Ulrich A. Büttner: Satans Röhrling
Tatsächlich träumte Jakob häufig, er erwache als fremder Mensch in einem fremden Leben: inmitten eines tropischen Waldes, in den Slums einer asiatischen Metropole oder ausgesetzt auf grönländischem Packeis. Er traute dem Schlaf nicht. Zu seinen Ängsten gehörte es, definitiv in eine andere Realität einzugehen, die einen überwältigte, wenn man nicht aufpasste. Als er an diesem Sonntag auf den Balkon trat, betörte ihn die Frühlingsstimmung. Es klarte auf in der Alpenregion, der Wind brachte stürmische, aber laue Luft vom Atlantik, der Himmel füllte sich mit dem Gekreisch von Vögeln. Er nahm es als Omen; schon lange freute er sich auf die Begegnung mit der gut aussehenden Kroatin, die er im Waschraum der Wohnanlage kennengelernt hatte.Entsprechend war der erste Eindruck, als er im frisch gewaschenen Rolli erwartungsfroh klingelte, niederschmetternd. Ein dunkel gekleideter Typ, mit Halbglatze und Schnauzer, öffnete; schleppend sein Deutsch, schwer der Akzent. Und als er ihm in die düstere Diele folgte, dachte er nichts anderes, als dass man ihn gemeinschaftlich abmurksen wolle.
Bedrückten ihn auf dem Weg durch den Flur alptraumhaft Lemuren, so lebte er auf, als er die Küche betrat. Sonnenstrahlen erhellten das Inventar aus derben Schränken und Regalen. Seine Bekannte trug ein rot-schwarz gewürfeltes Kleid, das verführerische Brüste andeutete, und begegnete ihm mit entwaffnender Offenheit.
„Nur herein“ kommandierte sie und wischte die Finger an einem Tuch.
„Hallooo“ sagte er gedehnt, mit übertrieben positivem Tonfall. Sie antwortete in geläufigem Deutsch. Dabei präsentierte sie ein herbes, fast männliches Gesicht, und reichte ihm fröhlich die feste Hand.“
„Nenn mich Eva.“
Das kurze Haar verlieh ihr ein spitzbübisches Aussehen. Offensichtlich war sie eine praktische und sinnliche Person und ganz ohne Vorbehalte.
„Mein Bruder Milan“ stellte sie den anderen vor. „Er hat Pilze gebracht.“
Im Wohnzimmer saß ein zweiter Slawe in Jeans und Ledermontur, der als Djindjic bezeichnet wurde, ein Kerl mit wirren, pechschwarzen Haaren bis zur Schulter, der einem Tarkowski-Film entsprungen sein musste. Seine Anwesenheit irritierte ihn, zumal er nicht verstand, was die beiden Männer diskutierten. Sie redeten Deutsch, aber in fast unverständlicher Prägung. Es drehte sich um Stoßdämpfer, Motorengeräusche und Risiken bei Gebrauchtwagen - wie man bluffen und den Käufer austricksen könne. Dann sprachen sie über Sportwetten, verhandelten, ab wann eine Quote annehmbar sei, er verstand den Halbsatz „dass ihm der Klitschko eine auf die Nase haut, dass garantier ich dir.“
Sie schwiegen. Eva brachte Teller. Sobald sie verschwand rempelte ihn der vorgebliche Bruder, kneifte ihm in den Oberarm.
„Willst du sie ficken?“ fragte Milan und roch dabei nach Tabak und Alkohol. Als Jakob schwieg, fiel Djinjic ein: „Da wird er viel Arbeit haben, wenn er sie ficken will“ sagte er. Sie lachten, und dann schwärmten sie von Lollo Ferrari, die wegen ihrer ungewaschenen Dessous eine Ikone sei. Ein Bekannter habe alles von ihr, wenn er wolle, könnten sie zu dritt zu Ranko gehen, Video schauen und Schnaps trinken. Jakob versuchte ein Lächeln. Er fühlte sich unfähig, die Dinge des normalen Lebens zu begreifen, erinnerte sich an Schulpausen, in denen er sich abseits hielt, ermahnte sich aber, wenigstens das Mittagessen durchzuhalten.
Sie setzten sich an den länglichen Holztisch, und Eva lupfte den Deckel der Servierplatte. Darunter lagen vier mit Petersilie garnierte Omeletts und daneben, angebraten und paniert, weißliche und olivgraue Schirme, die nach Tabak rochen, so wie die beiden Sammler, die sie drüben im Perlacher Friedhof gefunden hatten. Während der Mahlzeit wurde er von Evas Zwinkern und Lächeln in ein Fluidum gezogen, das ihn an Kindertage erinnerte. Es war schön, mit den anderen hier zu sitzen, wo alles so nett für ihn vorbereitet war. Kaum hatten sie die Sprießlinge verzehrt, verzog sich Milan auf die Toilette und Eva, die abräumte, brachte den Schnaps. Mit dem ersten Glas fiel die Starre von Djindjic ab wie ein Mantel. „Sie ist gar nicht seine Schwester, sondern eine Schulfreundin“ raunte er ihm zu, in der Absicht, die Angelegenheit zu steuern. „Sie ist von ihrem Mann sitzen gelassen worden und ich habe sie aufgenommen.“ Jakob könne, wenn er nur wolle, die Zuneigung der jungen Frau gewinnen, falls er sich mit ihm, Djindjic, einige. Der Mann, der sie haben wolle, müsse sich zu einem festen monatlichen Unterhalt verpflichten, damit auch Djindjics Kosten gedeckt würden. Als Eva auftauchte, brach er plötzlich ab, dass sie unwillkürlich fragte: „Über was unterhaltet ihr euch?“
„Man nennt sie Röhrlinge“ sagte Jakob.
Jakob fühlte eine bebende, erotische Spannung; die Zeichen gegenseitigen Interesses waren nicht zu übersehen. Auf keinen Fall wollte er jetzt ablassen und schlug vor, anschließend ins „Wiener’s“ zu gehen, sein Lieblingslokal an der Thomas Deler Straße, und da Eva sich zierte, was man denn über sie denken möge, wenn sie in Begleitung von lauter Männern da aufkreuze, versprach er, sie einzuladen, überhaupt könne sie ja nachkommen, man treffe sich eben rein zufällig, und nach all dem Gezerre willligte sie ein und verschwand im Badezimmer, um sich schick zu machen.
Das Wiener’s hatte vor allem den Vorteil, das es in unmittelbarer Nähe lag. Obgleich er jetzt auf den wenigen Metern jämmerlich schlingerte leuchteten seine Augen hoffnungsvoller und träumerischer denn je, so dass sich zwei Passanten nach ihm umdrehten und sogar lachten.
Sie setzten sich unter einen Kupferstich, der Prinz Eugen von Savoyen abbildete hoch zu Ross in der Schlacht. Jakob bestellte für sich und Eva - wodurch der Schwindel mit dem zufälligen Treffen von vorneherein aufflog - bei dem adretten Fräulein Obstkuchen mit einer wuchtigen Portion Schlagsahne. Milan und Djindjic hatte der Brunch offensichtlich nicht ausgereicht; auch ließen sie keinen Zweifel, dass sie nichts von Evas Kochkünsten hielten. Sie verlangten nach Gegrilltem, und, nachdem die Bedienung den Kopf schüttelte, eine Portion Pommes, sie wurden, als sie auf Unverständnis stießen, mürrisch, wollten eine Cola, sonst nichts.
„He, he, willst du uns nicht einladen?“ rief Djindjic erbost.
„Bin in diesem Monat knapp“ räusperte sich Jakob.
„Eva sagt, du hast Arbeit“ beharrte Gingic
„Fährst du Lastwagen?“ fragte Milan.
„Nein, ich...“ holte er aus, aber da war es schon zu spät. Der Schimmel bewegte sich und der Prinz schwenkte den Hut in den Saal hinein; reliefartig verdickte sich das Bild, verdünnte sich, als ob die Farbe darauf fllüssig sei und hin und her schwappte. Damit fing es an.
Die Hände zartgeformt und schmal, und große rehbraune Augen über den weichgeschnittenen Mund, konnte man ihn fast anmutig nennen, wehselig wirkte er, fast weiblich, wie er auf dem Stuhl saß und Kuchen in sich hinein schaufelte. Hände und Nase an die Scheibe gepresst, um besser spionieren zu können, klopfte nun Eva im pinkfarbenen Mantel, bewaffnet mit einem winzigen Täschchen, und winkte von außen. Als sie zu ihnen stieß empfand er außerordentliche Beklommenheit. Er hielt die Pupillen starr auf sie gerichtet ohne über mehrere Minuten auch nur ein Wort zu sagen.
„Deine Augen sind entzündet“ meinte Eva scherzend.
Wie angenehm sie sprach und wie ihre dunkle Stimme ihn berührte. Jakob trank einen Schluck und die Backen röteten sich vor Aufregung.
„Was sehen meine entzündeten Augen...?“ plapperte er hirnlos. Ihn faszinierte weniger das Dekollete, in dem sich, noch üppiger als zuvor, der Busen senkte und hob. Vielmehr verlor er sich in den Mustern ihres schwarz-rot gewürfelten Kostüms als sei es eine tiefe, kosmische Erfahrung. Hatte sie gerade über Entzündungen gesprochen?
Dann sah er die wässrig-blauen Augen von Milan vor sich, zwei Löcher im Eis, die nichts anderes ausdrückten als kalte Gier. Und wirklich, er zog einen Schein aus der Börse, breiter und bunter als jedes Zahlungsmittel, das Jakob zuvor gesehen hatte. Auf dem Papier war eine Eins mit sechs Nullen abgelichtet.
„Wenn du nach Kroatien kommst, zusammen mit Ewa, dann braucht ihr Geld. Dieser Schein ist ein Vermögen wert, aber ich gebe ihn dir für dreihundert Euro.“
Jakob erkannte, dass es sich um Geld der untergegangenen Republik Jugoslawien handelte. Nicht, dass er die Gaunerei intellektuell durchschaut hätte; er lehnte ab, weil ihn die permanente Störung nervte. Konnten sie ihn und Eva nicht einfach in Ruhe lassen?
Allmählich verschattete Unmut die fabelhafte Stimmung; Milan merkte, dass mit dem Deutschen kein Geschäft zu machen war. Als er die Börse aufklappte, ließ er ein Foto sehen.
„Nein, nicht zeigen“ schimpfte Eva und lärmte in ihrer Sprache. Auf dem Bild, das Jakob kurz wahrnahm, trug sie eine hellbeige Hose mit aufgesetzten Taschen am Bein.
„Sie war früher ein Mann“, behauptete Milan. „Und sie hat einen riesigen Schwanz.“
Darauf erhob sich Streit unter den beiden, der auf kroatisch geführt wurde.
„Merkst du nicht, dass du verarscht wirst?“ klinkte sich Djindjic ein.
„Er ist ein Idiot“ sagte der andere.
Dass man ihn vor einer Frau beleidigte, brüskierte Jakob. In der Luft hing der beißende Geruch von Zigaretten. Er spürte diesen scharfen drängenden Schmerz, der bis in den Hals reichte und versuchte, ihn zu schlucken. Aus dem weiten, schlaff herabhängenden Rollkragen ragte der Hals wie eine Tulpe aus der Vase – schmal und zerbrechlich. Man sah, wie sich die zarten Adern über der Kehle bewegten. Seine Hand zitterte. Die Tasse entglitt und die Hälfte des Kaffees floss über die Tischdecke, färbte sie bräunlich.
„Sakrament“ ärgerte sich Milan und fuhrwerkte mit der Serviette. „Budala! “ rief er. „Ludak!“
„Das kann jedem passieren“ beruhigte Eva. Das adrette Fräulein kam herbeigestürzt, räumte den Becher weg und wedelte mit dem Lappen.
Dann geschah es. Mitten im Gespräch legte Jakob die Serviette beiseite, schraubte sich vom Stuhl hoch und trat tastend ans Fenster. Da war ein Spaziergänger, der seinen Kopf schräg legte, ein Hundehalsband am Knöchel, und tröstende Worte sprach, eindringlich durch die Scheibe hindurch.
Was denn sei, wollte zornig der Bruder wissen.
„Da!“ wisperte er tonlos. „Schau!“ Und er sah blicklos auf die Straße.
Nun wurde Milan doch recht ungehalten und schrie zum Fenster hin, er würde jetzt nicht hinausschauen, sondern Cola trinken.
Indes, die Scheibe kräuselte sich an der Oberfläche, verfloss. Jakob presste die Hand dagegen... und siehe, sie wölbte sich zart und fließend über seine Finger, durchlässig in beide Richtungen.
„Was ist denn“, brüllte Milan ärgerlich. Verwundert, aber auch irgendwie abgebrüht schaute Eva von ihrem Obstkuchen auf. Nun doch neugierig und im untersten Bewusstsein zornig, trat Milan auf ihn zu.
„Na ja“ deutete Jakob auf einige Bäume, die in kahler Tristesse des Frühlings harrten.
„Was denn?“ rief er.
„Mensch“ sagte tonlos Jakob, der noch kleiner wirkte als sonst und sekündlich schrumpfte.
„Was Mensch? Freilich Mensch!“ fuhr Milan ihn grimmig und ungehalten an.
„Mensch“ wiederholte Jakob hilfesuchend. Er war bleich, viel bleicher als gewöhnlich.
Freilich seien hier Leute auf der Hauptverkehrsstraße, schrie Djindjic grob vom Tisch aus.
„Jawohl“ flüsterte delikat Jakob, drehte sich um und stelzte an den Platz zurück, blass bis zur vollkommenen Transparenz, ja Körperlosigkeit. Dort plumpste er auf den Stuhl und bestellte Wasser.
Sie reichte ihm einen Handspiegel und da sah er, dass sich sein Gesicht violett verfärbt hatte. „Unrealistisch, die ganze Situation“, dachte er und haute den Spiegel mit Karacho auf die Tischkante, verwundert, dass das Glas auch wirklich zersprang. Auf diesen neuerlichen Eklat hin kam das adrette Fräulein geeilt; diesmal meuterte sie, schimpfte in unflätigem Bayerisch. Er zahlte Getränke und Speisen, auch für Milan und Djindjic. Sie verließen das Lokal, damit er Luft schnappen konnte.
Die beiden Typen stritten eine Weile miteinander, sie gaben an, bei Ranko vorbeischauen zu wollen, dann liefen sie zur U-Bahn. Jakob ließ sich von Eva unterhaken. Als sie ihn zum Gebäude schleppte, gewann er die Fassung. Er war ein sanfter, sensibler und liebenswürdiger Mensch. Er spürte ein Glühen in sich aufsteigen, das seine Wangen erreichte und dort brannte. Sie lachte, und ihr Lachen war leicht und ungezwungen. Wenn es der Atmosphäre entsprach, war er zu jeder Kehrtwendung bereit. Sie drängte sich eng neben ihn, sobald sie das Appartment erreichten. Die bunten Lichter des Flurs, woher kamen sie plötzlich, drehten sich, er hatte das Gefühl, auf einem Karussel zu stehen, in dem alle Gegenstände an Spielzeuge erinnerten, vom Garderobenständer bis zum Spiegel. Tand, der überall in der Welt feilgeboten wird, kreiste um ihn wie ein Schwarm Fliegen, und dann blieb nichts außer dem Imaginären.
Der Rest der Geschichte mochte an ihm vorbeigezogen sein wie eine Achterbahnfahrt, jedenfalls wollte er später einmal in Ruhe darüber nachdenken. Als er aus seinem Blackout erwachte, mit ihr zusammen auf der Couch liegend, spürte er eine blinde und leidenschaftliche Hingabe.
„Warum lebst du allein“ fragte Eva und schob etwas unter ihrem Kleid herum, das an Plastikeinsätze erinnerte.
„Bislang hat mir die richtige Frau gefehlt. Aber das kann sich ja ändern.“ Er lachte verlegen, erklärte stammelnd, dass er sich verabschieden müsse. Sie ging zu einer Offensive der Rührseligkeit über, erläuterte dem Gast ihre schwierige materielle Lage, die sie zwinge, hin und wieder etwas Unanständiges zu tun, aber das könne ihr Gefühl für Ehre und Anstand nicht erschüttern. Es habe ihr außerordentlich Spaß gemacht mit ihm, sie bedanke sich für seine Großzügigkeit. Er solle sie jedoch nicht unangemeldet besuchen oder ihr im Gebäude auflauern. Jakob horchte ganz erschüttert, der Ton ihrer Stimme, dieser dunkle, feste und nachdenkliche Ton berührte ihn.
„Nimm dich vor Milan und Djindjic in acht. Das sind Schläger. Die ticken nicht richtig.“
Er torkelte zu seiner Wohnung, überrascht, dass er den Schlüssel in der rechten Hosentasche fand. Kaum war das Licht verlöscht, packte ihn Heidenangst am Schlafittchen. „Das war ein Satansröhrling, von Anfang an giftig“ sagte er ins Dunkel. Voller schwerer Gedanken trat er auf den Balkon hinaus. Um ihn herum dämmerte die Satellitenstadt mit Tausenden von Lichtern, die vorfabrizierte Zellen illuminierten. Sein Blick fiel auf die Hochhausbauten, die sich zu gigantischen Buchstaben formierten, ganz so, als seien es Puzzleteile einer bröckelnden Botschaft.