Heißhunger von Nicole Makarewicz
Sie hungert seit sie sechzehn ist. Gern gegessen hat sie nie. Hatte keinen Appetit. Dann war alles Ekel. Sie kann nur noch Flüssiges zu sich nehmen. Strohhalm statt Besteck, ein unverzichtbares Utensil der Abgrenzung. Zu kauen, mit den Zähnen zu zerteilen, zu zerreißen, zu zermalmen, widert sie an. Zerkleinerten Nahrungsbrei mit Speichel einzuschleimen, im Mund mit der Verdauung zu beginnen, Zersetzung auf der Zunge zu spüren, vergorene Reste, die zwischen den Zähnen zurückbleiben. Abartig, widerwärtig, grauenerregend.
Sie reduziert den Akt der Nahrungsaufnahme auf wenige Minuten täglich. Ein paar Schlucke, runter damit, Zähne putzen, schrubben, bis das Zahnfleisch blutig protestiert. Keine kollektive Speisung, kein Restaurant, keine Kantine. Bei Würstelständen, Döner- und Pizzabuden den Blick senken, Luft anhalten, ignorieren.
Sie war immer schon schlank, jetzt ist sie dünn, doch erstaunlicherweise pendelte sich ihr Gewicht ein – knapp oberhalb der Grenze zur Unterernährung. Der Busen gepusht, die Taille betont, neiderregende Modelmaße. Ich esse nichts, ihre Erklärung. Ungläubige Missgunst die Antwort. Sie änderte ihre Strategie, erzählt von Ananas auf Kochschinken, harten Eiern und Avocados. Ihre Diät wird nachexerziert. Sie hat Ruhe.
Essen bestimmt ihr Leben. Es ist anstrengend, ihm auszuweichen, zu vermeiden, andere Menschen kauen, schmatzen, schlucken zu sehen. Nahrungsverweigerung ist eine zeitaufwändige Beschäftigung. Beim Ausgehen beschränkt sie sich auf klassische Konzerte, ab und zu ein Ballett, selten Theater, nur, wenn sie das Stück kennt, sich über die Inszenierung informiert hat, weiß, dass kein Essen vorkommt. In den Pausen bleibt sie sitzen, meidet das Buffet, das Theatercafé, die Bar. Sogar dort wird allzu oft Essbares kredenzt, stopfen, fressen, schlingen die Besucher Gratisnüsse und Cracker in sich hinein, als gäbe es kein Morgen. Ihre Phobie verleidet ihr Filme und Fernsehen, Theater und Kabarett. Viel zu oft wird gegessen, ist Essen ein Thema. Essen ist das Eine, Sex spielt in den Medien, im Leben, nur eine untergeordnete Rolle, aber das sehen die anderen nicht, dass erkennt nur sie.
Kochshows erfüllen sie mit Entsetzen. Die aufgereihten Zutaten jagen ihr eine Gänsehaut über den Rücken. Prall-leuchtende Paradeiser, innen quatschig rot, fettglänzende Butter, wurmartige Spaghetti, krötenhäutige Avocados, pelzige Pfirsiche. Fleisch, blutig, mit Fett durchsetzt. Hingeschlachtete Fische mit vorwurfsvoll starrenden Augen. Des Lebens und ihrer Federn beraubte Vögel. Innere Organe, schleimig, glänzend. Manchmal bleibt sie wie ein Kind bei einem verbotenen Horrorfilm hängen, starrt fasziniert und vom Ekel gebeutelt hin, wenn zu Saucen, Aufläufen, Terrinen verkocht und verbraten wird. Wenn Fleisch geklopft, gehackt, faschiert wird. Wenn enthusiastische Futterfabrikanten tief ins Unerträgliche tauchen, kneten, schneiden, dünsten, arrangieren, servieren. Material für Alpträume, die in die Realität überschwappen.
Sie fühlt sich fremd, findet sich in der von Esskapaden durchsetzten Welt nicht zurecht. Ihre Flucht ist anstrengend. Anders zu sein, liegt ihr nicht. Sie will nicht auffallen, will in der Menge verschwinden, keinen Eindruck hinterlassen. Um anonym zu bleiben, muss sie sich tarnen. Lebt ein Scheinleben, So-tun-als-ob ist ihr zur zweiten Natur geworden, ein fadenscheiniger Umhang der die grelle Musterung ihrer Besonderheit verbirgt, sie vor Neugier, Mitleid und Ausgrenzung schützt. Bei unvermeidlichen, zum Glück raren Zusammenkünften, Weihnachts- und Geburtstagsfeiern, Hochzeiten und Taufen hat sie diese Kunst zur Vervollkommnung gebracht. Sie hat sich unter Kontrolle, verschiebt das Aufgetischte mit sorgfältiger Präzision auf ihrem Teller, arrangiert akribisch Stillleben der Sättigung. Führt ab und zu die leere Gabel zum Mund, lobt, falls angebracht, das Aufgetischte, tarnt sich in stiller Unauffälligkeit. Sie harrt gerade so lange aus, wie es die Höflichkeit erfordert. Selbst im Aufbruch muss sie sich beherrschen, darf nicht erahnen lassen, dass sie auf Flucht ist, dass sie nur weg will, dem Horror entkommen.
Manchmal träumt sie davon, zu essen. Wahre Berge in sich hineinzustopfen, zu schlingen, sich die Finger abzulecken, nach mehr zu gieren, satt zu sein. In diesen Träumen ist kein Platz für Ekel, für Angst. In diesen Träumen fühlt sie sich frei, so normal, oh so normal. Wenn sie aufwacht, hält sie die Augen geschlossen, versucht, den unterschiedlichen Geschmäckern nachzuspüren, beschwört nahrhafte Visionen herauf. Doch der Ekel, ihr ewiger Begleiter, zwingt sie, die Augen aufzureißen, den Brechreiz zu unterdrücken, aufzugeben.
Sie sitzt in der U-Bahn, geschützt von einer Gratiszeitungsmauer. Ein Essverbot in öffentlichen Verkehrsmitteln wird überlegt. Im Moment wünscht sie sich nichts sehnlicher. Masochistische Neugier zwingt sie dazu, die Zeitung zu senken. Ihr gegenüber sitzt sie. Alles an ihr ist üppig, überdimensioniert, überwältigend. Ein wenig zu orangestichige rote Locken, riesige Augen, volle Lippen, ausladende Formen in einen mausgrauen Hosenanzug gequetscht, die Füße in etwas zu enge Pumps gepresst. Die betonte Schlichtheit der Kleidung konterkariert die Absicht, lässt das Ensemble zur Kostümierung verkommen. Sie ist nicht fett, aber sie sprengt den Rahmen, wirkt, als würde sie in keine Schublade passen, jedes Klischee ad absurdum führen. Sie strotzt vor Selbstbewusstsein – nicht das aufgesetzte Ich-mag-mich-wie-ich-bin vieler Dicker – sondern ehrliche, in sich ruhende Zufriedenheit mit sich selbst. Sie versteckt sich nicht, drängt sich nicht in den Mittelpunkt. Sie ist einfach. Und isst. Heute ein Schokoladecroissant, gestern einen Apfel, am Montag eine Käsesemmel.
Vor einer Woche hat sie sie zum ersten Mal gesehen. Und war fasziniert von der Sinnlichkeit, mit der sie isst. Genuss, Verzückung, pure Lust am Geschmack, der Konsistenz, dem Erlebnis des Essens. Angewiderte Faszination ließ sie nicht wegsehen. Am zweiten Tag durchströmte sie eine Mischung aus Entsetzen und Erleichterung, als sie die Esserin am Bahnsteig stehen sah. Seither hat sie sie nicht mehr verpasst. 8 Uhr 30, werktags. Das Wochenende war zu lange. Sie hat es kaum überstanden. Die Esserin lässt sie nicht los.
»Scheint, dass wir denselben Weg haben?« Die Stimme der Esserin ist tief und sanft. Eine verbale Streicheleinheit. Ertappt zuckt sie zusammen. Nickt. Die Esserin ignoriert ihr offensichtliches Unbehagen, plaudert, isst, steigt aus. »Bis morgen!« Der freundliche Abschiedsgruß dröhnt in ihren Ohren. Bedrohlich, verlockend, schwebt er den Rest des Tages als Damoklesschwert über ihr. Die Nacht dauert ewig. Sie wälzt sich herum, dämmert weg, nickt ein, träumt von Gelagen mit der Esserin. Augenringe markieren den nächsten Morgen.
Zehn nach acht. Sie steht am Bahnsteig, drei U-Bahnen lang. Sie wartet, unterdrückt den Fluchtimpuls, zwingt sich zum Ausharren. Zwei vor halb ist die Esserin da, begrüßt sie, als würden sie einander kennen, gestikuliert beim Reden mit den Händen, lässt ihr keine Zeit zu antworten, selbst wenn sie Worte hätte. Der Zug fährt ein, die Esserin sitzt ihr gegenüber, anerkennt ihren Wunsch nach Abstand und Nähe. Heute ist Bananentag. Die Esserin bietet ihr eine an, die sie entsetzt ablehnt. Die Form, die Farbe, die Konsistenz, niemals. Die Esserin gibt sich der Banane hin. Fast schon erotisch. Reine Lebensfreude.
Drei Wochen später fährt die Esserin auf Urlaub. Die Trennung macht ihr zu schaffen. Die Esserin ist ein wichtiger, zu wichtiger Teil ihres Lebens geworden. Sie ist abhängig von ihr, von den gemeinsamen Minuten, dem Unterricht im Genießen. Nicht, dass sich ihr Verhältnis zum Essen verändert hätte. Doch der Esserin zuzusehen, befriedigt sie auf makabere Weise. Sie ist eine Voyeurin ihrer Nahrungsaufnahme.
Seit die Esserin weg ist, ist sie von Verlangen überwältigt. Sie verzehrt sich nach ihr, ist auf Entzug. Ihr wird bewusst, dass sie die Esserin begehrt. Zum ersten Mal in ihrem Leben ist sie verliebt. Verliebt in die Lebenslust der Esserin, ihre Freude am Genuss, die pure Sinnlichkeit, die sie ausstrahlt. Es erschreckt sie. Es erstaunt sie. Liebe hat es für sie nicht gegeben. Das Essen ist im Weg. Ist ihr immer im Weg. Ihr bleibt keine Zeit für Freundschaften, Beziehungen, Familie. Ihr Leben ist Vermeidung. Das hat die Esserin geändert. Zum ersten Mal will sie. Sie will die Esserin um sich haben. Will ihr beim Essen zusehen, die Faszination der Abstoßung erleben. Sie liebt die Befriedigung, das Grauen ertragen, sich ihren tiefsten Ängsten wieder und immer wieder stellen zu können. Die Esserin hat ihr die Augen geöffnet, ihren Kokon gesprengt. Und sie im Stich gelassen.
In ihrer Verzweiflung ergreift sie drastische Maßnahmen. Auf den Weg zur Arbeit kauft sie ein. Käsesemmel, Apfel, Schokoladecroissant, Banane. Sie erinnert sich an jedes Mahl der Esserin, feiert mit dem Kauf die Begegnung, die ihr Leben verändert hat. Den ganzen Tag trägt sie ihre Errungenschaften bei sich. Das Essbare in ihrer Tasche erregt sie. Sie hat verbotenes Terrain betreten, Angst, ertappt zu werden. Zwischen Lust und Abscheu hin- und hergerissen, ertastet sie verstohlen das Essen in ihrer Tasche. Ein Schauer durchläuft sie. Die Realität der Lebensmittel ist ihre Rückversicherung, hilft ihr, die Abwesenheit der Esserin zu ertragen, ist Pfand ihrer Rückkehr.
Sie fiebert dem Wiedersehen entgegen und ist dennoch davon überfordert. Die Esserin ist braungebrannt, die Haare zu Hellorange ausgeblichen, brünetter Nachwuchs. Sie hat ihr ein Lederarmband mitgebracht, ihr Name in bunten Perlen aufgestickt, nichts, was sie tragen würde. Sie legt es nicht mehr ab.
Die Esserin überredet sie zu einem Treffen, hat Unmengen von Fotos gemacht, Meer und Strand und Palmen und sie selbst vor Meer und Strand und Palmen. Die Esserin erzählt, beschreibt, lacht und kichert, trinkt und isst. Ein Pasta-Berg türmt sich auf ihrem Teller, eine doppelte Portion mit Extra-Sauce. Löffelweise häuft sie Parmesan auf die Nudeln. Die Esserin zelebriert ihr Mahl. Unerwartet elegant wickelt sie Spaghetti auf die Gabel, gönnt jedem Bissen einen fast schon lustvollen Blick, bevor sie ihn in den erwartungsvoll geöffneten, tiefrot geschminkten Mund schiebt. Sie kaut lange, füllt den Mund aus, scheint jede Nuance erschmecken, sich keine Sekunde des Erlebnisses entgehen lassen zu wollen. Den Saucenrest tunkt sie mit Weißbrot auf, das sie grazil in Stücke reißt, bevor sie den Teller fast zärtlich damit entlangfährt. Beim Kauen sind ihre Augen geschlossen, gibt sie leise Laute der Verzückung von sich. Die Hingabe der Esserin hat etwas Obszön-Erotisches. Ihr zuzusehen, erregt sie so sehr, dass sie versucht ist, sich unter dem Tisch Befriedigung zu verschaffen. Der für sie so abstoßende Geruch des Essens verstärkt das pulsierende Ziehen in ihrem Unterleib. Sie klammert sich an ihr Soda, die Zitrone sofort herausgefischt, ekelgebeutelt die Finger abgetrocknet.
Neid und Lust vermischen sich zu einem überwältigenden Gefühlscocktail. Sie will sein wie die Esserin, leben wie die Esserin, essen wie die Esserin. Sie ist süchtig nach der Esserin, kann ihren Blick nicht abwenden, sie nicht gehen lassen. Sie redet um ihr Leben. Sie, die kaum jemals viele Worte macht, nur keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen, sich nicht in den Mittelpunkt stellen will, erzählt und plaudert und lacht sogar einmal. Sie kann sie nicht gehen lassen. Nicht schon wieder. Es ist Nacht, als sie nach Hause kommt.
Sie hat die Esserin eingeladen. Zu sich nach Hause. Zum Essen. Sie hat schon lange davon phantasiert, sich vorgestellt, dass es passieren könnte, irgendwann. Sie hat nicht damit gerechnet, den Mut aufzubringen, die Initiative zu ergreifen. Morgen. Morgen wird sie essen. Zu ersten Mal seit fast zwanzig Jahren.
Die Esserin ist pünktlich und hat knallbunte Blumen mitgebracht. Sie stellt sie in eine Vase, arrangiert sie sorgfältig, versucht, Zeit zu schinden. Die Esserin ist, was in ihrem Leben einer Freundin, einer Vertrauten am nächsten kommt. Ihre Familie. Sie ist noch nicht bereit. Bereiter wird sie nie sein. Sie zeigt der Esserin die Wohnung, bietet ihr den Cocktail an, wartet bis sie bewusstlos ist, hievt sie in die Badewanne – das jahrelange Krafttraining zahlt sich aus.
In der Küche bindet sie sich ihre neue Schürze um, geht die Zutaten durch, kontrolliert, ob alles vorbereitet ist. Die Pfanne, der große Suppentopf, bereit eingeweiht zu werden. Tiefkühlbeutel in unterschiedlichen Größen, sie hasst Verschwendung. Sie nimmt das Messer, prüft ein letztes Mal die Schärfe und geht ins Badezimmer.
Sie hat sich Mühe gegeben. Der Tisch ist gedeckt, der Teller glänzt, das Besteck ist poliert. Die Leinenserviette steckt in einem gläsernen Serviettenring. Alles ist neu. Alles ist anders. Sie hat so lange gewartet.
Der erste Bissen kostet sie Überwindung. Das Fleisch ist zarter als sie es erwartet hat. Sie isst bis sie satt und zufrieden ist. Und glücklich. Endlich ist sie glücklich. Sie hebt ihr Glas. »Auf dich!«