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Sarah Gahlen: Frühlingsmorgen 

Es ist schon hell, aber am dunstigen Himmel ist die Sonne ist noch nicht richtig zu sehen. Man kann ahnen, wo sie über dem Hügel aufgehen wird, ein helleres Leuchten im trüben Weißgrau des Morgens. Es ist kühl, und es ist, als läge die Kälte wie ein feiner weißer Schleier über den Wiesen, und doch ist es Frühling. Die Sträucher sind noch kahl, aber sie haben Knospen, klein und von einem blassen Hellgrün, und im taunassen Gras sieht man hier und dort noch nicht ganz aufgeblühte Schneeglöckchen.
Alles ist feucht und wie überzogen mit einem Schleier aus winzigen Tautropfen, und das Gras ist naß. Lelia friert ein wenig in den Kleidern, die sie gestern abend für die Party angezogen hat, alles erscheint ihr unwirklich im kühlen, dunstigen Morgen, sogar die Vorstellung, daß sie sich gefreut hat auf diese Party, tagelang.
Das Haus von Caros Eltern liegt am Ortsrand, es sind fünf Kilometer bis zu dem Bahnhof im nächsten Ort, und am Sonntag fahren keine Busse. Die anderen schlafen sicher noch, mit Schlafsäcken auf den Matratzen auf dem Dachboden des Hauses, aber Lelia ist früher wach gewesen. Sie ist einfach aus dem Haus gegangen und hat sich auf den Weg zum Bahnhof im Nachbarort gemacht. Man kann das erste Stück bis zur Landstraße über die Wiesen abkürzen, und sie hat es nicht ausgehalten auf der Matratze auf dem ausgebauten Dachboden, sie hat sich einfach hinuntergeschlichen und das Haus verlassen. Sie wird Caro eine Textnachricht schicken, wenn sie am Bahnhof auf den Zug wartet. Niemand wird sie vermissen, die anderen schlafen lange.
Es gibt einen grasbewachsenen Weg, der vom Ortsrand den Hügel hinaufführt, zwischen den Stacheldrahtzäunen der Wiesen. Im Sommer stehen dort Kühe, aber es ist noch zu früh im Jahr, die zertretenen, grasbewachsenen Flächen sind leer. Hier und da säumt ein Strauch den Weg, und auf den Wiesen stehen ein paar einsame Bäume, die noch kahl sind. In den Gräben, die sich hier und dort durch die Wiesen ziehen, steht das Wasser und spiegelt das Weißgrau des Himmels.
Das Gras auf dem Weg hat Lelias Schuhe längst völlig durchnäßt, sie trägt Ballerinaschuhe aus glänzendem Stoff, und sie hat sie schon im Geschäft albern gefunden, schwarze Ballerinas mit pinkfarbenen Sternen, aber sie hat sie gekauft. Alle ihre Freundinnen haben solche Schuhe. Ihr Rock fühlt sich zu kurz an, obwohl er sich gestern auf der Party zu lang angefühlt hat, bis knapp zu den Knien, während Caros Rock ihre makellosen Oberschenkel hat sehen lassen. Aber heute morgen ist sie dankbar, daß der schwarze Stoff ihr zumindest bis zu den Knien reicht.
Sie rückt im Laufen den Rucksack und die Hülle mit dem zusammengerollten Schlafsack darin zurecht, es ist unpraktisch, beides so zu tragen, der Rucksack drückt, und die dünne Schnur der Schlafsackhülle schneidet ihr in die Finger, aber sie bleibt nicht stehen, um die Hand zu wechseln, sie weiß, daß die Schnur in der andere Hand genauso schnell wehtun wird.
An den Zweigen eines Strauchs neben dem Weg sieht sie Weidenkätzchen, der Anblick des grauen Pelzes lockt, sie abzupflücken. Lelia bleibt stehen und hat schon die Hand ausgestreckt, aber dann verzichtet sie doch lieber darauf und fühlt nur mit den Fingern darüber. Der samtige Pelz ist warm, es fühlt sich lebendig an, wie das Fell von Caros Kaninchen, das sie früher gehabt hat und das sie an ihren kleinen Bruder weitergegeben hat, weil sie jetzt fünfzehn ist und andere Dinge im Kopf hat; wie die Party, zu der alle ihre Freundinnen und eine Reihe von Jungen eingeladen waren, das hat es so aufregend gemacht, eine richtige Party, und es kommen auch Jungen.
Lelia biegt den Zweig mit den Weidenkätzchen zu sich herunter und läßt ihn über ihre Wange streicheln, ehe sie ihn zurückschnellen läßt und langsam weitergeht. Robert war auch auf der Party, aber er ist später gekommen und lange vor dem Ende wieder gegangen, und er hat kein Wort mit Lelia gewechselt, aber sie war nicht enttäuscht, auch nicht, als er erst mit Caro und dann mit Eileen getanzt hat, sie weiß nicht einmal richtig, ob sie ihn mag. Er kann nett sein, sie mag sein Lächeln, aber sie mag es nicht, wie er manchmal einfach lacht, ohne zuzuhören, und dann sagt sie sich auch, daß sie ihn eigentlich gar nicht kennt, sie gehen in die gleiche Klasse, aber sie sprechen nie miteinander. Sie will sich nicht an ihn heranwerfen wie Caro oder Susanne, sie weiß, daß die anderen sie für schüchtern halten, und sie malt sich gerne aus, wie schließlich doch jemand merkt, wie sie wirklich ist. Es müßte sich nur jemand die Mühe geben, sie richtig kennenzulernen, aber meist weiß sie selbst nicht, wie sie eigentlich ist.
Es ist leichter, mit gesenktem Kopf zu laufen, Lelia sieht auf ihre Füße und den Weg, sie läuft gerne, sie mag Spaziergänge, aber auch das ist etwas, das sie nicht erzählt, es ist einfach nicht richtig, Spaziergänge zu mögen, wenn man fünfzehn ist. Sie weiß auch nicht, was sie den anderen sagen soll, wenn sie am Montag gefragt wird, warum sie ganz alleine fünf Kilometer zum Bahnhof gelaufen ist, sie wird sich etwas ausdenken müssen.
Der Weg wird ein wenig steiler, Lelia blickt auf und sieht, daß sie es fast bis auf den höchsten Punkt des Hügels geschafft hat, und sie weiß, daß man von der Hügelkuppe aus schon die Straße sehen kann, die in den Nachbarort führt. Sie atmet ein wenig auf, natürlich weiß sie, daß sie mit Leichtigkeit fünf Kilometer laufen kann, aber trotzdem ist es ein seltsames Gefühl, so früh morgens allein unterwegs zu sein. Es macht ihr ein wenig Angst, daß es so kalt ist in den dünnen Kleidern und daß niemand weiß, daß sie sich allein auf den Weg gemacht hat. Sie weiß, daß sie warm bleibt, solange sie läuft, sie weiß, daß sie sich nicht verirren wird, sie hat ein Handy dabei. Wahrscheinlich ist es nur so ein seltsames Gefühl, weil niemand von den anderen es tun würde.
Sie erreicht die Hügelkuppe, unter ihr breitet sich der sanfte Hang aus, und an seinem Fuß die Straße, ein graues Band im blassen Grün der Wiesen. Man hat das Gefühl, weit sehen zu können, und dabei ist es nur die Kuppe eines sanften Hügels in der Landschaft, und es ist ein trüber Morgen. Lelia wirft einen kurzen Blick über den Himmel, der helle Schein, hinter dem sich die Sonne verbirgt, steht schon höher am Himmel, und wenn man genau hinsieht, kann man erkennen, daß das Leuchten ausreicht, um den Tau im Gras und an den Sträuchern funkeln zu lassen, zumindest ein wenig. Sie atmet tief ein, ehe sie Rucksack und Schlafsack fester faßt und weitergeht.
Es ist leicht, bergab zu laufen, aber die Füße rutschen unangenehm in den nassen Schuhen, und nach ein paar Schritten streift Lelia sie kurzentschlossen ab, hebt sie auf und geht barfuß weiter. Sie hat gestern eine Strumpfhose getragen, aber wegen der Laufmaschen darin hat sie darauf verzichtet, sie wieder anzuziehen, und jetzt sind ihre Beine von den Knien abwärts bloß. Natürlich ist es zu kalt dafür, aber es fühlt sich natürlicher an, barfuß den Feldweg hinunterzulaufen, und natürlich frieren ihre Füße auch nicht mehr als in den nassen Schuhen. Das Gras ist glatt und kühl, und nur hin und wieder spürt sie einen Stein oder Ast oder die Unebenheiten der Grassoden unter den Füßen.
Schon gestern abend auf der Party hätte sie gerne die Schuhe ausgezogen, als sie vom Herumstehen und vom Tanzen weh getan haben, aber natürlich hat sie es nicht getan, denn Susanne hat auch nicht ihre Schuhe ausgezogen, obwohl ihre Füße schon tiefrote Striemen hatten von den Riemen. Während sie durch den Morgen wandert, barfuß durch das Gras, fragt sich Lelia, warum sie sich auf die Party gefreut hat und warum sie überzeugt war, es müsse etwas Besonderes passieren. Sie hat mit René getanzt, mit Kevin, sie hat gewußt, daß Robert nicht mit ihr sprechen wird, und die Musik war sowieso zu laut, um sich zu unterhalten. Sie ist nach draußen gegangen, um sich abzukühlen von der Hitze im Partykeller und um den Jungen beim Rauchen zuzusehen, und sie hat mit den anderen geredet und gelacht. Sie haben getrunken, heimlich, und nur wenig, aber es hat sie schwindlig werden lassen und dann wieder nüchtern draußen auf der Kellertreppe, und ihre Füße haben wehgetan, und sie war müde und alles hat sich sinnlos angefühlt. Sie hat viel erwartet von diesem Abend, aber sie könnte nicht einmal sagen, was es nun einmal ist, was hätte passieren sollen. Wenn die anderen sie fragen, wie es ihr gefallen hat, wird sie begeistert tun, aber es hat ihr keinen Spaß gemacht. Wenn sie ehrlich ist, muß sie zugeben, daß der einsame Spaziergang durch den dunstigen Morgen, barfuß durch das Gras und mit dem unförmigen Rucksack auf den Schultern, ihr mehr Freude macht als der letzte Abend.
Unten am Ende des Hanges erreicht sie die Straße, und sie wendet sich nach rechts auf den schmalen, asphaltierten Fußgängerweg, nur kurz innehaltend, um ihre Schuhe zu Boden zu werfen und sie wieder anzuziehen. Das Laufen geht leicht auf dem Asphaltweg, sie schätzt, daß es noch zwei oder drei Kilometer sein müssen bis in den Ort.
Die Straße ist nicht sehr befahren, aber ein wenig Verkehr ist doch unterwegs. Da ist nur der kleine Bordstein zwischen dem Fußweg und der Straße, und die Autos auf ihrer Seite kommen von hinten, und sie fahren mit der Geschwindigkeit der Landstraße an ihr vorbei. Sie gibt sich Mühe, einfach weiterzulaufen, aber bei dem Lastwagen, der viel zu dicht an ihr vorüberrauscht, zuckt sie doch zusammen und ärgert sich im nächsten Moment über sich selbst. Zwischen den Feldern und den Weg verläuft ein Straßengraben, es steht Wasser darin und hält sie davon ab, einfach am Feldrand entlangzugehen anstatt an der Straße.
Geistesabwesend läuft sie weiter, bis sie hinter sich ein Auto hört, das verlangsamt und im Schrittempo herankommt, sie will es erst ignorieren, aber natürlich dreht sie sich dann doch um. Es ist ein silbernes Auto, ein Mittelklassewagen, er sieht teuer aus, sie kennt sich nicht gut aus mit Autos, und es sitzt nur der Fahrer darin, sie kann es deutlich sehen, als das Auto schließlich neben ihr anhält und das Beifahrerfenster heruntergleitet.
Sie bleibt stehen, ihr erster Gedanke ist, daß es jemand ist, den sie kennt, denn wer sollte sonst für sie anhalten, aber sie hat den Fahrer, der sich im Innenraum ein wenig zur Beifahrerseite hinüberneigt und zu ihr hochsieht, noch nie gesehen. Er sieht jung aus, aber sie findet es schwer, sein Alter zu schätzen, weil er so ordentlich und seriös wirkt, unter dem grauen Wollpullover sieht der Kragen eines weißen Hemdes hervor, und sein Lächeln ist zwar freundlich, aber irgendwie still, ein Lächeln, das man leicht übersieht. "Guten Morgen", sagt er ruhig. "Hast du es noch weit?"
Lelia schüttelt den Kopf und weiß nicht, was sie tun soll. Natürlich kennt sie die Geschichten von Entführungen, sie weiß sogar, was sie tun müßte, ihm sagen, daß er weiterfahren soll, und weglaufen, wenn er es nicht tut. Aber es kommt ihr unglaublich albern vor, als sie sich vorstellt, es zu tun. Sie hat keine Angst.
"Nein", sagt sie. "Nur bis in den Ort. Vielen Dank." Sie faßt den Riemen des Rucksacks, um weiterzugehen, aber sie tut es nicht, als er antwortet.
"Das sind drei Kilometer."
"Ich weiß, wie weit es ist. Ich schaffe das schon", sagt sie entschlossen, nicht, weil sie ihm Entschlossenheit vorspielen möchte, wie man es ihr für solche Situationen empfohlen hat, sondern weil sie weiß, daß auch den Rest des Weges ihr nicht schwerer fallen wird.
Er greift in die Mittelkonsole und nimmt ein Handy aus der Halterung, macht damit eine kurze, auffordernde Bewegung in ihre Richtung. "Möchtest du nicht lieber jemanden anrufen, damit er dich abholt oder dir entgegenfährt?" fragt er. Seine Stimme hat einen ruhigen, nachgiebigen Tonfall, sehr geduldig, und sie versteht, daß er glaubt, sie läuft weg oder ist in Schwierigkeiten. Sie lächelt kurz. "Nein, danke", sagt sie. "Ich habe selbst ein Handy. Ich laufe wirklich nur zum Bahnhof und nehme den Zug nach Hause. Ich brauche keine Hilfe. Vielen Dank."
Er zögert, und steckt das Handy wieder zurück, ehe er zu ihr hochsieht. Er zögert kurz, aber dann sagt er es doch.
"Ich fahre in diese Richtung. Ich kann dich mitnehmen – wenn du willst, natürlich nur."
Er wartet ab, sie kann aus seiner Stimme herauslesen, daß er nicht erwartet, daß sie annimmt, und nun ist sie es, die zögert. Sie weiß, daß sie es nicht tun sollte, auch nicht, wenn sie sich ganz sicher ist, daß er wirklich nur helfen will. In ein fremdes Auto zu steigen, ist das Gefährlichste, was man tun kann. Sie hat keine Angst davor, den Rest des Weges zu laufen, sie braucht keine Hilfe, aber da ist auch jener Teil von ihr, der sich fragt, warum sie nicht annehmen sollte, der sich angezogen fühlt davon, daß jemand ihr helfen will. Sie tritt einen Schritt näher, so daß sie besser in das Auto sehen kann, es muß ziemlich neu sein, sie kann den Geruch nach ungenutzten Polstern und Kunststoff wahrnehmen, und sie spürt die Wärme des Innenraumes, während der Fahrer geduldig darauf wartet, daß sie antwortet.
"Ja", hört sie sich sagen. "Warum nicht. Vielen Dank."
Er sieht überrascht und für einen Moment fast erschrocken aus, aber dann lächelt er wieder sein stilles Lächeln und öffnet ihr mit dem ausgestreckten Arm die Beifahrertür. Sie steigt ein, es ist warm im Auto, die Polster sind warm an ihren bloßen Beinen, und erst als sie die Tür zufallen läßt und die kalte Luft ausschließt, wird ihr klar, wie kühl der Morgen ist. Sie schiebt den Rucksack und den Schlafsack im Fußraum zurecht. Das Autoradio läuft, ganz leise, sie kann nur hören, daß es klassische Musik ist.
"Vielen Dank", sagt sie nochmals, und es läßt den Fahrer lächeln, als er nach links blickt, den Blinker setzt und wieder anfährt.
"Keine Ursache", und er lächelt ihr kurz zu, nur ganz flüchtig, ehe er wieder auf die Straße sieht und sich vorstellt. "Nicolas Andrath."
"Lelia Jacoby", sagt Lelia und weiß, daß sie keine Gelegenheit haben werden, sich mit Namen anzureden, aber sie ist trotzdem froh, daß sie weiß, wie er heißt. Er fährt ganz ruhig, sieht nach vorn und nur hin und wieder in den Rückspiegel, sie sieht ihm von der Seite aus zu, sein Profil gegen das Bild der vorbeihuschenden Wiesen jenseits der Scheibe, das Lächeln ist still, aber dafür ist es immer auf seinen Lippen. Ihr fällt nichts ein, was sie sagen könnte, aber sie ist auch damit zufrieden, zu schweigen; es ist kein unangenehmes Schweigen, und als er doch einmal zu ihr hinübersieht, lächeln sie beide, gleichzeitig, ohne daß einer den Anfang machen muß.
Schnell gleitet draußen das gelbe Ortsschild vorbei, und dann fahren sie auch schon die verschlafene Hauptstraße des Ortes hinauf und das Auto biegt auf den leeren Bahnhofsvorplatz ab und hält.
"Vielen Dank", sagt Leila und sammelt die Riemen ihres Rucksacks und ihres Schlafsackes, während sie mit der anderen Hand die Beifahrertür öffnet. "Das war wirklich sehr nett von Ihnen."
"Keine Ursache." Nicolas macht eine kurze Kopfbewegung zum Himmel, wo über dem Bahnhofsgebäude die Sonne als heller Fleck zu sehen ist. "Es ist ein schöner Morgen, aber für einen Spaziergang bist du einfach nicht warm genug angezogen." Er lächelt wieder, und Lelia lacht leise und freut sich, daß er den Morgen auch schön findet, daß sie beide in einem trüben Morgen etwas sehen können, das nicht viele sehen. Es gibt ihr das Gefühl von Verbundenheit, das sie den ganzen letzten Abend nicht gespürt hat.
"Auf Wiedersehen", sagt sie, während sie aussteigt und mit ihren beiden Bündeln über den Bahnhofsvorplatz geht. Sie ist froh, und sie hat das Gefühl, daß ihr etwas Besonderes passiert ist, als sie aus den Augenwinkeln sieht, wie das silberne Auto wendet und die Straße hinauffährt.