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Andreas Kurz: Duftmarken 

‹Junge Krankenschwester überfallen ...› – der Mann ihr gegenüber hielt die Zeitung so, dass sie ständig diese Überschrift ansehen musste. Das Vorbeifliegen des dunklen U-Bahn-Schachts vor dem Fenster bereitete ihr Schwindel. Die stumpfen, ernsten Gesichter der Umsitzenden waren ihr unangenehm. Blieb nur die Zeitung und diese Überschrift. Warum eigentlich Krankenschwester? War denn jeder nur das, was er gelernt hatte? Lebte und starb man stets als Vertreter einer Sparte, eines Berufszweigs? Müllmann gestorben, Arbeitsloser überfahren. Was sollte das? War man als Mensch nicht mehr als das? Ein Beruf, das war doch oft einfach nur Zufall oder Glück, zum Beispiel weil eben gerade was frei geworden war. Oder Pech, weil es nichts anderes gab. Vieles hatte man doch gar nicht in der Hand; es fügte sich, ergab sich, widerfuhr einem. War doch so. Und wenn es dich dann erwischte, verhöhnten sie dich auch noch mit deinem Beruf. Krankenschwester, na klar! Warum schrieben sie nicht, dass diese junge Frau gerne Ärztin geworden wäre, es aber nicht konnte, weil ihre Eltern geschieden waren und die Mutter das Geld für ein Studium nicht aufbringen konnte. Warum schrieben sie das nicht? Was hielt sie davon ab, die Wahrheit über einen Menschen in ihrem Scheißblatt abzudrucken. Okay, die Frau konnte genauso gut nicht das Zeug zur Ärztin gehabt haben, auch keine Lust auf das viele Lernen. Oder Krankenschwester war wirklich ihr Traumberuf gewesen und sie tatsächlich stolz darauf, so bezeichnet zu werden. Sogar stolz darauf, als Krankenschwester überfallen worden zu sein. Von einem jungen Oberarzt, den ihr Körper um den Verstand gebracht hatte und der sich nicht mehr zurückhalten konnte. Der seine Familie, seine Frau, seine Kinder verriet und alle ins Unglück stürzte – nur wegen dieser sagenhaften jungen Frau, dieser Krankenschwester in ihrem weißen Kittel, wegen einer einzigen Nacht mit ihr, einem Rasen in Dunkelheit und Wahn ...
Sie musste unwillkürlich lächeln. Sicher starrten sie ein paar Fahrgäste deswegen an.
Weshalb lächelte die junge Frau? Hatte sie Grund dazu? Sie war hübsch, hatte auffallend schöne Beine ...
Sollten sie doch. Sie sah zum Fenster hinaus, der Zug rollte gerade in eine Station, wartende Menschen huschten wie die Schatten Toter vorüber.
Warum hatte sie eigentlich den Schlüssel behalten, damals, als sie sich trennten und sie die Wohnung verließ? Wahrscheinlich war es ihm egal gewesen, oder er hatte es einfach vergessen. Er kannte nicht einmal ihre neue Adresse. Die Handynummer hatte sich geändert, und tschüss war man im Grau der Stadt verschwunden. Sicher hatte er nicht nach ihr gesucht; dazu war er nicht der Typ. Dinge fügten sich zusammen und brachen wieder auseinander, war eben so. Er konnte damit leben. Ließ es kommen, nahm es hin, alles ziemlich egal.
Nur keinen Aufstand, keinen Zickenalarm, einfach cool bleiben, Baby, cool!
Der Mann faltete die Zeitung zusammen und stopfte sie in den Abfallbehälter unter dem Fenster. Wen interessierte jetzt noch, was ihr widerfahren war? War doch eh egal. Das war Unterhaltungslektüre, mehr nicht. Man las es, geilte sich dran auf, vergaß es wieder. Eine Krankenschwester hatte Pech gehabt, gab ja genug andere. So einfach.
Sie hatte erwartet, dass Steffen sich die Mühe machen und ihre neue Adresse herausfinden würde. Wär auch nicht schwer gewesen. Ein Anruf bei einer ihrer Freundinnen hätte genügt. Er hätte wenigstens mal vorbeischauen können, hallo sagen und fragen, wie’s so ging. Aber er kriegte natürlich seinen Hintern nicht hoch, warum auch, war 'ne schöne Zeit und gut.
Doch was soll’s, das war gestern, also nimm’s locker, Süße!
Arschgeige!
Leute stiegen aus. Der Wagen ruckte an, und die Röhre saugte sie ein. Betonpfeiler mit Neonlampen flitzten vorbei, immer schneller. Sie sah Türen und Treppen, die Hinterzimmer einer Station. Ankommen, einen kurzen Eindruck erhaschen und weiter. Gleich war man wieder weg.
Steffen hatte gesagt, er liebe sie so sehr, wie eigentlich noch keine vorher. Und sie musste über das 'eigentlich' nachdenken. Wieso hatte er 'eigentlich' gesagt? Das Wörtchen hatte sie gestört, es ragte wie ein Fremdkörper aus dem Satz. Steffen war sehr zärtlich gewesen und aufmerksam, voller Überraschungen, kein Langeweiler. Und er sah gut aus, war groß, war kräftig, hatte die blausten aller Augen. Als würde ein Licht sie von innen heraus erstrahlen lassen. Wie aus einem Magazin, fast schon zu perfekt.
«Ich liebe dich so sehr», diese Worte wird er nun einer anderen ins Ohr flüstern, ihr dabei wollüstige Gefühle bereiten. Darin war er wirklich gut. Er konnte eine Frau verrückt machen, verrückt nach ihm. Vielleicht bemerkte er nicht einmal einen Unterschied zwischen ihr und der Neuen. Nicht wirklich jedenfalls. Nicht in den Dingen, die zählten. Sich vorzustellen, dass man verglichen wurde, löste kein gutes Gefühl aus. Was war jetzt besser, was damals schlechter? Brüste oder Hintern, sie konnte es sich aussuchen. Schließlich musste er sich doch verbessert haben. Wie sportlich würde die Neue sein? Steffen liebte sportliche Frauen mit straffer Haut. Bloß keine wabbeligen Fettpölsterchen, um Gotteswillen! Sich nicht gehen lassen, sich im Griff haben, auch die Gefühle, nicht zicken, bloß nicht. Nur keine Launen zeigen.
«Du liebe Zeit, verschon mich! Bist du wieder fünf oder was? Werd' endlich erwachsen! Sei eine Frau, die ihren Kopf in den Nacken fallen lässt und lacht, wenn man sie auf den Hals und die Brüste küsst, mit der Zunge neckt, sie besteigt und beherrscht nach all den zähmenden Ritualen, die vorausgehen!»
Steffen stand auf die schlanken, zierlichen Typen mit langen Haaren. Die körperlich Kindfrauen blieben, wie sie, noch nicht erwachsen, auch mit achtundzwanzig nicht. Vielleicht nie. Sich immer etwas bewahrend von jenem Zauber, als alles stets auch Spiel war, nie ganz ernst gemeint, als nichts wirklich verbindlich war. Als alles immer auch ein Traum blieb, schwebend und nie erreicht, die Phantasie des Schönen und Idealen.
Nach Steffen war Nick gekommen, dann Mike, dann Robert. Keine richtigen Beziehungen, eher die Begeisterung füreinander, wenn man den anderen noch als fernes, geheimnisvolles Rätsel begreift und immer wieder überrascht wird, angenehm überrascht. Man traf sich, man lachte viel, man gab sich Mühe. Unzählige Anrufe, SMS und E-Mails, ein Spiel, nicht mehr, aber vergnüglich. Alles vage, nur ein Versprechen, und immer das Gefühl, jeden Moment könnte sich ein weiteres Tor öffnen in eine prachtvollere, üppigere Welt.
‹Krank› – das war alles, was von der Zeitung, die aus dem Abfallbehälter ragte, noch zu lesen war. Witzig. Ja, vielleicht war alles krank, diese ganze Welt.
Sie stieg aus, wo sie früher immer ausgestiegen war, als sie noch mit Steffen zusammen war. Ein merkwürdiges Gefühl. Als besuchte sie ihre eigene Vergangenheit. Sie glitt mit der Rolltreppe nach oben, blinzelte in die gelbe Abendsonne, deren Strahlen die Häuser zu zerschneiden schienen. Einer der ersten warmen Tage des Jahres. Hier hatte sie sich immer schon auf ihn gefreut. Diese genialen Schmetterlinge im Bauch. Die Lust, ihm etwas mitzubringen, ihm eine Freude zu machen. Sie machte einen Abstecher in eine Konditorei und kaufte eine Apfeltasche. Während sie aß, bummelte sie weiter. Auf dem Weg hatte sie damals immer gedacht, dass sie nun nach Hause kommen würde. Sie wollte für immer mit ihm zusammenbleiben. Immer, man stelle sich vor! Aber es hatte sich einfach logisch und richtig angefühlt. Warum noch andere, wenn der eine so etwas Besonderes war? Vor dem Haus blieb sie stehen, nahm den Schlüssel aus ihrer Umhängetasche und musste lachen.
Steffen, es ist vorbei, hörst du das? Hörst du meine Gedanken? Ich bin froh, dass ich von außen auf uns beide blicken kann.
Sie wollte den Schlüssel in den Briefkasten werfen und gehen, doch dann sperrte sie die Haustür auf und ging hinein. Der Geruch hatte sich nicht verändert. Jedes Haus hatte seinen eigenen Duft, dieses roch nach Staub und Zement, manchmal mischte sich auch noch eine süßliche Note dazwischen, nussig, erdig, nicht mal schlecht. An der Wohnungstür lauschte sie – nichts, alles war ruhig. Leises Kindergeschrei durchwehte das Haus. Sie drückte auf die Klingel und wartete. Wenn seine Neue öffnen würde, könnte sie ihr den Schlüssel süffisant lächelnd in die Hand drücken. Aber alles blieb still, keine Schritte, keine Stimmen. Die Wohnung war leer, sie konnte es spüren. Sie wollte den Schlüssel in das Kuvert stecken, das sie extra mitgebracht und beschriftet hatte: ‹Den hatte ich noch, Miriam.› Keine Grüße, nichts. Seine Neue könnte dann fragen, wer denn diese Miriam sei, und er müsste ihr von ihr erzählen.
«Mit Miriam war ich mal zusammen.»
«Ach ja? Wie lange denn?»
«Nicht lange ... eineinhalb Jahre, tausendmal länger als mit dir, Pussycat ...»
Sie ließ das Kuvert in ihrer Tasche, sperrte auf, öffnete die Wohnungstür und betrachtete den Flur. Da war die Garderobe, die Truhe, der Spiegel. Am Boden lagen seine Sportsachen, dreckig natürlich, nichts hatte sich geändert. Sie zog den Schlüssel ab, warf ihn auf die Truhe und zog die Tür hinter sich zu. Diesen Mut hätte sie sich gar nicht zugetraut. Einfach hier einzudringen! Der Schlüssel gab ihr jedenfalls nicht das Recht dazu.
Scheiß drauf. Er hätte den Schlüssel ja nur zurückzuverlangen brauchen, aber Steffen kümmerte sich um nichts, war doch spießig, was für Langeweiler. Also konnte sie ruhig mal nachsehen, wie er jetzt lebte. Im Wohnzimmer gab es noch immer nur eine große schwarze Ledercouch, eine gewaltige Stereoanlage und einen Flachbildfernseher, der auf dem Boden stehen musste. DVDs außen herum, auch Schweinkram natürlich, daran musste sie zuerst denken, als sie den Raum betrat. Dutzende Kerzen auf dem Parkett, Champagner, Stray Cats und Porno auf stumm. Auf der Couch oder auf dem Boden liegen, sich krümmen und klammern, auf einem Fell, einem echten Fell wie aus einer kanadischen Blockhütte. Es war kribbelig auf der Haut, aber es törnte an. Es war nicht schlecht, sich einfach gehen zu lassen, zu fallen, bis an die Grenze, nicht drüber, immer schön davor, dann trinken, lachen, küssen, sich necken und wieder weiter. Fast schon wie Sport, wie eine Herausforderung, ob du es aushieltst, ob du die Selbstbeherrschung aufbrachtest und so lange weitermachtest, bis alle Grenzen verschwammen und Lust zur Droge wurde, bis du ein Schwein wurdest, eine richtig geile kleine Sau ...
Es roch nach kaltem Rauch, nach Essen und ungewaschenen Socken. Eine Junggesellenbude. Kein richtiger Stil darin, eher eine Masche, eine Attitüde. Das Licht verschwand schon, und der Raum wirkte kahl. Im Schlafzimmer sah sie das ungemachte Bett, überall lagen Klamotten von ihm und Klamotten von ihr. Auch ein fremder Koffer lag auf dem Boden, Wäsche hing heraus. Also wohnte die Neue schon hier. Sie kickte eine Jeans zur Seite, Calvin Klein, sicher ein Sonderangebot.
«Viel Spaß mit ihm, Kleine», murmelte sie, öffnete eine Tür des breiten Einbauschrankes, der noch vom Vormieter stammte. Bingo! Die Wäsche der Neuen lag auf demselben Platz wie ihre damals. War eben 'ne Durchgangsstellung. Wenn die Neue Pech hatte, dann murmelte Steffen im Schlaf noch Miriams Namen: «Miriam, Miriam ...» Und die Neue ärgerte sich schwarz.
Dabei macht er es nur aus alter Gewohnheit. Das darfst du nicht so eng sehen, Schätzchen.
Sie nahm ein Höschen heraus und faltete es auf. Nicht schlecht, es gefiel ihr. Vor allem nicht billig. Sie riss daran, und irgendeine Naht platzte.
Sie hatte Steffen geliebt. Oder? War doch so, konnte man sagen, geliebt. Trotzdem hatte es ihr nichts ausgemacht, als sie sich trennten. Es stimmte schon, was er sagte, irgendwie war die Luft raus. Das Programm fing an sich zu wiederholen. Party, Kneipe, Sport und Vögeln. Kneipe, Sport, Vögeln und Party. Vögeln, Kneipe, Party und Sport. Nur die Reihenfolge bot Abwechslung. Auch sie hatte sich schon längst nach einem neuen Kick gesehnt. Es gab schließlich noch andere ziemlich nette Typen, die sie kennen lernte und auf die sie verzichtete, nur weil es ihn gab, diesen Durchschnittstypen, wenn man es genau betrachtete, von der Optik einmal abgesehen. Beruflich war er doch eher eine Null. Nie hatte er Kohle. Da gab es nun wirklich ganz andere. Warum aber kochte jetzt Wut in ihr? Warum war sie überhaupt gekommen? Was wollte sie eigentlich?
Da war ein Gefühl, nichts weiter, nur ein Gefühl ... und dieses Gefühl hatte Lust, das Bett aufzuschlitzen, die Wäsche zu zerreißen, die Pornos vom Balkon zu werfen. Kein Hass, das nicht. Warum auch hassen? Ihn etwa? Nein, nein. Kein großes Gefühl, keineswegs so absolut, so gewaltig. Mehr eine Laune, ja, eine Laune. Das Vergnügen, in die kleine Welt eines anderen zu pissen. Seine Duftmarke zu setzen. Ihm einen Denkzettel zu verpassen.
Ich hasse dich nicht, ich liebe dich nicht, du bist mir einfach scheißegal. Das empfinde ich noch für dich. Nämlich nichts. Aber ich will dir das sagen. Du sollst es wissen, verstehst du?
Sie könnte sich aus der Küche ein Messer holen und auf ihn einstechen, wenn er heimkam. So etwas wäre ein großes Gefühl: ‹Studentin ersticht Ex-Freund.› Eine andere würde die Schlagzeile in der U-Bahn lesen und darüber nachdenken, warum alle Menschen immer im Namen ihres Berufes handeln, ihrer Ausbildung. Dabei spielte sie doch längst mit dem Gedanken, das Studium zu schmeißen und etwas anderes zu machen. Keine Sprachen mehr, dafür gab es eh kaum Jobs. Natürlich würde sie Steffen nicht erstechen, das war nur ein alberner Gedanke. Sie sprang auf das Bett, hob ihren Rock und zog die Unterhose herunter. Sie ließ es laufen, mitten auf die zerwühlten Kopfkissen. Es erzeugte einen Flash in ihr, wie sie ihn noch nie beim Pinkeln erlebt hatte. Der Fleck unter ihr wurde größer und größer, aber er war kaum dunkler als der Bezug, fiel im Zwielicht des Raumes eigentlich kaum auf.
Na, dann legt euch mal gemütlich schlafen, ihr Süßen.
Sie musste lachen. So etwas hätte sie sich selbst nicht zugetraut. Dann stieg sie vom Bett, zog das Höschen wieder hoch und sah sich um. Das Fenster war gekippt. Sie öffnete es und lehnte es an. Davor war der Balkon. Einer könnte über den Balkon eingestiegen sein, weil er das offen stehende Fenster sah. Sie nahm ein paar von den DVDs mit; irgendetwas musste ja wohl gestohlen worden sein. Die Haustür sperrte sie wieder ab und den Schlüssel nahm sie mit. Sie lachte. Im Treppenhaus, an der Eingangstür, auf dem Weg hinunter zur U-Bahnstation. Schon um sich jetzt so zu fühlen, hatte es sich gelohnt.
«Du, da riecht es komisch, findest du nicht auch?»
«Ja, du hast Recht. Obwohl das Fenster offen ist.»
«Wieso steht eigentlich das Fenster offen?»
«Keine Ahnung ...»
Der Zug fuhr ein, hielt, Türen glitten zur Seite, Menschen drängten heraus. Neugierige Blicke trafen sie, weil sie lachte. Nicht grinste, nicht lächelte, sie lachte, sie konnte nicht aufhören. Wieder saß sie am Fenster, und wieder wurde ihr schwindlig, wenn ihr Blick hinaus auf die schnellen Lichtreflexe im Tunnel fiel.