Christoph Schröder: Frühlingserwachen
Sie tritt aus dem Badezimmer und ist wunderschön. Der Frotteemantel hüllt sie bis zum Kinn ein. Um die Haare hat sie ein Handtuch gebunden. Fabia ist 16, halb Libanesin halb Französin, Anja und Papa sind ihre Gastfamilie. Sie hat ein kleines, hübsches Gesicht mit runden Wangen. Dann öffnet sie das Handtuch und ihre Haare ergießen sich über die Schultern, den Rücken; ein dichter Flor bis hinab in die Biegung ihrer Wirbelsäule. Kräftig, dick, gewellt, dicht, glänzend – Anja bewundert diese Haare. Diese Haare sind ein Schatz.
Papa guckt TV, und als Fabia in die Tür tritt, starrt er auffällig interessiert auf den Bildschirm. Das ist ja wohl gespielt: Normalerweise würde man doch unwillkürlich den Blick zur Bewegung hin wenden.
Am Fenster bleibt Fabia stehen.
– So kalt wie bei euch im Frühling ist es bei uns im Winter.
Papa glotzt unverwandt auf den Fernseher. Es läuft eine Seifenoper.
– Ich weiß jetzt, dass ich dich liebe. Das ist mehr als Freundschaft, das ist Liebe…
– Trocknest du mir die Haare? fragte Fabia Anja und setzt sich neben sie aufs Sofa.
Anja nimmt das Handtuch und beginnt zu rubbeln. Sie riecht Fabias Haarschaum, aber da ist auch wieder dieser andere Geruch an ihr, vollkommen eigen, ungewohnt, den Anja schon ein paar Mal bemerkt hat. Woher kommt er?
Anjas Vater steht auf, tritt ans Fenster und zeigt auf die Krokusse im Garten.
– Frühling bedeutet: Alles keimt, alles wächst. Das Leben regt sich. Es drängt durch, gegen jeden Widerstand. Es geht dahin, wo es hingehen soll. Hingehen muss.
Fabia geht hinaus, kommt mit einer Haarbürste zurück und hält sie Anja wortlos hin, die eine Handvoll Strähnen nimmt und sie durchstriegelt. Papa starrt genauso angestrengt aus dem Fenster wie er zuvor auf den Bildschirm gestarrt hat.
Ganz früher ist Mama noch dagewesen, hat Anja das Täschchen umgehängt und sie in den Kindergarten gebracht. Und beim Gehen lange gewunken. Danach hat es keine Frau mehr in Papas Leben gegeben; keine, von der Anja gewusst hätte. Trotz seiner hochgezüchteten Muskeln, seiner höflichen Manieren, seines Geldes.
Die Sonnenstrahlen schmuggeln sich zwischen den Wolken hervor und lassen den Anstrich der Parkbank in einem branstigen Rot aufscheinen, einem Rot, das an eine verschorfte Wunde erinnert. Von der Seite, im Profil, sieht Papa großartig aus – sein kräftiges, kantiges Kinn, der Briketthaarschnitt, der trainierte Brustkorb, der sich unter dem eng anliegenden Pulli abzeichnet. Es ist ein bisschen wärmer geworden. Sie sitzen im Schlosspark unweit der Freiluftbühne. Um diese ist eine Arena gebaut; ansteigende Sitzreihen, auf denen sich ein paar Dutzend Leute verlieren. Jetzt kommen fünf Musiker auf die Bühne, sie tragen schwarze Anzüge und Fliegen und große Instrumentenkästen. Sie packen aus, sie probieren ein bisschen, und dann entfachen sie Musik, ein Gestreiche und Gefiedel und Gezirpe, das ganz klar tote Musik ist; von toten Leuten für fast tote Leute komponiert. Papa schaut und hört zu, Anja ist genervt und Fabia schaukelt ein bisschen mit der Melodie mit. Die steigt hoch und fällt runter, schwillt an und ab. Anja fällt ein: Das ist Klassik. Fabia steht auf. Sie tanzt! Die Zuhörer in der Arena sitzen bewegungslos da, das ist bei der Klassik so, Anja hat es mal im TV gesehen, aber Fabia tanzt. Ein paar gucken rüber. Fabia schlängelt sich hoch und zur Seite, ringelt das Becken, rollt die Schultern, legt den Kopf zurück und lässt die Haare schwingen. Die Luft ist auf einmal lau. Das kommt von irgendwo her: Ein Windchen, mit so ein bisschen weicher und warmer Luft drin eingefangen. So fängt der Frühling an. Fabia wiegt und schlängelt sich wie zuvor, aber nicht mehr auf der Stelle, sondern in Richtung Bühne. Anja erschrickt und schaut zu Papa. Papa grinst und schnipst mit Daumen und Mittelfinger. Sekundenkurz überlegt Anja, ob sie nicht Fabia hinterher tanzen soll, aber dann macht sie’s doch nicht.
Bald ist Fabia im Halbrund vor der Bühne angelangt. Wie sie tanzt, das passt tatsächlich zur Tote-Leute-Musik. Anja schaut sich das Publikum an. Einer wedelt mit den Armen, dass sie weggehen soll, da schütteln auch welche den Kopf, aber manche lächeln. Die Musiker gucken nur auf ihre Notenblätter. Da steht Anja doch noch auf, macht es Fabia nach, aber es ist mehr wackeln als tanzen; ihre Arme schlenkern irgendwie, sie spürt das Eckige und Unelegante, schämt sich, setzt sich gleich wieder. Papa hat gar nicht zu ihr rübergeschaut. Er guckt, und lächelt die ganze Zeit in Fabias Richtung. Anja bewundert Fabias Mut und empfindet ein bisschen Neid. Das Stück endet und der Applaus gehört auch Fabia, man spürt die Begeisterung, die das Geräusch der klatschenden Hände zu ihr trägt. Und zwei der Musiker klatschen ebenfalls; für die ist das auch mal etwas anderes, dass sich jemand bewegt zu ihrer Musik. Fabia winkt nur kurz wie ein Kind, eine wischende Bewegung der Hände vor der Brust und hüpft gleich aus der Arena.
Fabia und Anja spazieren durch die Fußgängerzone, siamesisch-zwillingshaft verbunden durch die Kabel ihrer Kopfhörer, die zum MP3-Spieler an Fabias Gürtel führen, gucken Leute, füttern sich gegenseitig mit Pizzastückchen: Freundinnen! Nur Fabias Mutter ist aus dem Libanon, wie Anja erfährt, ihr Vater ist Franzose.
Anjas Tischtennistraining ist zu Ende. Sportler müssen fähig sein, Schmerzen auszuhalten, die der hunderte Male wiederholte Bewegungsablauf verursacht. Überschnitt, Unterschnitt, Kreuzschlag. Die Ballmaschine kennt keine Gnade und fordert Selbstüberwindung und stupide Ausdauer: Anja bringt das. Anja gibt sich das. Stur, maschinell, roboterhaft, automatisch. Seinen Körper so zu takten, dass er jeden Ball fehlerfrei zurückschlägt, verschafft ihr ein großes Quantum Zufriedenheit.
Dusche. Solche Haare wie Fabia hat Anja leider nicht. Ihre sind eher fein, mittelblond, und lassen sich gerade mal zu einem Stummelschwänzchen klammern. Bessere Qualität, ja geradezu traditionelle, deutsche Qualität, bieten Anjas Augen – hellblau – und ihr straff trainierter Körper. Sie ist nicht umsonst Vatertochter. Für Papa ist Sport das Wichtigste im Leben, wichtiger als Business. Oder so rum: Gutes Business ist ein Ergebnis von gutem Sport. Der logische Ablauf lautet: Sport, Gesundheit, Kraft, Erfolg, Glück – die Sinnhaftigkeit dieser Reihenfolge hat Papa Anja beigebracht. Es ist das Beste, was es gibt, eine Vatertochter zu sein. Ein Vatermädel.
Ihre Beine können noch ein bisschen Härte, Belastung gebrauchen und so schnürt Anja mit dem Rennrad durchs Städtchen und über die Hügel. Zu Hause setzt sie sich mit Papa und Fabia ins Wohnzimmer.
– Was willst du eigentlich mal beruflich machen, Fabia?
Der freundliche Ton tut Anja weh. Bisher war Papa so kühl Fabia gegenüber. Wieso redet er jetzt ganz anders mit ihr?
– Mutter. Ich wäre gern Mutter.
Papa liftet die Augenbrauen, wie er es manchmal am Telefon macht, wenn er mit etwas überhaupt nicht klar kommt.
– Ist das jetzt dein Ernst?
– Na klar, erst mal fünf Kinder haben. Ich bin ein ziemlich sozialer Mensch.
– Und abhängig zu sein von einem Mann stört dich nicht?
– Ach, bei uns in Frankreich gibt der Staat so viel Geld für Kinder… erst mal mach ich sowieso Abi. Und ein Studium. Aber ich kann für andere sorgen, das weiß ich.
Sie steht auf und hüpft hinters Sofa. Das Hüpfen kennt Anja schon von ihr und mag es nicht. Es hat was Lächerliches; Fabia macht das, wenn sie sich unsicher fühlt und ein bisschen aus der Situation herausheben will, als ob sie damit sagen möchte: Das bin nicht ganz ich, dieser Mensch hier. Im Park ist sie so gehüpft und dann auch als sie ihr leckeres libanesisches Rindfleisch-Gemüse-Hirse-Gericht servierte. Jetzt steht sie ganz schnell hinter ihnen und legt Papa die Hände auf die Schultern und massiert.
– Einfach entspannen.
Das gibt’s doch nicht, denkt Anja. Ist die dreist. Die soll Papa in Ruhe lassen.
Fabia drückt eine Weile auf seinen muskulösen Schultern herum, stemmt ihm die Daumen in den Nacken. Verdammt, woher weiß die, dass Papa dort dauernd Schmerzen hat, vom Curling an der F2, wie er oft klagt.
Papa stöhnt leise.
Das geht jetzt aber echt zu weit, denkt Anja, als Fabias Hände über Papas Brustkasten streichen. Ihre Haare rutschen nach vorn und hüllen seinen Kopf ein. Gerade will Anja aufspringen und rausrennen, weil sie es wirklich nicht mehr aushält, da hat sie selbst Fabias Hände auf den Schultern und wird geknetet. Es tut weh. Es ist aber ein angenehmer Schmerz, einer der gut tut. Sie schaltet ihre Gedanken ab.
Papa dehnt die Schultern.
– Fühlt sich besser an jetzt. Danke, Fabia.
Anja lächelt verkniffen.
Immer wenn Anja das Bild von Fabia mit den Händen auf Papas Schultern in den Sinn kommt, wird sie sauer. Sie weiß ja, das ist Eifersucht. Welches Recht hat diese Libanesin, sich an ihn ranzumachen? Blöde Tusse. Noch zwei Wochen bleibt die bei ihnen.
Sie laufen wieder durch diese Häuser-Auto-Leute-Ansammlung, die sich Stadt nennt. Dann auch zwischen den Feldern lang, wo es so extrem nach Gülle riecht, dass es Anja peinlich ist, bis ihr einfällt, dass das in Frankreich auf dem Land nicht anders sein dürfte. Sie hören französischen, deutschen, libanesischen Pop. Sie spielen zusammen Badminton, Anja gewinnt natürlich. Wenn sie Leute begucken, schätzen sie, wie oft die duschen. Mancher sieht nach einmal alle zwei Wochen aus. Mitunter fragen sie nach und lachen sich kaputt über die verblüfften Reaktionen. Jeden Tag gehen sie zusammen in die Schule: Fabia hält einen kleinen Vortrag über die Libanon-Zeder, sie schreibt eine Klausur über die Sprechakttheorie mit, und wenn sie im Französischkurs was sagt, wird jedem klar, wie schlecht die Aussprache von Frau Schmelzer ist. Irgendwann kann Anja Fabia wieder leiden. Wenn Fabia sich freut, hüpft sie jetzt auf Anjas Rücken, bleibt, den Arm um ihren Hals geschlungen, einfach dort hängen und ruft etwas, das wie „farucko!“ klingt.
In Anjas Zimmer, leiser Gute-Nacht-Einschlaf-Pop. Anja liegt auf ihrem Bett, Fabia daneben auf der aufklappbaren Gästeliege.
– Darf ich zu dir?
Schon liegt Fabia neben ihr, ihr Haar raschelt und kitzelt ein bisschen auf Anjas Arm. Und ihr eigentümlicher Fabia-Geruch ist auch wieder da.
– Ich brauch nur ein bisschen kuscheln. Und du vielleicht auch.
Das ist so nett gesagt und überhaupt sind sie zusammengewachsen, wirkliche Freundinnen jetzt, und Fabia fährt morgen Mittag zurück, was Anja zum Heulen findet. Sie hat sich immer Geschwister gewünscht. Sie legt den Arm um Fabia, in ihr volles, dichtes Haar hinein. Es wäre ganz leicht, sie jetzt zu küssen.
– Jetzt haben wir über alles geredet in den letzten drei Wochen, bloß nicht über Sex. – Fabia kichert.
Da ist dieses flauschige Gefühl und Anja hat Lust, sich noch ein bisschen hineinzudrehen, hineinzukuscheln in dieses Gefühl und das macht sie auch. Was wäre schon dabei, wenn sie mit ihren Lippen auf Anjas kleinem Mund landen würde, sie braucht ihr ja nicht gleich die Zunge in den Rachen zu stecken. Vielleicht würde Fabia das dann aber wollen. Vielleicht wäre das dann aber auch gar nicht so schlimm, sie kann ja nicht wissen, was sie in diesem noch nicht aktuellen Moment schlimm oder nicht schlimm finden wird. Du müsstest das abwarten, sagt sie sich. Der Gedanke und das dazugehörige Bild von einander umschlingenden, nassen Zungen beginnen schon in Anjas Kopf umherzutanzen, sie will noch einen weiteren Gedanken hinzufügen, aber es gelingt ihr nicht mehr, sie schläft ein.
Keine Ahnung, wie lange sie geschlafen hat. Da leuchtet ein blassgelber Halbmond mitten im Fensterviereck, der war vorhin noch nicht da. Fabia ist weg. Das ist nicht so gut, denn ein bisschen muss man auf sie schon aufpassen. In zwölf Stunden geht ihr Zug.
Irgendwie ist da das Gefühl von einem Zeitloch und das mag Anja nicht.
Lautlos tappt sie über den Flur; ihr ist unheimlich. Eine seltsame Angst hält sie davon ab, Licht zu machen und dann sieht sie doch etwas. Sie pirscht sich ran. Ein Lichtstreifen aus dem Türspalt von Papas Arbeitszimmer; es ist noch ein bisschen beleuchtet von einer Schreibtischlampe und dem strahlenden Bildschirm, und in diesem Dämmerlicht knien Fabia und Papa gerade auf den gelbgrünen Teppich vor dem Ergometer und umarmen einander.
Jetzt streicht er ihr die Haare nach hinten, sie legt den Kopf in den Nacken, die Augen geschlossen, und Papa senkt sein Gesicht auf ihres herab und küsst sie. Vor dem Teppich liegen zerknüllt sein Hemd und seine Krawatte.
Anja ist schockgefrostet. Es ist, als wenn jemand gestorben wäre. Sie möchte die Zeit zurückdrehen. Sie ist still und gelähmt. Es ist ekelhaft. Sie schämt sich so sehr. Das Peinlichste wäre, hier erwischt zu werden.
Das geht nicht, das geht gar nicht. Immer nur treten, treten, treten. Sie wartet darauf, dass der Schmerz kommt.
Sex ist eine unappetitliche, kleine Angelegenheit: Schleimhäute treffen aufeinander und übel riechende Körperflüssigkeiten verschiedener Menschen vermischen sich. Zwei Mal in ihrem Leben hat sie das gehabt, mit Kondom. Nichts für sie. Hat ihr nichts gebracht.
Früher hat sie sich schon manchmal ihren Vater mit jemandem vorgestellt, und sie hat gedacht, dass sie diese fremde Frau hassen würde, aber jetzt macht sie sich einfach nur kalt.
Wenn sie sich vorstellt, wie sie Wange an Wange mit Fabia dalag, in ihr Haar geschmiegt. So betrogen zu werden. Solch eine…
Sie will all diesen Quatsch aus ihrem Gehirn schmeißen.
Deshalb stemmt sie sich in die Pedale, den Pillerberg hinauf, das ist die stärkste Steigung in der ganzen Gegend, aber ihre Beine wollen nicht anfangen weh zu tun. Noch nicht.
Ihr fällt ein, was Papa vor zwei, drei Wochen, am Fenster stehend, über den Frühling sagte. Diese geschraubten Worte – der hätte doch Fabia niemals angemacht. Plötzlich ist klar, dass Fabia sich an Papa rangewanzt hat. Die ist außer Kontrolle und Papa das Opfer, vielleicht hätte er sich doch mal mit einer Frau zusammentun sollen in all den Jahren. Ihr Papa. Ihr lieber, lieber Papa. Er ist doch ihrer.
Das Ziehen in den Oberschenkeln ist da, ein gemeiner, geliebter Schmerz; ein Schmerz, dem Anja vertrauen kann.