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Richard Schuberth: SMS-Gewitter im Resselpark 

Es ist Frühling. Bataillone von Hyazinthen, Tulpen und Krokussen haben über Nacht in Verkehrsinseln Stellung bezogen und verwirren Autofahrer mit ihrer lackierten Buntheit, von den Ästen sprießt zartes Grün und Markus ist verliebt.
Mit strahlendem Gesicht flaniert er durch die Karlsplatzpassage. Er sieht in seinem neuen rehbraunen Kaschmirmantel so aus, als wäre er gerade aus der Bügelmaschine gefallen. So verliebt ist er, dass er nicht einmal die Preisplakette merkt, die aus seinem Ärmel hängt. Aber daran hätte auch schon Simone denken können, als sie ihm den Mantel schenkte. Sportlich braun ist sein Teint und das schwarz gefärbte Haar ausnahmsweise zur Seite gescheitelt. Ein bisschen erinnert Markus an die zuckrig glänzenden Tenöre aus der Blütezeit des Belcanto.
Plötzliches Unbehagen trübt seine Euphorie, als er die vielen Junkies erblickt, die aus der Passage in Richtung Resselpark gewandert sind, um ihr Gift mit Sonnenstrahlen anzurühren. Markus hemmt seinen Schritt, reckt den Kopf vor ? und weiß nicht recht, ob er über die Stiege zur Wiedener Hauptstraße ausweichen soll. Das hat seinen Grund. Man hat ihm nämlich zugesteckt, Tanja treibe sich neuerdings auf der Straße herum. Und diesmal nicht als Sozialarbeiterin.
Nie hätte Markus gedacht, dass sie nach ihrer Trennung so tief sinken könnte. Und längst hat er es aufgegeben, sich durch sein schlechtes Gewissen erpressen zu lassen, zumal er bereits genug darunter litt, zu wenig darunter zu leiden.
Doch das ist Vergangenheit. Menschen lieben eben mit unterschiedlicher Intensität. Niemand dürfe aber deshalb glauben, mehr zu lieben als der andere oder ihm geringere Liebe vorwerfen. Und letztendlich ist doch niemand füreinander verantwortlich. Was kann Markus denn dafür, dass er dieses luftige, leichte Naturell besitzt? Es war eine schöne Zeit mit Tanja, bis vor einem halben Jahr eine gewisse Simone in sein Leben trat und eine noch schönere, eine neue Zeit versprach.
Simone hat ihn von seiner Heroinsucht weggebracht und überdies den schönen Kaschmirmantel geschenkt, den er sich jetzt keinesfalls von Tanja mit dem lange gesammelten Rotz ihrer Rache bespucken lassen will.
Am geschlungenen Pfad der Liebe bleiben eben Leichen zurück. Das war schon immer so und wird auch immer so sein. Von einem moralischen Standpunkt aus betrachtet war Markus’ rascher Partnerwechsel vielleicht eine Sauerei, aber genau das reizt den Ästhetizisten in ihm, für den er sich hält. Mit diesem Bewusstsein schöner Grausamkeit macht sich Markus nun Mut, die Junkiemeile vor dem Resselpark beinahe in Zeitlupe zu durchmessen und nicht ängstlich und steif geradeaus zu blicken, sondern die palavernden, knieweichen Gestalten mit gütiger Nachsicht zu mustern ? wie ein mit göttlicher Sendung gegürteter Potentat, der im Wissen um seine Unantastbarkeit sich durch das Straßenleben seiner Untertanen schiebt. Nur noch zwanzig Meter und er ist aus der Junkiezone raus. Tanja ist nicht unter ihnen.
Mit welchen Gedanken bannt Markus seine Angst? Zum Beispiel versucht er die Bausteine eines Aphorismus zusammenzusetzen, der die Junkies mit ihrem dumpfen Spreizen der Vokale als letzte Hüter, ja Fortführer des Wiener Dialekts in Ehren setzen soll. Die Pointe soll sich irgendwie aus dem Zusatz ergeben, dass das ursprüngliche gedehnte Wienerisch ohnehin nichts als das Resultat des traditionellen Weißweinalkoholismus sei. Die Feinarbeit an diesem Gedanken verschiebt Markus aber auf einen späteren Zeitpunkt, wie er das immer tut, und reflektiert nun über die großen, kräftigen Hunde, die zwischen den Süchtigen herumstreunen und einander im Schritt beschnüffeln.
Die drogeninduzierte Regression ihrer Herrchen, so Markus’ These, gibt diesen Hunden die Möglichkeit zu Eigenverantwortung und folglich, sich einen Abglanz alter Wolfesherrlichkeit zurückzuerobern. Sie gleichen klugen Aufpassern ihrer schwankenden zweibeinigen Kumpanen und nicht mehr den dummen ausgewachsenen Welpen, auf die der Mensch sie einst hinzüchtete, um sich ihnen überlegen und gleichzeitig verwandt zu fühlen. Die Junkiehunde sind intelligent genug, will Markus glauben, sich nicht einzumischen, wenn hemdsärmelige Polizisten und noch zupackfreudigere Politessen ab und an das eine oder andere ihrer Herrchen oder Frauchen herauspicken und für ein paar Stunden in der nahe gelegenen Wachstube verschwinden lassen. Polizisten machen schnell von der Waffe Gebrauch und ihre Alphahündchen werden der kreatürlichen Wärme ihrer Hunde mehr als sonst bedürfen, wenn sie zu ihnen zurückstaksen.
Markus muss sich eingestehen, dass das alles Blödsinn ist und nur sein nie versiegendes Bedürfnis bedient, ausgefallene Gedanken aus sich herauszupressen.
Markus findet auf dem Weg den abgebrochenen Kopf einer roten Nelke und steckt ihn sich ans Revers seines noch immer nach Kaufhaus riechenden Mantels. Da es keinen Film gibt, in dem der lässige Bonvivant keine lustige Melodie pfeift, nachdem er sich auf der Straße eine Blume ins Knopfloch gesteckt hat, pfeift auch Markus munter drauf los, einen Schlager aus den dreißiger Jahren ? und zwar nicht Broadway, sondern Berlin, was seit kurzem auf Wiedererkennungswert pochen kann. Somit gibt er sich abermals als Exzentrikwurlitzer mit endlosem Repertoire an Selbstdarstellungszitaten zu erkennen. Und jedes Lächeln, das er auf Passantenlippen erspäht, zahlt er mit Zinsen zurück, auch wenn es gar nicht ihm gilt. Das ist nicht schwierig, denn der laue Frühlingswind von außen, nicht versiegende Endorphinausschüttungen von innen verwandeln die Menschen ab März in glückliche Grinser, die sich selbst auf einmal gar nicht so schlecht leiden können und jedes fremde Gesicht auf der Straße als Spiegel ihres eigenen Wohlbefindens benützen. Ein Geschäft, das sogar noch fair bleibt, wenn die Grinser miteinander auf einen Kaffee oder ins Bett gehen. Die freie Marktwirtschaft mit ihrem notwendigen Zwang zur Übervorteilung beginnt erst dann, wenn Gefühle getauscht werden.
Ab Ende Mai jedoch, mit Steigen der Temperaturen und Verbrauch der Endorphinreserven, weicht die Frühlingswellness wieder einem der Wirklichkeit angemesseneren Missmut, und die Zeit der Sommerurlaube beginnt.
Bei Markus indessen, der sich das ganze Jahr hindurch nicht über mangelnde Eigenliebe beklagen kann, ergibt dieser Frühlingscocktail einen wahren Überschuss an Wellness. Und wenn sich dann noch das Begehren einer neuen Frau hinzuaddiert, kommt unterm Strich eine Summe an Hochgefühl heraus, von der Dutzende Sozialhilfeempfänger monatelang zehren könnten. Die Rechnung stimmt, die Summe wird eifersüchtig vor allen potenziellen Trittbrettfahrern seines Glücks verteidigt.
Markus spaziert durch den Park in Richtung Argentinierstraße und denkt über Tanja nach. Ein bescheidenes Leben ohne dramatische Wechselfälle der Seele, das zieht er vor, zumindest um sich seine Arbeitsfähigkeit zu erhalten. Die Welt muss ihn ja erst kennen lernen. Noch unzählige pointierte Essays, messerscharfe Feuilletons und glühende Glossen warten ungeduldig darauf, von ihm geschrieben zu werden. Noch ist es nicht zu spät, alter Junge! Zuerst musst du dir aber die Adjektiva abgewöhnen, kritzelt er in sein Gedächtnis.
Doch wie soll er das alles bewältigen, wenn ihm nicht einmal eine stinknormale SMS an Simone gelingen will? Markus wendet sich an ein etwa sechzehnjähriges Mädchen, deren selbstvergessene Bearbeitung der Handytastatur und mimetische Grimassen auf eine Liebesmessage hindeuten. Kurz schreckt die junge Frau zurück, als Markus sie anspricht, bald aber weicht ihre Scheu koketter Neugier, nachdem er ihr sein Vorhaben dargelegt hat. Er sei bis über beide Ohren verliebt, bekennt er, und sein Instinkt sage ihm, dass es um sie ähnlich bestellt sei. Da er aber unter akuter Schreibhemmung leide, wäre es ihm eine große Ehre, an ihrer sprachlichen Kreativität mitnaschen zu dürfen.
„Langer Rede kurzer Sinn, darf ich deine SMS abschreiben? Wie heißt du übrigens?“
„Yvonne.“ Das Mädchen errötet. Irgendwie findet sie Markus’ gestelzte Unbeholfenheit süß, und so überreicht sie ihm ihr Mobiltelefon, nicht bevor sie jedoch irgendeine anzügliche Vokabel aus der bereits fertig getippten Nachricht gelöscht hat.
„Das gilt nicht“, erhebt Markus mit nasaler Stimme Einspruch, einer Stimme, die ihm in seiner Unsicherheit gar nicht als die eigene vorkommt. „Wir haben doch keine Geheimnisse voreinander, Yvonne.“ Jetzt errötet Markus. Weil weder er sich noch Yvonne ihm seine Souveränität abnimmt.
Markus liest die SMS: „Ich bin nicht eine für eine Nacht. Wenn du das glaubst, Hassan, bist du an der falschen Adresse. Ich hab’ dich nämlich sehr lieb, mein kleiner Hühnerdieb.“
„Perfekt“, zischt Markus, „hätte ich nicht besser schreiben können“, und beginnt die Nachricht unverzüglich in sein eigenes Handy abzutippen. Dabei liest er jedes Wort vor und wiederholt im Scherz auch den Namen Hassan. Das Mädchen kichert und kann sich nicht verkneifen zu fragen: „Sind Sie schwul?“
„Nur, wenn man mich mit ‚Sie’ anspricht“, entgegnet Markus. „Weißt du, das trifft sich wirklich wunderbar, denn zufällig heißt mein Freund auch Hassan. Vielleicht lieben wir denselben?“
O, wie Markus es liebt, Frauen, die seine Töchter sein könnten, zum Lachen zu bringen.
„Dann kann er sich aber gleich schleichen“, verkündet Yvonne.
Während Markus die SMS an Simone sendet, begutachtet er aus dem Augenwinkel Yvonnes Figur und ist mit dem Ergebnis rundum zufrieden. Die Sonne ist hinter der Technischen Universität verschwunden, die Temperatur um etliche Grade gesunken. Und trotzdem grinst ihm ein gänsehautfreier Bauchnabel entgegen, der auch noch freundlicherweise mit einer tierärztlichen Erkennungsmarke durchstochen ist.
„Weißt du was, Yvonne“, wagt Markus einen frechen, aber durchaus ehrlich gemeinten Vorstoß, „was hältst du davon, wenn wir beide den Hassan links liegen lassen und uns in Zukunft gegenseitig SMS schicken?“
Hassans Freundin mustert Markus spöttisch und spricht: „I mog oba kan Freind, der wos ma mei eigenes SMS wieder retour schickt.“
Puh, sind die Mädels heutzutage schlagfertig. Das wäre nichts für ihn. Wenn schon ein Küken, dann ein flaumiges, in dessen naiver Unschuld, Erszébet hatte schon Recht, sich nach getaner Arbeit die Füße wärmen ließen. Markus gibt Yvonne das Handy zurück, verbeugt sich und küsst ihr die Hand ? in der Hoffnung, sie würde diese Geste mit Scaramouche, dem galanten Marquis, und nicht mit mottenstichigen Hofräten aus den Paul-Hörbiger-Filmen des Samstagnachmittagsprogramms assoziieren.
Markus spaziert weiter und ärgert sich ein wenig darüber, dass ihn Yvonne tatsächlich für schwul und alt halten könnte. Da kündigt sich durch lautes Piepsen Simones Antwort-SMS an. „Spinnst du jetzt völlig? Dein kleiner Hühnerdieb.“ Nun, man kann mit Simone über Proust parlieren, aber …
Markus lehnt sich an den Stamm einer Platane und blickt um sich. Die Sonne hat sich von diesem schönen Frühlingstag mit grellem Orange verabschiedet, das noch an den Häuserfronten des Rings klebt. Doch es pirscht sich schon die kalte Dunkelheit an. Markus’ Wangen und Nase röten sich und sein Atem stockt zu weißem Rauch. Doch nicht nur ihm. Da überall, scheint ihm, stehen bauchnabelfreie Teenagerinnen in engen Hosen und bunten Jacken, hie und da auch ein Junge, und telefonieren, tippen, versenden und empfangen SMS, zeigen diese ihren Freundinnen, kichern, kudern, glucksen, kreischen, weinen auch vereinzelt. Augen, Nabelpiercings, Ohrenclips und Handydisplays glitzern und leuchten. Der ganze Resselpark ein Freiluftgehege der Verliebtheit und des jungmädchenhaften Übermuts.
Und er, Markus mittendrin, nie fühlte er sich diesen unausgegorenen Wesen verwandter. Wie durch geheime magische Bande ist er mit dieser bunten Choreographie verschworen. Am liebsten würde er sich vor Freude im dünnen Speck all dieser Mädchenbäuche verbeißen, nicht etwa aus der verzweifelten Geilheit eines frischen Vierzigers, sondern um noch einmal frischer Rahm von ihrem Rahm zu sein, ein einziges Mal noch alles vor sich zu haben, was sich letztlich doch nicht zu erleben lohnt. So denkt einer, dem selber noch lustig wabbelnder, aber ranziger Babyspeck von der Seele hängt.
Fröhlich tippt Markus ein übermütiges SMS und ist entzückt vom Irisieren dieses hauchdünnen Films, mit dem seine und die Verliebtheit seiner geheimen minderjährigen Kumpaninnen den Park überziehen.
Diesen Sommer noch wird er bei Simone überwintern, ist sich Markus gewiss, und vielleicht wird er auch das erste Mal in seinem Leben Verantwortung übernehmen und ihr das Baby machen, das sie sich wünscht. Denn ihre biologische Uhr ist auf halb elf Uhr nachts. Seine aber hat noch nicht einmal richtig zu ticken begonnen. Nach zwei, drei Jahren wird er ? wie es seine Natur ist ? wieder davonlaufen. Und sich endlich dem Weltmädchentum anschließen, in Whirlpools aus Mädchen planschen und ? sein innigster Wunsch ? Vizechef einer Girl-Gang werden. Und selbst wenn es nicht mehr ihr seid, sondern eure jüngeren nachsprießenden Schwesterchen, weil ihr zu alt und reif und blöd geworden seid. Und verlieben wird er sich aufs Neue, es wird sein wie beim ersten Mal, verdammt, vielleicht wird es ja das erste Mal sein. Ja, mit Hilfe des Weltmädchentums wird er einen zweiten Anlauf wagen und über seine Adoleszenz wie ein Stabhochspringer hinweggleiten.
Markus fühlt sich wie ein geheimer, solide in den Boden gerammter Sendemast, über den alle SMSen und Handygespräche des Parks, alle Hoffnungen, Sehnsüchte und Enttäuschungen sich sammeln und wieder zerstreuen. Es kribbelt ihm im Körper und er grinst kataton vor sich hin, sodass er den wenigen Pensionistinnen, die hier vorbeikommen, ganz schön suspekt sein müsste, hofft er. Doch diese kümmern sich nicht weiter um ihn. 
Ach, was tippt dort die kühle Dunkelhaarige mit dem hochgesteckten Zopf? Bestimmt so was wie „Ich will dich nie wieder sehen“. Und Yvonne ist auch noch da und wartet ungeduldig auf eine beschwichtigende SMS von ihrem Hassan, der mit seinen Kumpels sicher gerade im Jugendzentrum sitzt und ihnen in verächtlichem Männerjargon Details über die eine Nacht mit ihr verrät, um ihr dann, damit sie endlich Ruh gibt, irgendeinen SMS-Köder zu schicken, wie „Bist eh ein süßer Schneck“ oder „Ich bin ur-scharf auf dich“, was sie als Bekenntnis auffassen und in Tränen des Glücks ausbrechen lassen wird. Die Mädelgang auf der Bank dort ist schon cooler. Grundgütiger, wie sie sich zerkugeln über die SMS, welche die Keckste unter ihnen gerade versendet hat. Was gäbe Markus dafür, sie zu lesen. „Zorans Schwanz ist viel länger als deiner“ oder so was Ähnliches wird es schon gewesen sein.
Ja, tippt weiter fiebrig in eure Tastaturen, all ihr lieben, noch nach frischem Heu und Mintkaugummis und Red-Bull-Rülpsern riechenden Elfen. Feiert den Polterabend eurer babyschleimfrischen Ichs, bevor die sich morgen mit dem Stumpfsinn der Nützlichkeit vermählen. Verglüht noch einmal richtig sinnlos eure Energie, morgen schon wird sie gebündelt zur Bestromung von Identitäten, schreit auch noch mal richtig die Mädchenlungen aus euren Mädchenleibern. Den nächsten Schrei werdet ihr bei den Geburtswehen ausstoßen, der übernächste wird einer der Verzweiflung sein und der letzte euch in der Kehle ersticken. Reckt euch, streckt euch, leckt euch fein säuberlich die schillernde Anorakhaut, ihr hübschen, stolzen Raupen ? bevor ihr zu Puppen erstarrt, aus denen keine Schmetterlinge schlüpfen werden.
In Markus’ Glückseligkeit ziehen ein paar Tropfen Wehmut ihre Schlieren, weil er nie wieder sechzehn und nie ein Mädchen sein wird.