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Anje Helms: Die Retterin 

Es ist mal wieder nachts, gegen halb zwei. Bin hellwach, meine Augen suchen den Raum ab, als ob sie hoffen, in der Dunkelheit eine Antwort zu finden. „Gedanken jagen einander, aber haben kein Ziel“. Konfuzius kannte das anscheinend auch schon. Vielleicht sollte ich einfach aufhören, kurz vor neun mit meiner Tochter schlafen zu gehen! Tief und ruhig atmet sie neben mir. Ihr kleiner Fuß schleicht sich hin und wieder auf meine Seite und kuschelt sich schlafwandlerisch in meine Kniekehlen. Ab und zu ein leichter Druck, als würde sie sich abstützen. Wahrscheinlich träumt sie wieder von dem türkisen Delfin, mit dem sie durch die Lüfte fliegt. Er ist so glitschig. Aber ihre Füße finden immer sicheren Halt auf seinen Seitenflossen. Immer mal wieder träumt sie von dem fliegenden Fisch, der ja eigentlich ein Säugetier ist. Aber das ist Nebensache. Bei gutem Wetter nimmt er sie auf einen Rundflug über die Stadt mit. Manchmal fliegt er sogar zur Villa Kunterbunt. Aber das ist ein langer Flug, auf dem er sich oft auf den Wolken ausruhen muss. Doch die meisten halten sein Gewicht nicht, und er flutscht einfach durch sie hindurch. Ein bisschen Angst hätte sie manchmal deswegen schon, im Traum. Aber auf seinem glitschigen Rücken könne ihr nichts passieren. Da sei sie sich ganz sicher.

Auf solche fabelhaften Träume kann ich nur neidisch sein. Ich bringe zurzeit nur Bodenständiges, Real-banales zustande: Neulich träumte ich von Thomas, mit nacktem Oberkörper und Baggyhose. Er schaute sich nach mir um, bevor er in den Bus einstieg, als ob er mich fragen wollte, ob mir seine Hose gefiele. Ich rollte mit den Augen: Wie konnte dieser wunderschöne Mann sich so einen Fehltritt erlauben? Vielleicht weil er im Traum etwa 17 war und damit halb so alt wie ich. Immerhin war er zehn Jahre älter als bei unserem ersten Treffen. Als Kinder saßen wir damals unter der Tischtennisplatte im Hobbykeller seiner Eltern und küssten uns. Nun aber, in diesem Traum, beäuge ich ihn kritisch - trotz seiner Schönheit und meiner Lust, ihn sofort und hier, irgendwo bei dieser Endhaltestelle am See, ausgiebig zu vernaschen. Aber allein sein Gang in diesen Hosen! Plötzlich taucht seine Mutter hinter mir auf. Er schaut sich um und wirft mir einen flehenden Blick zu. Wie kann man sich jemandem so nahe fühlen – und ihn gleichzeitig belächeln? Das war‘s. Nichts passiert mehr. Keine Liebesszene, kein Streit. Ich wache einfach auf. Ziemlich geil und Thomas beinahe greifbar vor Augen. Wir haben uns über 20 Jahre nicht gesehen.

Am nächsten Morgen rufe ich eine Freundin in Berlin an. Seit einem Jahr habe ich sie nicht gesprochen. Aber sie erscheint mir eine gute Übernachtungsmöglichkeit, falls der Abend mit meiner Tischtennisplatten-Liebe nach einem unverfänglichen Bier in der Kneipe enden sollte. Glücklicherweise hatte ich seinen Vater vor nicht allzu langer Zeit auf der Straße getroffen, der mir die wichtigsten Daten nannte. Zufall oder Schicksal: Thomas wohnte wieder in Hamburg. Aber arbeitete über der Woche als Manager in Berlin. Naja, und er sei verheiratet, das zweite Kind gerade auf der Welt. Egal, ich tue alles für ein bedeutungsvolles Wiedersehen.

Bedeutung. Ja. Schon mit 15 musste es irgendwie Tiefgang haben: Das harmlose Händchenhalten meiner Mitschüler ödete mich an: Eine Woche mit dem einen, nächste Woche mit dem anderen. Das pubertäre Rantasten, das nicht unter die Oberfläche drang. Diese Beliebigkeit und Unverbindlichkeit. Kinder waren das in meinen Augen. In der Nacht, als wir zum ersten Mal unsere Körper erforschten, war mein Gesicht noch feucht von den Tränen. Ich hatte einen furchtbaren Streit mit meiner Mutter gehabt, er holte mich nachts mit dem Fahrrad ab. Oh Gott, wie geil kann es sein, wenn Trost und Solidarität, Leidenschaft und erste Liebe zusammenfallen! Miteinander geschlafen haben wir nie!


Jetzt denke ich: Scheiß auf Bedeutung. Die bekomme ich nur, wenn ich jemanden retten kann. Wenn ich jemandem ein besseres Leben schenken kann – oder zumindest ein Kind. Und wenn ich ihn davon überzeugen muss, dass es nur mit mir gelingen würde, ihn also tüchtig erobern muss – wenn das alles der Fall ist, dann flammt etwas in mir auf. Dann begehre ich jemanden. Obwohl er ja ein armer Tropf ist. Was für mich dabei rausspringt, ist erst einmal Nebensache.
Nachdem die Rettungsaktion gelungen und ein Kind geboren ist, gibt es keinen Grund mehr zu helfen. Denn was gibt es Bedeutungsvolleres als ein Kind?

Was folgt, ist die tägliche Katastrophe: Nicht nur das Kind gedeiht prächtig, sondern auch sein Bauch. Beim Tanzen und beim Sex hält er mich auf Abstand, aus den Ohren sprießt Unkraut und sein Schwanz ist das einzige, was ich an ihm noch attraktiv finde. Doch um ein bisschen Sex muss ich betteln, weil sein Testosteronspiegel im Keller ist. Vorbei die Tage, an denen ich meterlange Emails geschrieben, mir Charaktere ausgedacht habe, gespickt mit schlauen Vergleichen, philosophischem Tiefgang und anregenden Zweideutigkeiten. Vorbei die langen Nächte, in denen man verschossen jeder Lippenbewegung nachgegangen ist, in denen man nebeneinander im Restaurant saß, weil man sich einfach berühren musste. Vorbei die absolute Geilheit, die sich die Evolution so schlau ausgedacht hat. Man lutscht und rammelt bis zur Erschöpfung, in der Täuschung, es würde nur um den anderen und vielleicht ein bisschen um sich selbst gehen, bis endlich eins dieser Millionen Spermien trifft. Dann ist alles dahin. Schon zu Beginn der Schwangerschaft hebt sich der Vorhang und man sieht plötzlich klarer: Es geht nur um diesen einen Zweck. Und ich bin überzeugt, dass ich ebenfalls nur deswegen auf Rettung programmiert bin. Einfacher geht’s bei mir nicht. Ein Umweg der Evolution. Hauptsache Ziel erreichen.

Der Frühling war für mich bisher meist der Herbst: In der dunklen Jahreszeit trifft man eher auf Hilfesuchende, Verzweifelte, Liebeshungrige, die gierig nach dem Rettungsring greifen. Sie möchten sich vor Anbruch des nächsten Jahres den lang unterdrückten Wunsch erfüllen, endlich neu anzufangen. Für mich leichteres Spiel als im tatsächlichen Frühling, wo sich viele zu einer Wiederholungsrunde aufraffen und der alten Liebe noch mal eine Chance geben. Voll sind die Cafés mit gutgelaunten Lebensdurstigen, die ihre Fühler bereitwillig ausstrecken und nicht überzeugt werden müssen. Kein Terrain für mich. Die balzenden Männchen, von denen immer mehr rosé tragen und die Luft mit ihren Wässerchen verpesten, könnte ich mir vor den Bauch binden. Zu offensichtlich sind mir ihre Blicke, die von Tisch zu Tisch wandern und im entscheidenden Moment gelassen und unnahbar tun.

Meine Zielgruppe ist modisch eher zurückgeblieben , etwas verwahrlost. Sie lungern in Buchhandlungen und Bibliotheken, quälen sich in dunkle Jazzbars und in die Wartezimmer der Psychologen. Wer so gestrickt ist wie ich, sollte an diesen Orten nach S.O.S.-Zeichen Ausschau halten: Zum Beispiel ein trauriger Blick ins Leere. Wer minutenlang fixiert und ansonsten keine Anzeichen sonstiger Anmache von sich gibt, ist sicherlich rettungsreif. Auch wenn sie entsprechenden Versuchen widerstehen wollen, weil sie glauben, sich ihrem Schicksal ergeben zu müssen. Die Annäherung muss stil- und taktvoll erfolgen, wie von selbst und nicht lanciert. Es versteht sich von selbst, dass Dating-Foren im Internet Brachland für Menschen wie mich sind: So viel Anbiederung, so viel leichte Beute.

Eigentlich müsste ich schon sechs Kinder haben! Denn so viele wollten auf meine Rettungsinsel. Aber anscheinend bin ich nicht so fruchtbar. Oder ich verbringe zu viel Zeit mit der mündlichen Sexart, die bekanntlich keine Kinder macht. Verwöhnender als mit dem Mund geht es doch gar nicht! Mir gibt es das Gefühl – na welches schon? – jemanden zu retten! Das hat doch etwas Mütterliches: Dem anderen etwas Gutes tun. Und etwas Mutter steckt doch in jedem von uns. Frauen, die sich aus mir unerklärlichen Gründen davor zieren oder sogar ekeln, sollten es mal so sehen.

Und dann gibt es noch einen dritten Grund, warum es bisher bei einem Kind blieb: Zu schnelle Eroberungen sind ein Bedeutungskiller. Oder zu viel Verbindlichkeit: „Ziehen wir zusammen?“ oder „Wenn wir dann Kinder haben, dann…“ Momentan kriege ich regelrecht Panik, wenn mir mein Freund so kommt. Weil er nicht gerettet werden muss, mein neuer junger Freund. Er ist ein unbeschriebenes Blatt, um einiges jünger als ich, keine Vergangenheit, keine Verletzungen, nichts zum Trösten oder Retten. Er will mich einfach. Aber das reicht nicht. Wie kindisch, wie ungerecht. Da legt jemand sein Herz auf den Tisch und man lehnt ab, weil es nicht weint und auch nicht gebrochen ist. Ein gutes, gesundes Herz. Zu gut für mich? Auf jeden Fall zu unkompliziert und damit zu langweilig.

Wie komme ich bloß da raus? Seit der letzten großen Rettungsaktion ist mir zumindest mein Vorgehen klar. Darum zwinge ich mich jetzt, nicht Schluss zu machen. Vielleicht kann dieses gute Herz mein verdrehtes retten? Ja, vielleicht lasse ich mich mal zur Abwechslung retten? Das riet mir die Psychologin. Gut gemeint, aber bis jetzt für mich nicht umzusetzen. Was meint sie damit? Wie soll er mich retten und wovor? Vor meiner zerstörerischen Art, die nach erfolgter Rettung wieder einen Hilfesuchenden zurücklässt? Psychologen, die solche Ratschläge geben, aber auf die Frage wie? nichts wissen, sollte man ad acta legen. Vor allem, wenn sie 100 Euro die Stunde kosten.

Also versuche ich es mit meinem neuen Freund. Der so gute Eigenschaften hat: Er spielt Klavier, tanzt Salsa, spielt Schach – das alles auf gutem Niveau und mit mir zusammen – und im Bett brauche ich ihm nichts beizubringen. Was will ich mehr? Scheiß auf Bedeutung! Was kann er dafür, dass er wie ein 19-jähriger Bankangestellter aussieht? Er braucht kein Kind, und keine, die ihm die Welt erklärt. Etwas mehr Gelassenheit könnte er vertragen: Wenn ich zum Beispiel schwarz fahre, zittern ihm die Knie. Oder wenn meine Tochter fröhlich auf ihrem Hüpfball durchs Zimmer hopst, mahnt er zur Ruhe und denkt vernünftig an das Wohl der Nachbarn. Entweder ich nehme ihn so verspießt - oder hoffe auf Besserung durch wachsende Souveränität mit jedem Jahr, das er älter wird. Oder ich erziehe ihm meine Lässigkeit an. Habe aber keine Lust auf Mutter-Sohn-Geschichte. Auch wenn ich schon mittendrin bin.

Vater-Tochter geht auch nicht mehr. Das war vorher. Obwohl der Vater erst Mann war, den es zu retten galt. Dann mutierte ich zur Tochter, zur Schülerin und er zum Besserwisser: Ständig hatte ich das Gefühl, meine Freunde verteidigen zu müssen: Egal, welches Argument sie zu einem Gespräch beitrugen – er hatte immer noch ein besseres. Und natürlich stets den letzten Satz. Nach seinen Monologen schaute man andächtig in die Runde. Seinen eigenen Freunden stand die Ehrfurcht ins Gesicht geschrieben. Aber das merkte ich erst, als der Rausch der Verliebtheit vorbei war und er seine Frau endgültig verlassen hatte.

Vielleicht aber hatte er Recht. Vielleicht bin ich kindisch und zu unreif für eine Beziehung, in der keiner den anderen retten muss. Oder jeder jeden, immer mal wieder. Vielleicht könnte ich viel lernen mit meinem neuen Freund. Der von Psychologie nichts wissen will und mir innbrünstig über Verbrennungsanlagen referiert. Das stört mich. Andererseits bewundere ich ihn für seinen Pragmatismus und seine Bodenständigkeit. Aber oft wundere ich mich darüber, was ihn so beschäftigt. Ist irgendwie eine andere Welt.

Thomas also, meine Tischtennisplattenliebe mit dem hoch dotierten Job in der Hauptstadt. Was würde es da schon zu retten geben? Höchstwahrscheinlich lebt er zufrieden mit Frau und Kindern. Aber neulich, als ich ihn zufällig traf, da schaute er so traurig und sehnsüchtig. Als ich ihn traf? Wir haben uns 20 Jahre nicht gesehen! Und vor 25 Jahren tauschten wir Kinderküsse im Keller seiner Eltern aus! Nee, aber neulich da habe ich ihn so dreinschauen sehen. Im Traum, diesmal keine Baggyhose an. Er war auch nicht mehr 17, und auch seine Mutter tauchte nicht auf. Er war Geschäftsmann und schmiegte sich mit offenem Hemd an meine Brüste. Da war nichts Fremdes. Nur dieses Gefühl, momentan die einzige zu sein, die genau richtig für ihn ist, der er vielleicht schon all die Jahre vermisst hat, ohne es zu wissen. Die in seinen Träumen auftaucht als Sexgöttin, gute Fee, gleichberechtigte Partnerin – und Mutter Theresa. Mein Gott, wir wären das ideale Paar. Und er? Was wäre er für mich? Ein Mann, den ich haben wollte, auch nach erfolgreicher Rettungsaktion. Weil er sich nicht gehen lässt, weil sein Testosteronspiegel nicht sinkt, weil er nicht klammert und ich ihn immer wieder erobern muss. Einer, der endlich mal im gleichen Alter ist, der sich nicht durch mich verjüngen muss, der nicht alles besser weiß, aber mich auch nicht kritiklos anhimmelt. Jemanden aus meiner Lebenswelt: Keinen 50Plus-er und auch keinen Studenten. Einen, dem man es nicht ansieht, dass er 100 Prozent da ist, wenn man ihn braucht. Vielleicht einen glitschigen Delfin, auf dessen Flossen man sich wider Erwarten abstützen kann. Morgen fahre ich nach Berlin. Und draußen fallen keine Blätter.