können Frauen nur wie Gebärerinnen denken ...
Es kommt mir so vor. Ich habe viele Bilder gemalt. Geb ich sie weg, trenn ich mich von Kindern.
Die neue Tochter sieht mich an, frisch erblüht in Farbkaskaden. Ihr Leuchten verlangt nach phtalogrünem Hintergrund, nach der Farbe des Meeres hundert Meter unter Wasser, dort wo kein Sonnenstrahl hingelangt. Täte er es, erwachte die Tiefseenacht in ungekannten Tönen.
Frühblüherin wird sie heißen.

Mona steht in Jeans und Tank Top im Türrahmen, Inlineskates über der Schulter. Heiß! Sommer draußen. Ich schenke ihr die Skizzen – zusammengerollt, sie wird sie erst zu Hause öffnen. Und bringe sie zur Tür.
Komm wieder, sage ich, als sie auf halber Treppe wendet. Bitte.