Der Wachsmann von Rosemarie Motzko
„Stirb doch endlich!“ heulen die Furien in meinem Kopf, sobald ich den Flur betrete, nach allen Seiten grüßend und lächelnd, besonders in Richtung der undeutlichen Schemen, die das graue Essen austeilen. Essen, das Kilian niemals angerührt hätte. Gestalten, die ich nicht zu unterscheiden lerne. Stirb, stirb, stirb, begleiten die Furien den Rhythmus meiner Schritte. Ich fürchte ihr Kreischen und Gelächter, mit dem sie mich quälen, sobald ich die Pforte des Krankenhauses passiere, und das ich bemüht bin, nicht nach außen dringen zu lassen. Mein Kilian, der schöne gesunde Sportsmensch, der im Gegensatz zu mir Salat und Gruppen liebte, seine Adern nicht mit Cholesterin verstopfte, der seine Mitmenschen zu Höchstleistungen anspornte, hier ruht er friedlich, in Zimmer Nummer 56. Ganz Vorbild, sprang er beim Bungeejumping zuerst. Und das war ein Glück für seine Kollegen, denn so knallten sie nicht gegen den Brückenpfeiler, der seinen Schädel wie eine Eierschale aufschlug. Ich, verfressen, menschenscheu und jedem Sport abhold, erfreue mich im Gegensatz zu meinem Gatten bester Gesundheit. Blühend nennen viele sogar mein Aussehen und spekulieren hinter meinem Rücken über eine schlechte Ehe und heimliche Liebhaber, die jetzt, da er sich nicht wehren kann, aus ihren dunklen Ecken im Kleiderschrank hervor kriechen.
Die Tablettträger lassen Kilians Zimmer aus. Niemand bietet ihm mehr Essen an. Er bekommt auch kaum noch Besuch. Ein hoffnungsloser Fall. Doch ist seine Hülle, einziges Exponat in meinem persönlichen Albtraum-Museum, noch zur Besichtigung frei gegeben. Ohne die gewohnte Sonnenbräune gleicht er diesen lebensechten Wachsfiguren, die auch anderswo ausgestellt werden. Aber er atmet. Schwester Renate hält seinen Krankenhauskörper in Schuss.
Ich erkenne Renate am Quietschen ihrer Sandalen. Das Gesicht ohne die Schuhe hätte ich weder identifizieren noch beschreiben können. Mein Blick hält sich an ihrem Namensschildchen fest. „Unverändert“, höre ich aus dem professionellen Gemurmel heraus und dann ein Wort, das nicht zum gewohnten Aufmunterungstonfall passt: Personalmangel. Ein Wort aus der richtigen Welt. Es bringt das kreischende Gelächter der Furien zum Schweigen, das sich der ungesunden Stille bemächtigt hat. Personalmangel? Natürlich! Der Pflegenotstand! Komischerweise habe ich den Begriff nie mit Kilians Aufenthalt in dieser dämmrigen Unterwasservorhölle verbunden. Etwas presst sich unangenehm in meinen Unterleib. Kann ein Wort so hart sein? Begriffsstutzig musterte ich den Gegenstand und dann das Gesicht, aus dem die vertraute Renatestimme „… ihn vielleicht selber waschen?“ fragt. Oder befiehlt? Sie verstärkt den Druck der Waschschüssel gegen meine Eingeweide und schiebt mir einen Waschlappen in die Hand. Ich schüttele den Kopf, hebe die Hände wie bei einem bewaffneten Überfall. „Ausgeschlossen! So etwas kann ich nicht!“ Der Waschlappen fällt in die Schüssel, eine Fontäne medizinischen Geruchs tränkt mein rotes Kostüm. „Das ist ja pervers. Den eigenen Mann zu waschen!“
Renate drückt die Klinke herunter und treibt mich resolut vor sich her ins Zimmer. „Die anderen Angehörigen machen das auch“, grollt sie, „sehr gern sogar. Es bedeutet Nähe.“ „Nicht für mich“, protestiere ich und taste meinen Unterleib ab. Vielleicht hat Renate mir ja die Gebärmutter zerquetscht. Ein Problem weniger. Sie knallt die Schüssel auf den Nachttisch und zieht die Jalousien hoch. Obwohl es schon Mittag ist, hat Kilian im Dunkeln gelegen. Ich will mich schon aufregen, aber dem Wachsmann ist es schließlich auch egal. Streifen wandern über sein blasses Gesicht. „Ich bin jetzt 16 Stunden im Dienst“, beklagt sich Renate. „Ich würde auch nicht wollen, dass mein Mann mich wäscht“, verteidige ich mich. „Das ist der Tod jeder Erotik!“ Die Furien wollen sich schier ausschütten vor Lachen. „Erotik! Guter Gott!“, spotten sie boshaft. „Woher kennst du denn so was? Aus dem Es-war-einmal?“ Renate schenkt mir einen höhnischen Blick, als hätte sie alles gehört. Sie schlurft zur Tür, zieht ihre Müdigkeit hinter sich her wie eine schwere Kette. „Ganz wie Gnädigste meinen. Bleibt der Herr Gemahl eben ungewaschen! Ich jedenfalls mach’s nicht! Ich mach Feierabend.“ Sie schließt die Zellentür. „Schließlich ist er Ihre Anziehpuppe!“ rufe ich ihr nach. Eigentlich wollte ich „Patient“ sagen. Aber das ist jetzt auch schon egal.
Von seinem Fenster könnte Kilian den Park sehen. Dort unten schieben Besucher ihre Angehörigen durch den Regen. Wahrscheinlich wegen der frischen Luft. Frische Luft erfreut sich ja größter Beliebtheit. Auch Kilian konnte nicht genug davon kriegen. Gern hätte ich sein Bett in den Regen gestellt. Dann hätte der Regen ihn waschen können.
Ich habe die Kilian-Puppe seit dem Unfall nicht berührt, auch nicht mir ihr gesprochen, obwohl Ärzte und Schwestern mich dazu drängen. „Erzählen Sie ihm von Ihrem Alltag, raten sie mir. „Sie werden sich daran gewöhnen, dass er nicht antwortet.“ Tja, viele Ehemänner antworten nicht. Besonders beim Frühstück.
Außerhalb des Krankenhauses war ich mit Kilian eigentlich nur im Bett allein. Bald schon, nachdem wir uns kennen gelernt hatten, führte er Freunden, Kollegen und Mannschaftskameraden das glückliche Paar vor. Unter dem Familien-Weihnachtsbaum steckte er mir den Verlobungsring an, wir heirateten im Mai und fuhren nach Venedig. Verliebte in Massen. Ich hätte mich leicht mit einer anderen verwechseln können.
Als Ehemann wollte Kilian, dass ich ihn zum Klettern, Rafting oder Handballspielen begleite. Wir hatten Sex in Zelten und Hotels. Die regelmäßigen Doppelorgasmen vermochte er so zuverlässig herbei zu führen, dass ich sie insgeheim als technischen K.O. bezeichnete. Sport langweilt mich.
Ich hätte meinen schönen Mann gerne für mich allein gehabt, ihn ans Bett gefesselt, seinen Atem geatmet und seinen Herzschlag auswendig gelernt. Die Liebe radierte mein altes Leben aus. Sie weckte in mir ein reißendes Verlangen und erschuf das Spiegelbild einer Frau, die ich nur in seinen Augen erkannte. Ich wollte ihn auf eine ausschließliche Art, die er nicht begreifen konnte, Unermüdlich rannte ich gegen seine Grenzbefestigungen aus Menschen an, versuchte mit allen Tricks, Kilian von ihnen weg zu locken, ihn mir einzuverleiben. Die Sehnsucht nach ihm löste mich auf, bis von mir nichts mehr übrig blieb.
Den Wachsmann macht mir niemand streitig. Nicht einmal seine Mutter besucht ihn mehr. Ihre Nerven halten es nicht aus. Dafür verlangt sie von mir regelmäßige Berichte. „Schließlich bist du seine Frau!“ Und jetzt will ihn Schwester Renate nicht mehr waschen. Ganz allein hänge ich in seinem Todesstreifen fest. Wäre ich seine Witwe, gäbe es wenigstens eine korrekte Bezeichnung für meine Leere.
Vorsichtig hebe ich einen Marionettenarm vom Bett und halte die schwere, warme Hand. „Ich bin schwanger“, flüstere ich seiner Abwesenheit zu. „Über all dem habe ich es zu spät gemerkt. Und du bist schuld, Kilian!.“ Dass ich den Namen ausspreche, treibt mir sofort Tränen in die Augen. Wut versengt mein Herz. Ich lasse den Arm fallen, weiß nicht wohin mit meinem Zorn. Möchte den Wachsmann gerne schlagen. Meine Finger krallen sich in sein Haar, ich zerre daran wie ein zorniges Schulkind und bringe mein Gesicht ganz dicht an seines. „Eins sage ich dir, Papi, falls Du je wieder aufwachen solltest, prügele ich dich windelweich. Und dann lass’ ich mich scheiden.“
Ein paar Haare bleiben in meiner Hand zurück. Vertrauter Menschengeruch hebt sich aus den Laken. Er klebt an meiner Hand, steigt mir in die Nase und zieht mir die Beine weg. So etwas Betörendes habe ich schon lange nicht gerochen! Ich spüre das Geflatter des Embryos im Bauch, falle auf das Bett. Nur einen Moment liegen! Ich streife die Schuhe von den Füßen, öffne den Knopf an meinem kneifenden Kostümrock und strecke mich neben dem Wachsmann aus. Schwangere brauchen nicht nur größere Kostüme, sie entwickeln auch einen ausgeprägten Geruchssinn. Das habe ich gelesen.
Zum ersten Mal seit dem Unfall betrachte ich sein Gesicht aus solcher Nähe. Mein Zeigefinger zeichnet die dunklen Brauen nach. Ich rieche seinen Atem, überraschend frisch. Sachte drehe ich sein Gesicht zu mir, berühre seine Lippen. Ich küsse ihn vorsichtig, meine Zungenspitze streichelt seinen Mund, das Zahnfleisch. Nicht zurück geküsst zu werden, weckt die alte Verzweiflung. Meine Zähne beißen zu. Rot perlt das Blut seine Lippe hinab. Es sieht schön aus, so lebendig. Die Tropfen fange ich mit der Zunge auf, ich lecke, lutsche, sauge an der kleinen Wunde, möchte meine Mundhöhle mit Kilian füllen, Ich will ihn austrinken, ihn bestrafen, ihm Schmerz bereiten für seine Abwesenheit, will, dass er in meinen Armen aufwacht, seine Arme und Beine um mich schlingt, mich bewegungsunfähig macht und hier auf diesem schmalen Bett nimmt. Ich schäme mich, schlage die Decke zurück, versuche, ihm nichts vorzuwerfen, versöhnlich seinen Arm um mich zu legen. Aber der Arm rutscht einfach von mir ab. Ich weine ein bisschen an seinem Hals. Die Haut schmeckt nach Harz, Salz von meinen Tränen, nach frisch geschlagenem Holz und Waldpilzen. Ich lecke seine Augen, lasse das Blau auf der Zunge zergehen, heule auf sein Gesicht bis es aussieht, als würde er wenigstens meine Tränen erwidern. Schließlich zerre ich ihm das elende Krankenhaushemd vom Leib. Aber das hätte ich vielleicht nicht tun sollen, denn darunter trägt der Wachsmann eine Windel. Aus seiner Brust, früher ein glatter, pulsierender Stein mit einer Mulde, in die ich gerne meinen Kopf bettete, wächst Moos. Und auch die Beine stecken in einem faunischen Haarkleid. Er ist so dünn geworden! Ich betrachte alles genau, meine Finger gleiten durch kringeliges dunkles Fell. Ich sehe es zum ersten Mal. Mein Kilian war immer glatt rasiert. Die Haare konservieren seinen Duft. Ich tauche mein Gesicht hinein, lasse mich kitzeln und kratzen, die Beine hinauf und hinunter. „Diesen Genuss verdankst du ausschließlich dem Personalmangel“, melden sich die Furien. Na und!? Trotzig knöpfe ich meine Bluse auf und stecke eine Kilianhand in den BH. Bestimmt sieht es dämlich aus, beklagenswert. Aber die Hand fühlt sich schwer an auf meiner Brust, als lägen wir auf unserer unbequemen Wohnzimmercouch, erschöpft vom Liebesspiel. Wie gerne hätte ihm meinen von der Schwangerschaft fülligeren Busen vorgeführt. Ich suche die Muskelkissen, die früher meine Leibspeise waren. Oft habe ich unbeherrscht hinein gebissen. Kilian genoss meine Gier, vielleicht auch den Schmerz. Stolz spannte er den Bizeps unter meinen Zähnen. Aber Schwester Renate hat die Muskeln mit Franzbranntwein weg gewaschen. Ich bin so traurig, dass es auf die Windel jetzt auch nicht mehr ankommt. Ich ziehe sie ihm aus. An Windeln muss ich mich ohnehin gewöhnen.
Ich betrachte sein Schamhaar, die Geschlechtsteile, fremd-vertrautes Territorium. Kilian hätte sich mir nie so ausgeliefert und unter meinem forschenden Blick sofort eine Erektion bekommen. Er war für Action! Sein Geruch ist noch da, vermischt mit ein bisschen Urin, nicht unangenehm. Ich nehme seinen Penis aus dem warmen Haarnest, meine Hand kennt ihn gut, streichelt und drückt, aber er bleibt weich und harmlos. Ich wiege zärtlich seine Hoden, fühle die Haare, die feine Haut darunter, die beiden verborgenen Kugeln, aus denen mein Kind stammt. Die schonungslose Nacktheit verhindert jede Intimität. Sein Körper beantwortet keine meiner Berührungen, nicht mit dem allerkleinsten Seufzer.
Ich scheuche die Vergangenheit zurück in ihren Käfig, als sie mir ihre Erinnerungen aufdrängen will. Jetzt muss ich es nehmen, wie es kommt. Mit dem Kind erwarten mich Alltage, an denen Kilian nicht mehr teilnehmen kann. Aber heute ist heute.
Ich stehe auf, ziehe mich aus und lege mich auf den nackten Wachsmann. Schließlich sind wir verheiratet. Auch im richtigen Gefängnis dürfen sich Paare gelegentlich zu einer kleinen Nummer treffen. Wenigstens seinen Geruch will ich mit nach Hause nehmen. Keine Ahnung, ob ich das aushalte, denn für einen Sekundenbruchteil fühle ich mich von seinem Duft getröstet und im nächsten Moment in eine Hölle aus eisiger Leere geschleudert. Es ist genauso schön wie furchtbar, hier auf ihm zu liegen. Ich speichere seine Wärme, spüre sein Skelett, den fremden dünnen Körper, meinen Bauch an seinem. Ich wälze seinen Körper herum, presse meine Brüste an seinen Rücken, schicke meine Zunge in seine Ohrmuschel. Ich erkunde mit den Händen sein Gesäß, versuche mir alles genau einzuprägen. Aber Kilian ist schon fort, ich spüre nur den Wachsmann.
Zärtlichkeit überschwemmt mich plötzlich. Ich bin nicht vorbereitet auf die Flammen, die sich durch meine Eingeweide in das Gehirn brennen. Meine Finger verschränken sich mit blassen Händen, drücken kräftig zu. Doch es ist nicht Kilian, den ich spüre, für den ich so empfinde. Mein erschreckendes Begehren gilt dem blassen Wachsmann unter mir, dem, was er jetzt ist: Schwester Renates Anziehpuppe. Kilian habe ich abgöttisch geliebt, den stummen Wachsmann hasse ich doch. Oder?
Verstört erstarre ich auf seinem nackten Körper, lasse mich herunter gleiten und suche mit fahrigen Händen meine Kleider zusammen. Auf den Hass und die Liebe ist kein Verlass. Glasklare Gefühle, dachte ich. Schließlich haben sie mich durch die Tage seit dem Unfall getragen. Jetzt kriege ich sie nicht mehr richtig zusammen oder auseinander. Bin ich eine Ehebrecherin?
Bestimmt spielen die Hormone verrückt, alles nur eine Schwangerschaftslaune! „Wolltest du es nicht nehmen wie es kommt“, lästern die Furien. Ihre Stimmen überschlagen sich wieder vor Gelächter, während ich meinem neuen Geliebten die Windel und das Krankenhaushemd überstreife. Ich muss hier raus. Der Fluchtinstinkt zerrt an mir, aber der Wachsmann will, dass ich bleibe. Stumm verspreche ich, ihn zu lieben, zu ehren, notfalls sogar waschen, bis dass der Tod uns scheidet, nur schnell weg. Ich decke ihn sorgfältig zu.
Dann hetzen mich die Furien den Krankenhausflur hinunter. „Du macht alles nur noch schlimmer“, toben sie. „Reicht dir nicht das Kind? Brauchst du noch einen Pflegefall? Große Windeln, kleine Windeln? Geht es um perversen Sex mit einem Scheintoten?“
„Schließlich bin ich seine Frau“, verteidige ich mich, „Es geht um Nähe, wie Schwester Renate sagt.“ Natürlich weiß ich genau, Kilian ist mein Mann, nicht der dünne, bleiche Wachsmann, mit dem ich gerade im Bett war. Oder? Die Furien lassen sich nicht von meinen Lügen täuschen. Mit ihrem bösen Gelächter peitschen sie mich zur Pforte. „Jetzt hast du ja, was du immer wolltest!“
„Manche sind Jahre später wieder aufgewacht“, kommt mir eine tröstende Stimme zu Hilfe, die ich noch nicht kenne. „Genau,“ bekräftigt eine zweite. „Er braucht dich, deine Hoffnung, deine Liebe. Verlass ihn nicht.“ „Ah, alte Bekannte!“, höhnen die Furien, „Hoffnung und Zuversicht, die Schwestern Grabes.“
Ich fliehe aus der Klinik. Die streitenden Stimmen verebben hinter der Schiebtür, draußen höre ich nur den stillen, kühlen Regen. „Hier kann der Wachsmann nicht bleiben“, erkläre ich meinem Kind. „Er ist müde. Und Schwester Renate wäscht ihn nicht mehr.“ Der Embryo schweigt verständig. „Wir holen ihn nach Hause und lassen ihn einfach ausschlafen.“