Markus Werner zwischen den Zähnen von Ferenc Liebig
Sie sagte, dich muss man auch an jedem Buchladen vorbeischleppen, du bist unersättlich. Recht hat sie. Ich möchte mehr verschlingen als rein passt, in diesen weitgeöffneten Schlund. Und so bin ich immer auf der Suche nach neuen Autoren, die mich fesseln. Erst mit neunzehn fing es richtig an. Die Literatur gab mir einen Rückzugsort, fernab dieser hässlichen Auswüchse des Lebens. Ja, ich bin ein Spätzünder. Dafür ein leidenschaftlicher.Der Herbst hat es geschafft. Ohne sich davon abbringen zu lassen, hat er den Sommer überrollt. Linke Spur und Vollgas. Alles was im Weg stand wurde dem Erdboden gleichgemacht. Die kahlen Bäume in unserer Straße und die Laubansammlungen auf den Bürgersteigen machen mich traurig. Diese Endgültigkeit lässt sich nicht schönreden. Man kann sie nur akzeptieren oder daran zu Grunde gehen. Ich sitze auf meinem Bett, lese Maya Rasker und möchte mit den Veränderungen nichts zu tun haben. So bin ich. Ein Gewohnheitstier.
Wenn ich unterwegs bin, habe ich immer zwei Bücher dabei. Eins für die Momente und ein anderes zum Fliehen. Ich komme mir sonst nackt vor. Als würde mir die entscheidende Hülle zur Selbstverteidigung fehlen. Die Worte beschützen mich. Jedenfalls will ich es so. Und dabei sind sie mehr als zerbrechlich.
Ich habe das Gefühl alles kaputt zu machen, was sich gut anfühlt. Meine Liebeserklärungen finden nie den richtigen Adressaten.
Wir telefonieren. Unsere aktuelle Lieblingsbeschäftigung. Ich erzähle ihr von Michel Houellebecq, den ich nicht einfach liegen lassen konnte, und von Joe Stretch, der mich von Anfang an, schon von Weitem, angelächelt hatte. Sie stöhnt, aber stichelt nicht weiter nach. Sie weiß, dass ich mich bemühe, mich versuche zusammenzureißen. Ohne sie komme ich nur schlecht an den Buchläden vorbei, die meinen Weg zur Bushaltestelle kreuzen. Drei an der Zahl. Einer mit dauerhaft stark vergünstigten Mängelexemplaren, der zweite in der Lindenstraße mit dieser ganz bestimmten Atmosphäre und der dritte, weil er halt neben meiner Bushaltestelle liegt. Ich komme mir blöd vor, bereue es, ihr von meinem Einkäufen erzählt zu haben. Kurz nachdem sie auflegt, schaue ich aus dem Fenster und starre auf die ungeschriebenen Geschichten. Ich habe mehr Leben gelebt und mein eigenes schon längst vergessen.
Ich stehe bei Popovic in der Küche, trinke Bier und fühle mich von mir selbst verlassen. Die Sonne ist längst untergegangen, die knöchrigen Bäume vor seinem Fenster haben sich in der Dunkelheit versteckt. Ich spüre die klirrende Kälte, ohne sie wahrzunehmen. Da draußen herrscht ein anderer Krieg. Popovic macht das Licht am Abzug an und wirft die kleingeschnittenen Zwiebelwürfel ins siedende Öl.
Meine erste große Liebe war Charles Bukowski, meine erste Geliebte Haruki Murakami. Danach wurde alles zum Selbstläufer. Fast jedes Buch, das in meinen Händen landete, wartete nur darauf gelesen zu werden. Ich fing an ein paar große Klassiker aus den Regalen meiner Eltern zu klauen und kaufte in regelmäßig kurzen Abstände die Kramkisten und Neuheitentische leer. Die meisten hielten, was sie mir versprochen hatten.
Vormittags sitze ich häufig in der Leseecke der Bibliothek, mit einem meiner Bücher und beobachte die Menschen um mich herum. Die meisten lesen die Zeitungen, sind älter als vierzig und haben die Ruhe weg. Das gefällt mir. Dieses mit der Zeit schwimmen anstatt dagegen. Sie holen sich Kaffee am Bistro, pusten den Dampf aus ihren Bechern, schlagen die knittrigen gräulichen Blätter um, gehen eine Zigarette im Innenhof rauchen, lesen weiter und kämpfen sich bis zur letzten Seite durch. Häufig verschwinde ich gegen ein Uhr, gehe nach Hause und stelle fest, dass ich viel zu isoliert bin.
Mein Octavio Paz Tag: Liebe suchen. Ich rufe sie an und jammere über die Einsamkeit. Metapheresiere die Sehnsucht am laufenden Band und wühle mich durch den Dreck, der sich in meiner Seele breit macht. Aufräumen unmöglich, das Chaos verteilt sich bis in die hintersten Ecken. Sie könne das nicht ändern, wirft sie dazwischen. Wie sollte sie auch? Als hätte ich es nicht gewusst. Vierhundertdreiundzwanzig Kilometer Luftlinie trennen uns, sagt das Internet und jeder einzelne Kilometer jagt mir mehr Angst als der vorige ein. Es wird Tag um Tag früher dunkel. Manchmal denke ich, meiner Kindheit ganz nah zu sein.
Ich lege Milan Kundera zu dem gelesen Stapel, der langsam zu einem Hochhaus mutiert. Bald wird da eine ganze Stadt stehen und so aussehen wie Manhattan. Der Verkehr ebbt ab und draußen kann man nicht erkennen wie spät es ist. Ich würde dem Himmel jede Uhrzeit abnehmen. Im Radio spielen sie Jeff Buckley. Ich ziehe die Vorhänge zu und masturbiere, um mich besser zu fühlen. Gelingt nicht ganz, der Nachgeschmack der Melancholie bleibt haften.
Popovic erklärt mir den Unterschied zwischen Pumpensystemen. Ich höre nur mit einem Ohr zu, starre in meine Karten und selbst hier verlässt mich das Glück. Ich möchte mit ihr telefonieren und ihr sagen, dass sie mir den Boden unter den Füssen wegreißt, dass ich ohne sie den Bezug zu meinen Leben mehr und mehr verliere. Popovic deckt auf und sagt zögernd, wenigstens Glück in der Liebe. Wie falsch er damit liegt. Ich stelle nichts richtig und verschwinde schweigend nach Hause. Ernst Jandl liegt auf meinem Kopfkissen, setzt der Welt einen Spiegel vor.
Ist es Hunger oder Übersättigung? Ich werde träge. Bloß keinen überflüssigen Schritt mehr. Für mich sind Anfänge genauso schwer wie für andere. Ich glaube nicht an das, was vor meinen Augen geschieht. In meinem Kostüm ist es stickig. Es riecht nach kaltem Zigarettenrauch. Ich tendiere zu Hunger. In den Büchern, die ich wie wild verschlinge, machen sie auch nichts anderes mehr. Irgendwo die nahrhafte Botschaft, tausendmal durch den Häcksler gejagt. Warum Hunger? Das Leben kann nicht satt machen. Der Konsum verstopft nur meine Arterien und lässt meine Cholesterinwerte nach oben schnellen. Immer wieder die gleichen Erkenntnisse. Die Aufregung und die Neugier sind der Lethargie und dem Sekundenschlaf gewichen. Lionel Solveigh singt über die Liebe. Glücklich macht ihn das auch nicht. Ich ziehe mir meine Schuhe an. Hunger heißt nicht barfuß. Draußen Verkehrslärm. Die Monotonie kotzt mich an. Seit Tagen hängen graue Wolken über der Stadt als könnten sie jeden Augenblick losplärren. Sie vereinen sich und werden immer fetter, schwellen zu einem riesigen Geschwür an, das an meiner Seele nagt. Der Vater meiner Freundin sagte, ich sei urban. Momentan bezweifle ich das. Ich altere zu schnell. Kopfschmerzen, Mangelerscheinungen, Kreislaufprobleme. Die Körperhülle wird porös.
Du hast recht. Es ist der Hunger, sage ich zu ihr, nachdem sie mich vom Bahnhof abholt, mir sanft durchs Haar streicht. Ich möchte sie küssen, halte mich aber zurück. So als wäre es nicht für mich bestimmt, ihre weichen Lippen ins Visier zu nehmen. Sie wirkt reserviert, in sich gekehrt, weicht meinen verunsicherten Blicken aus. So kenne ich sie nicht, so weit weg von mir, obwohl ich sie berühren könnte. Wir laufen durch die eintönigen Straßen und schweigen uns die meiste Zeit an.
Als wir nebeneinander liegen, ich von Jorge Bucay anstatt von ihr schwärme, schaut sie mich lange und tief an, sagt flüsternd mit einer Träne an der Wange: ich kann das nicht mehr. Ich liebe dich, aber du liebst etwas anderes. Ich versuche mich vehement zu wehren, doch meine Stimme bleibt weg. In meinem Kopf überschlägt sich alles, von einem Augenblick zum nächsten fühle ich mich unglaublich leer. Ich verstehe sie, glaube ich zumindest. Am nächsten Morgen bringt sie mich zum Zug. Wir verabschieden uns trocken. Im Abteil setze ich mich ans Fenster und grüße Javier Salinas.
Zuhause ist es kalt. Die Wohnung ist unterkühlt. Ich mache die Heizung an und schaue im Fernsehen eine Sendung über Frauen, die sich von ihren Familien austauschen lassen. Alles gestellt. Die tun doch nur so schockiert und ärgerlich. Abneigung nistet sich bei mir ein. Ich schalte aus und schließe meine Augen. Ich stelle mir den jungen Hemingway vor, braungebräunt.
Bilanz meines Lebens: Ich habe alles verloren, was ich noch hatte. Mir bleibt nicht mehr als die Möglichkeit von vorne anzufangen. Es ist weit nach Mitternacht, ich höre Blumfeld und frage mich, wo der Künstler sucht, um sich selbst zu finden. Der Geruch ihrer frisch gewaschenen Haare geht nicht mehr aus meinem Kopf.
Neben dem Telefon zu kauern hilft auch nicht. Kein Anruf. Ich vermisse sie. Blättere lustlos durch Hans Kruppa und lese wie Liebe auch sein könnte. Unter gewissen Umständen. Abends zu Popovic Bier trinken und langweilen, weil mehr nicht drin ist. Momentan. Das Fernsehen wiederholt sich. Wir reden über Politik und müssen uns eingestehen nichts ändern zu können. Die haben sich das Alle viel zu gemütlich neben ihren Kontoauszügen gemacht. Draußen wird es nebelig. Der Mond ist nur noch schwach zu erkennen.
Zum Einschlafen lese ich Frederic Beigbeder und fühle mich hundselend. Meine Hoffnung an die Liebe scheint versiegt. Ich drehe mich auf die Seite und träume von ihr, wie sie sich mit einem ihrer Dozenten vergnügt.
Der Hunger bleibt. Bei Wist stehe ich vor den dunklen Holzregalen und ziehe Wallner, Gavalda, Tellkamp, einem nach dem Anderen aus der Reihe und stelle mich mit gesenktem Kopf an die Kasse an. Aus irgendeinem Grund habe ich meinen Einsatz verpasst und stehe ich nun, von mir selbst vergessen, in der Schlange und schaue sehnsüchtig nach links und rechts. Sie ist nirgends zu entdecken. Vor mir steht eine Studentin und umklammert erwartungsfreudig Michael Ondaatje, der sich einen silbernen Bestselleraufkleber auf die Stirn gepresst hat. Ich würde ihr davon abraten und sie an Melissa Paranello oder Charlotte Roche verweisen. Als ich den Laden verlasse wird mir mulmig. Ich denke an sie, fortwährend. Warum nur, frage ich mich. Es gibt keine Antwort, kein Richtig oder Falsch.
Manche suchen jahrelang oder noch länger nach ihrem idealen Partner. Ich habe ihr nie gesagt, wie wichtig sie für mich ist. Ich spaziere mit meinem Lieblingspullover durch die erkältete Stadt, so als hätte ich die entscheidende Wette mit der Liebe verloren. Ich würde gerne etwas anderes glauben. Als ich nach Hause komme, stelle ich enttäuscht fest, dass für mich hier kein Platz mehr ist.
Ich schaue zum Telefon. Kein Anruf in Abwesenheit. Diskutiere mit John Stuart Mill über die Freiheit, bis ich zu müde werde, um meine Augen noch offen zu halten. Ein komisches Gefühl. Auch in der Freiheit sind wir eingesperrt. Wir werden es immer sein. Es regnet, ich höre es leise prasseln.
Ihre Stimme fehlt mir. Mir kommt alles belanglos vor. Ich erinnere mich an unsere Tage in der gemeinsamen Wohnung, bevor sie wegziehen wollte, um ihre letzte große Chance zu nutzen. Wir lagen häufig im Bett und ich las ihr Oscar Wilde und Allen Ginsberg vor und ab und zu konnten wir unsere Leidenschaft nicht mehr bremsen, fielen übereinander her und ich konnte vergessen, wie schwer die Liebe auf Pablo Nerudas Schultern lastete. Uns umgab damals eine Blase, in die nur wir beide hineinschlüpfen konnten. Und in dieser Blase herrschten keine Zweifel oder Hemmungen. Ich glaubte so zu sein, wie ich es wirklich bin. Heute weiß ich, dass man nie weiß, wann man sich selbst gefunden hat. Abends saßen wir oft stundenlang vor dem Fenster, beobachteten die sich in schwarze Gewände packende Nacht, tranken Rotwein und hatten den Dreh raus.
Mit mir im Bus sitzt Clemens Meyer und erzählt mir von Jugend in Leipzig. Damals, als die Mauer noch nicht lange gefallen war. Die Sonne scheint mit voller Kraft durch die schmutzigen Scheiben, wirft fleckige Schatten auf die erstmals berührten Seiten. Als wir über die Brücke von Werder nach Geltow fahren, schaue ich hoch und werde wehmütig im Angesicht der grauen aufgewühlten Oberfläche des Sees. Ich weiß nicht warum, aber ich fühle mich unglaublich jung und gleichzeitig vom Leben in Mangel in genommen.
Ich rufe in ihrer WG an. Einer der Mitbewohner meldet sich, ist kurz angebunden und sagt, er schreibe ihr einen Zettel. Ich warte. Ich komme mir so vor, als würde ich immer nur warten. Wenn ich warte fällt es mir wesentlich schwerer konzentriert zu lesen. Ich springe dann durch die Zeilen und kann mich an den vorigen Abschnitt nur noch schleierhaft erinnern. Sie hat mein Herz rausgerissen und ist einfach damit verschwunden. Keine Ahnung was sie als nächstes damit anstellt. Vielleicht hat sie es schon längst durch den Reißwolf gejagt. Ich versuche Ulla Hahn zu verstehen, finde aber keinen klaren Gedanken.
Die Wohltat’sche wirft wieder mit Mängelexemplaren um sich. Drei Euro für einen Briefwechsel von Vladimir Nabokov mit Edmund Wilson, zwei Euro für einen Gedichtband von Lioba Happel und vier Euro fünfzig für Vargas Llosa. Ich bräuchte eine Tüte sage ich zur Kassiererin, die abgenutzt aussieht. Als sie mir die Quittung mit dem Wechselgeld auf den Tresen legt, sehe ich die wulstigen Adern auf ihrem Handrücken. Ich beneide sie nicht um ihre Augen. Von Verzweiflung bis Enttäuschung ist dort alles zu erkennen. Das Weiß blutunterlaufen, die Tränensäcke geschwollen. Manchen steht das Leben wahrhaft ins Gesicht. Notiz: In den Spiegel schauen und suchen.
Das Telefon klingelt aufdringlich. Ich nehme den Hörer ab und sie tastet sich an mich heran. Ein kratziges wie geht es dir, ein angespanntes Durchatmen. Wir reden über die Veränderungen und den Herbst, der mich verzweifeln lässt, weil für uns kein Rückfahrticket bereitgelegt wurde. Sie wollte es so. Das macht sie mir deutlich. Nach zehn Minuten haben wir alles gesagt, den oberflächlichen Gesprächsstoff erschöpft. Für mehr taugen wir nicht mehr.
Mein Magen grummelt. Ich habe unglaublichen Hunger. Aber bin irgendwie nicht fähig etwas zu essen. In meinem Kühlschrank sind nur Sachen, die mich an sie erinnern. Ich lege Bob Dylan auf, setze mich mit einer Flasche Ketchup vors Bücherregal und tue lange Zeit nichts, bis ich das erste Buch herausziehe. Am Hang von Markus Werner. Eine deutliche Erinnerung. Es war im Frühling. Ich saß oft an der Spree, genoss das Wetter und wollte niemals aus diesen Dialogen aufwachen. Bis ich zur letzten Seite kam und mich damit zufrieden geben musste, dass diese Welt aufhört. Ich reiße einzelne Seiten raus, verkleinere sie zu winzigen Schnipseln, auf denen nur noch einzelne Fragmente sind, schütte Ketchup rüber, stochere mit dem Löffel rum, bis ich mich traue. Ich ernähre mich von Literatur.