Die Legende der Königin von Nora B. Hagen
„Schokolade. Sofort!“ Anne war wieder da, knallte die Tür zu, ging mit raschen Schritten zum Kühlschrank und wühlte dort lauthals fluchend nach irgendwas Essbarem. Ab und zu schmiss sie eine leere Schachtel heraus, in der Käse oder sonst etwas gewesen war, und ließ sie achtlos auf den Boden fallen, mokierte sich über mein Geziefer und Schimmelpilze und was ich mir da sonst noch an den Hals holen würde. Mir war das ganz egal. Ihre Anfälle konnten einen zur Weißglut bringen, wenn man Wert auf Ordnung legte. Ich legte persönlich keinen Wert auf Ordnung, schon lange nicht mehr. Es war gut, dass sie wieder da war und etwas Leben in die Bude brachte.
Ich lehnte im Türrahmen und sah zu, wie sie einen Plastikbecher mit meiner letzten Mousse au chocolat aufriss, die Alufolie brach ab, sie fluchte schon wieder, warf die Hände nach oben, die braunen Haare schüttelten sich unter der Wollmütze, die Schublade, Schublade, irgendwo musste doch, aber ja, Schere – egal, gleich die langen Fingernägel benutzen, die Folie durchstechen, von der Mitte her aufzerren und den Inhalt mit einem kleinen Löffel herausarbeiten, das Ganze so heißhungrig verzehren, dass man den Eindruck bekam, sie hätte seit Wochen keinen Bissen mehr zwischen den Zähnen gehabt. Löffel, Schoko, Mund, Löffel, Schoko, Mund. In rasendem Tempo und selbstverständlich ohne jegliche Manieren.
Anne war klasse. Ihre Auftritte hatten immer etwas Grandioses, wenn sie in der Stimmung war, irgendwen anzuschreien. Letzte Woche hatte sie eine Kassiererin sowas von zur Schnecke gemacht, ich war mit ihr einkaufen gegangen, sie wollte etwas zurückbringen - so ein Teil vom Baumarkt halt – und weil die Kassiererin gerade keinen Geschäftsführer zur Seite hatte und Anne mies drauf war, hatte die Kassenfrau die volle Breitseite abbekommen. Ich stand hinter Anne, man konnte sich herrlich amüsieren über sowas. Die arme Sau vom Baumarkt war mir egal, es war ein einmaliges Schauspiel. Hinterher musste sie ihren Platz verlassen, weil sie so geheult hat. Ich hab gelacht, innerlich natürlich. Und lauter, als wir aus dem Laden raus waren. Anne war immer noch auf hundertachtzig, bis ich laut genug gelacht hatte, dass sie es hörte und auch wieder lachen konnte. Ein wenig zumindest.
Bevor sie meine (meine!) Mousse au chocolat nicht vertilgt hatte, konnte man sie nicht ansprechen. Ich wartete also, bis sie Löffel und Plastikbecher weggeworfen hatte, sich zufrieden in die Eckbank zurücklehnte, den Kopf in den Nacken warf und seufzte. Jetzt würde der Heulteil folgen.
„Na, wer isses diesmal?“
„Frag nicht so blöd. Der Typ von Freitag halt.“
Ah ja. Freitag. Die Party aller Partys. Ich konnte mich auch nicht mehr an seinen Namen erinnern. Janosch, Jojo, was weiß ich. Struwwelfrisur und total schüchtern.
„Was hat er gemacht?“
„Er hat nicht mehr zurückgerufen, das Arsch. Weißt du, ich hasse es, wenn dich Jungs in so nem Glauben lassen, dass du toll bist und alles ist in Ordnung, und dann rufst du sie an und willst nur kurz mit ihnen Quatschen, von wegen ob wir uns treffen können oder so, da war der schon so – weiß nich, viel zu höflich halt, ha'm wir uns trotzdem verabredet, ja, und der Typ, dieser - !“ - sie machte eine Würgebewegung mit den Händen - „der taucht nicht auf, ich bin voll angepisst, ruf ihn an, frag ihn was das soll, ob er mich nich mehr leiden kann, sagt der glatt ja und dass es das jetzt war, war sehr nett mit dir, hey, danke schön! Kotzbrocken!“
Ah so. Sie war also zu heiß für diesen Schüchterling. Immer dieselben. Warum blieb es sich nur immer so gleich, warum war es so einfach, jedes Mal vorauszusagen, wohin sich alles wenden würde – sah sie es nicht? Anne, das Vollblutfohlen, Überkomet, Gewitterbiene, schön war sie, laut und arrogant dazu. Sie konnte Leute im Gang umknicken und bemerkte es nicht einmal.
„Na, dann weißt du ja wenigstens, woran du jetzt bist“, sagte ich und zog ein wenig die Augenbrauen hoch. Tee vielleicht. Das wär ganz gut jetzt, dachte ich und nahm den Wasserkocher zur Hand.
„Tolle Hilfe bist du.“ Ein böser braunäugiger Blick in meine Richtung. Wer nicht an ihrem Drama teilnahm, konnte draußen bleiben. Ich drehte mich um.
„Was willst du denn, bitte schön? Ich kann ihn dir auch nicht zurückholen, ich kenn ihn ja nicht mal! Oder wie stellst du dir das vor, ich geh zu seinem Haus, das ich nicht kenne, klingel an seiner Tür, die ich nicht kenne, und sag, hi, hier ist die Freundin von Anne, sie würde dir gern eine klatschen, du Idiot, aber sie lässt dir ausrichten, dass du gefälligst zurückkommen und ihr den Hof machen sollst!“
Annes Augen schleuderten Dolche in meine Richtung. Mit verschränkten Armen suchte sie nach einer neuen Strategie, um etwas zu erwidern. Das Telefonklingeln warf uns beide aus der Bahn. „Meins!“ brüllte Anne, sprang auf und erwischte den Hörer, bevor ich auch nur piep sagen konnte. Es gab Tage, an denen sie wirklich nicht auszuhalten war. Wahrscheinlich war dieser einer davon.
„Markus! Oh, dich hatte ich gar nicht erwartet...nein, nein... ähm, Lucia meinte, dass ihre Eltern sie vielleicht – was? - ach mir, ganz okay eigentlich...“ Während das Wasser anfing zu kochen, bewunderte ich sie im Stillen für ihre Fähigkeit, sofort wieder aufs Flirten umschalten zu können. Jojo? Vergessen. Dafür hatte sie nicht mal eine Sekunde gebraucht, so, wie sie jetzt klang. Fast schien sie in den Hörer hinein kriechen zu wollen, so zugewandt, angespannt, großäugig und verdammt niedlich saß sie da, auf unserer Eckbank, spielte mit ihren langen braunen Haaren und war ein Bild für Warhol, oder Hopper – nein, einen Hopper würde sie nie abgeben, sie war verbunden, angebunden, eingefügt in diese Welt; keine einsame Gestalt, isoliert von allen und allem, in sich versunken bis hinein in die letzte Leere, die übrig bleibt, wenn alle einen vergessen haben und man immer noch darauf wartet, abgeholt zu werden. Das sah eher nach mir aus.
Wie sie da saß. Wenn man sich den Blick eines Mannes zulegte, konnte man sogar ihr regelmäßiges nervöses Fußnicken spannend finden. Goya vielleicht. Sie sprühte ihre ganze Erotik in unsere Küche hinein, vollkommene Verschwendung, weil nur ich sie sah. Sie strahlte, lachte, die Zähne blitzten, sie war ganz Anne. Ich sah auf die Uhr. Der Rekord lag bei fünf Minuten. Sie brauchte sechs. Der Hörer knallte auf die Gabel.
„Wann kommt er?“
„Neun. Ich muss duschen.“
Sie verschwand Richtung Badezimmer. Von dort würde sie vor einer Stunde nicht wieder herauskommen. So lief das. Schokolade, heulen, telefonieren, duschen, der nächste. Zur Zeit waren es drei, wie ich wusste. Janosch oder wie er hieß war der Neuzugang. Mit dem hatte sie nur dieses Wochenende zu tun gehabt, in Köln, irgendwo getroffen und ihn wahrscheinlich vernascht. Oder es versucht. Keine Ahnung. Sie war erst am nächsten Tag wiedergekommen. Dann gab es Daniel, der irgendwo in Neuseeland wohnte und mit dem sie eine intensive Chatbekanntschaft pflegte. Stunden vor dem Computer, bis tief in die Nacht hinein, wegen der Zeitverschiebung. Und Benni natürlich. Der arme. Hatte überhaupt nichts mit ihr gemeinsam, kam aber jeden Samstag um zwei mit immer demselben Blumenstrauß vor die Tür. Ich hatte ihm ein paar Mal aufgemacht. Er roch nach Parfum und war ein wenig zu dick, sowohl für meinen als auch für Annes Geschmack, und kämmte sich die Haare nach hinten, um besser auszusehen. Mehr wie James Bond. Tatsächlich verstärkte das nur sein rundes, leeres Gesicht. Er würde Beamter werden, oder Bankkaufmann, oder sonst etwas in der Art. Ich fand ihn langweilig und konnte nicht verstehen, wieso Anne ihn nicht längst fallen gelassen hatte. Er passte überhaupt nicht zu ihr. Und jetzt Markus. Der würde wohl diesen Kölner Schluffi ersetzen.
Auf dem Fußboden lagen immer noch die Reste meines verwüsteten Kühlschrankfaches. Kein Anblick für Besucher. Also aufräumen, wie immer übernahm ich das. Verschiedene Teile auf dem Fußboden. Eins nach dem anderen, ganz langsam. Runter auf die Knie. Beine einfalten. Da war die leere Käseschachtel. Eine Tüte mit gelbem Brokkoli. Ein Sellerierest. Eine angematschte Gurke, die ich seit ein oder zwei Wochen nicht mehr gesehen hatte. Vielleicht war auch gar nichts mehr im Fach. Nach der Notration Mousse au chocolat dürfte es leer sein. Ich wusste noch, dass ich mir die an einem Tag gekauft hatte, an dem ich mir fest vorgenommen hatte, mal wieder etwas mehr zu essen, und regelmäßiger. Wollte mich dadurch motivieren, dass ich mir etwas Leckeres kaufte, etwas, worauf ich bestimmt Appetit haben würde. Schokolade halt. Die war jetzt weg. Aufgefressen von Anne. Anne aufgefressen hat. Anne aufgefressen. Stopp. Hände an den Kopf. Niemand darf sie essen, niemand darf sie essen, nicht Anne, meine schöne Anne, meine liebe Anne darf nicht gefressen werden -
Atmen. Augen kurz zu machen. Es ist okay. Sie ist da. Nichts ist passiert. Anne macht das, was Anne gut tut. Lucia macht das, was Lucia gut tut. Lucia braucht neue Schokolade. Ich sollte also wieder mal einkaufen gehen. Lucia nimmt die Plastiksachen und die Sellerie und den Brokkoli und tut sie in den Müll, wischt den Tisch ab, Lucia kann das. Einkaufen kann sie auch. Sie kann sich eine Jacke anziehen, die Handtasche nehmen, einen Schal um den Hals tun, nachgucken, dass sie ihren Schlüssel nicht vergisst, die Tür ins Schloss ziehen, und wieder groß sein. Toll, was das Gehirn alles kann. Klein sein, groß sein, ganz nach Bedarf. Treppen runter, der Flur riecht nach chinesischem Essen.
Es ist kalt draußen. Die Finger beschweren sich. Keine Handschuhe mitgenommen. Das Fahrradschloss ist eine fiese Schlange und schlägt mich, als ich es in eine Richtung biegen will, die ihm nicht passt. Fahrrad fahren zum Supermarkt. Vorbei an der Baustelle, sie machen den Radweg neu. Eine Ampel, zwei Ampeln. Da rechts ist das Gartentor, ein riesiges verschnörkeltes Ding, ich wollte unbedingt einmal wissen, was dahinter ist. Aber es ist verschlossen. Und ich muss einkaufen. Später vielleicht. Weiter fahren. Ich versuche es freihändig, es klappt, ich kann die Balance halten auf dem Sattel, und meine Frierfinger in die Jackentasche stecken. Wunderbar.
Drinnen. Suchen. Hinter der Drehtür lagert Tee. Ich mag einen leckeren haben und wühle alle Kisten durch nach irgendetwas Besonderem. Hagebutte, Pfefferminze, langweilig, Rooibostee kann ich auch nicht mehr sehen, grünen Tee haben sie nicht. Dann die aromatisierten Tees mit diesen furchtbaren Zwangsnamen. Wonne des Augenblicks oder Genießerglück oder wie auch immer die heißen. Da weiß dann niemand mehr, was eigentlich drin ist in dem Gebräu.
Vanilletee, Wohlfühltee, Träum-schön-Tee... meine Gedanken schweifen ab, was wollte ich eigentlich noch kaufen? Käse, bestimmt, Brot eventuell, ausnahmsweise, und vielleicht trau ich mich auch an etwas Obst...
Liebestraum. Steht da. Tee, mit Kirsche aromatisiert. Geschmacksrichtung „richtig süß“. Sie haben ein Pärchen darauf gemalt. Eine Frau, einen Mann. Sie sind kurz davor, sich zu küssen. Dieser rote Hintergrund -
Ich merke genau, wie etwas gefriert. Innen, irgendwo. Kalt wird, richtig kalt. Und hart. Ich lasse alle Teeschachteln los. Ich gehe weg vom Regal. Die nächste Kurve zur Kasse, ohne nachzudenken raus da. Jemand ruft mir etwas nach, ich verstehe es nicht. Irgendwo bin ich angerempelt, es ist mir egal. Schneller gehen. Mehr Kälte, mehr Kälte. Ich brauche kalte, fremde Luft. Die Schiebetüren öffnen und schließen sich. Einatmen. Jetzt zum Fahrrad. Abschließen. Das Fahrradschloss haut mich. Für mich ist das in Ordnung. Wenigstens tut es weh. Das ist real, das ist gesund. Und macht die Haut etwas roter. Aufsteigen, zurückfahren. Den Tee vergessen. Einkaufen kann ich auch später. Oder morgen. Aber in einem anderen Laden.
Ich fahre, die Beine bewegen sich, regelmäßig, mein Atem dampft in der Luft. Da ist das Tor. Grau, alt, verschnörkelt. Dahinter liegt ein verwucherter Garten. Ich steige ab. Es ist so grün dort. Gras und alles. Bäume. Ein Weg, schwarz von Kies. Farnkraut. Und niemand sonst unterwegs. Erst jetzt sehe ich, dass es einen kleinen Trampelpfad gibt, der an dem Tor vorbei führt. Es sind wohl noch andere auf die Idee gekommen, sich einen Eingang zu suchen. Ich schließe mein Fahrrad an den Eisenstangen an und schleiche mich um das Gitter herum. Niemand. Verlassen und still schauen die Pflanzen nach oben. Es duftet nach grün. Kiefern, Tannen und Laubbäume stehen ohne Ordnung durcheinander. Die Erde ist schwarz unter den Büschen, locker und weich. Der Weg knirscht, wenn man auf ihm geht. Meine Finger wandern wieder in ihre Jackentaschen. Es ist immer noch kalt, und gerade gibt es nichts Angenehmeres als diese Kälte, meinen wolkigen Atem, das Grün. Man müsste jemanden hier haben. Zuerst denke ich an Anne, aber dann glaube ich, dass es besser ist, allein hier herum zu gehen. Es wäre zu einsam für sie. Anne braucht Leben, Chaos und Menschen um sich. Hier wäre es ihr zu ruhig.
Für eine Weile bin ich in einer anderen Welt. War es nicht so, dass die Menschen zuerst die Natur angebetet haben? Sonne, Mond, die Erde. Alles, was sie nicht verstanden. Frühling, Sommer, Herbst, der Winter. Wie soll ein einziger Mensch das begreifen? Ich stelle mir vor, wie die hohen Bäume ihre Äste zusammenführen, wie die Stämme zu einer Kathedrale werden, einem Heiligtum. Wie man hier Rituale für ganz andere Gottheiten und Geister feiern würde, die wir heute nicht mehr kennen. Die Steine. Das Wasser. Die Tiere. Indianer sein, wilder Steinzeitmensch sein, und einfach leben, sich so in dieses Leben hinein träumen, dass die übrige Welt außerhalb von einem selbst ganz versinkt. Jagen, mit Pfeil und Speer und Bogen. Laufen, und rennen, barfuß, mit anderen, schwitzend, einem Tier hinterher, einem Reh, einem Hirsch vielleicht, einen Speer schleudern, einen Pfeil zielen - Anne darf nicht gefressen werden.
Plötzlich weiß ich, dass ich sie retten muss. Ich allein. Zwanzig nach neun, ich muss mich beeilen. Ich renne, laufe, hetze aus dem Garten, das Fahrrad abketten, ich mache das Schloss ab, es gehorcht mir, aufsteigen, schneller, er ist schon bei ihr, wie lange braucht sie, um ihn rumzukriegen, mit ihm zu schlafen, sie ist so schnell geworden in ihren Mitteln, wie sie die Fäden zieht, ihn zu ihr lockt - ich würde ihn rauswerfen, alle rauswerfen, Anne diesen Tee schenken - schneller fahren, Lucia, schneller, tritt in die Pedale, ihr Leben hängt davon ab, weiter!
Rasen. Über die erste Ampel. Über die zweite Ampel. Beide sind rot. Es ist mir egal.
Anhalten, Fahrrad fallen lassen, Treppe hoch, zwei Stufen auf einmal, aufschließen, „Markus, du Arsch! Wo bist du?!“ Ich brülle, ich jage, ich brenne. Ihr Zimmer. Tür aufmachen, sie knallt gegen die Wand dahinter, niemand ist da. Wo ist sie. „Anne?!“
Das Bad. Da brennt Licht. Die Tür ist verschlossen.
„Anne, mach auf. Ich bin's.“
Nichts. Ich kriege ernsthafte Angst. Was ist, wenn sie da drin ist. Und ich hier draußen bin. Wenn sie kotzt. Und nicht mehr atmen kann. Oder wenn er sie tatsächlich – das Bild von Blut - ich kenne ihn nicht -
Ein Schlüssel dreht sich. Sie ist da, gebeugt, geknickt, gebrochen. Eine Hand legt sich auf meine Schulter, krallt sich in meine Kleidung. Ich will etwas sagen und traue mich nicht. Ihre Hand ist unerbittlich; die Finger sind hart und verkrampft, drücken meine Schulter zusammen wie Metall. Sie führt mich in die Küche, öffnet die andere Hand und blättert zwei Hunderter auf den Tisch. „Er hat gesagt, das stimmt so.“
Es ist still, einen Moment lang. Dann lacht sie.