So etwas wie Heißhunger von Anika Hartig
Als ich sieben war, habe ich einmal rote Beeren gegessen und den ganzen Tag darauf gewartet zu sterben. Ich lag geduscht und gekämmt im frischbezogenen Bett unter der Decke. So wollte ich gefunden und begraben werden. Ich bin nicht gestorben, mir wurde nicht mal schlecht. Abends rief mich meine Mutter zum Essen und ich kam etwas entäuscht an den Tisch.
Mit sechzehn schwam ich so weit weg vom Strand, dass meine Mutter mit einem Fischer in seinem Boot kommen musste um mich zu holen. Ich war wütend, weil sie mich wie einen Sack Kartoffeln an Bord zogen und sie war wütend, weil ich nicht zurückgekommen war. Warum machst du so einen Unsinn? Du hättest ertrinken können. Ich bin nicht ertrunken, ich habe mich nicht mal erkältet.
Heute ist Herbstanfang und ich fahre mit dem Rad über das Kopfsteinpflaster beim Blücherplatz zu einer Gruppe Kastanien. Ende August waren die Blätter schon braun und welk. Die Bäume sind krank, vielleicht muss man sie bald alle abholzen. Kastanien aber werfen sie ab. Sie liegen wie braune Augen mit hellem Augapfel in der aufgeplatzten Schale im Gras oder prasseln auf parkende Autos. Ich sammele so viele, dass die Tasche überquillt und sie beim Fahren in den Fahrradkorb kullern. Zuhause kippe ich den Inhalt der Tasche in eine große Schale. Wie poliert glänzen sie.
Später kommt er vorbei. Ich habe ihn auf einer Party in einem Keller kennen gelernt. Er küsst wie ein kleiner Spatz, der seinen Schnabel gierig auf und zu macht bis die Mutter ihm einen Wurm reinwirft. Wir gehen mit zwei Freunden aus und tanzen. Die Musik wechselt zwischen eindringlichem Pochen und Wellen von hohen Klängen. Ich habe mich ein bisschen zu viel geschminkt, aber das macht nichts, bei den bunten Lichtkegeln sieht jeder entweder zu blass oder zu grell aus. Der eine Freund bringt mir etwas zu trinken, ich weiß nicht wie oft und ich sauge das Glas durch den Strohhalm bis zum letzten Tropfen leer. Reicht das nicht langsam, fragt er, aber es klingt nicht wie eine Frage, sondern mehr wie eine Feststellung. Ich werfe die Arme hoch zur nächsten Welle Musik.
Danach laufen wir zu mir. Ich muss mir dir reden, ich muss mit dir reden, sage ich. Dann red doch, erwidert er. Ich wünsche mir so sehr, dass ich still sein könnte. Ich wünsche mir so sehr, dass ich mal zufrieden sein könnte mit der Stille so wie er. Wie als ich ihn vom Bahnhof abholte. Er hatte schlechte Laune sagte, lass mich einfach gehen und ich hätte still sein sollen, aber stattdessen habe ich geredet und geredet. Es wird ihn nerven. Ich merke es an seinen Augen, an seinen ungeduldig umherschweifenden Augen. Er wollte es nicht und ich wusste es und trotzdem habe ich geredet. Meine Worte waren wie ein Hammer, der Eisblöcke zersplittert. Heute bin ich zu betrunken um lange zu reden und er ist zu betrunken, um richtig zuzuhören. In meinem Ohr rauscht immer noch die Musik und überall flackern Blitze in der Dunkelheit. Ich reiße die Arme hoch zur Musik.
Am nächsten Tag kommt sie zum Kaffee in die Konditorei an der Ecke. Meine Mutter sagt, du siehst schlecht aus.
Sie bestellt Kaffee und ein Stück Apfeltorte, aber als die Servierin mich freundlich anschaut, schüttele ich mit dem Kopf. Ich bestelle nur eine Tasse Kaffee. Dann kommt der Kuchen für die Mutter und ich gehe doch zur Theke. Ich esse ein Stück Schokoladentorte mit Vanilleeis, obwohl ich keinen Appetit habe. Nur Hunger, den habe ich eigentlich immer.
Erst willst du gar nicht Kaffee trinken gehen, dann doch, aber nur ohne Kuchen und dann ist du am Ende Cremetorte mit Eis. Du bist flippig und maßlos, aber das warst du schon als Kind.
Pastellfarbene Seide auf Badkacheln.
Sie erzählt von ihrem Job, wo es viel zu tun gibt weil die eine Kollegin andauernd krank und die andere in Elternzeit ist. Sie muss später noch Schuhspanner für ihre Stiefeletten kaufen, sagt sie, damit es keine Falten gibt. Das darf sie auf keinen Fall vergessen.
Warum hast du das getan, frage ich sie.
Blasse Wangen und frischrotes Blut, welches langsam dunkler wird. Ein kleines Mädchen kniet neben der sich ausbreitenden Lache, sie kann es nicht verhindern.
Das ist so lange her, sagt die Mutter.
In Blut getränkte Seide und Lichter so blau wie die Adern, aus denen das Blut rinnt.
Ich hätte doch alles getan, um dir das zu ersparen, sagt sie.
So ist der Lauf der Dinge. Man kratzt das getrocknete Blut von den Kacheln und wischt nass nach, bis man nichts mehr davon sieht.
Zuhause wird mir schlecht, aber ich kann mich nicht übergeben. Stattdessen liege ich wie ein nasser Jutesack auf dem Sofa und friere unter der Decke. Ich kann mir nicht vorstellen, jemals wieder etwas essen zu wollen.
* * *
Es ist Sturm. An der Küste nimmt man es mit Gelassenheit, meint, es sei ungemütlich, setzt sich in die Küche, trinkt Tee und liest Zeitung. Ich kann nicht drin sein. Die Bäume biegen sich, der Wind, diese Kraft. Ich muss raus, ich muss laufen, atmen, mich bewegen. Aber es ist doch Sturm, meint er entsetzt. Es ist mir egal. Dann gehe ich eben alleine. Zickig,aufmüpfig, eigensinnig. Es ist mir egal, denn ich muss raus. Er geht mit. Er versteht es nicht, aber er geht mit.
Irgendwann packte ich eine Tasche verließ das Haus früh morgens. Nebel hing in dichten Schwaden über dem Wasser bis zur Hörn. In einigen Fenstern brannte Licht und ich sah rotbäckige Männer, die mit ihren Hunden von ihrer Runde kamen und eine Tüte Brötchen mitbrachten. In Marseille teilte ich mir mit einer kleinen Französin eine winzige Wohnung. Ich wollte irgendwohin, wo es keine triefenden Morgenmäntel und rote Pfützen in Badezimmern gab. Wir verstanden uns gut, die Französin und ich. Morgens wuschen wir uns nacheinander die Haare im Waschbecken und rubbelten sie uns bei Milchkaffee in der engen Küche trocken. Zwei Jahre hielt ich es dort aus bis mein Französisch fast perfekt und mein Studium fast beendet war. Im Morgengrauen schleifte ich meine Tasche zum Bahnhof und fuhr weg, ohne mich noch mal umzudrehen. In den Gassen legten sich streunende Katzen schlafen, während vereinzelt Menschen die ersten Baguettes holten. Irgendwo lag meine Zimmergenossin und schlief. Ich verließ Marseille so wie ich Kiel verlassen hatte und begriff, dass auf diese Art jede Stadt gleich war.
Wir sollten reingehen, ruft er nach kurzer Zeit.
Dann geh doch, du Feigling.
Unschlüssig steht er da.
Feigling, Saftsack, Idiot. Dann geh doch, denke ich. Geh doch rein und jammere über das Wetter, schließ die Tür ab und komm erst raus, wenn alle anderen es tun.
Ich lege mich auf das Gras. Von unten ist es feucht und vom Himmel fallen die Tropfen. Am Himmel eilen vom Wind getriebene Wolken vorbei. Meine Hände krallen sich in das Gras. Ich will es spüren, ich will teil dieser Gewalt sein, die alle Leute nach drinnen verbannt, die Äste von Stämmen abtrennt und die Küste umspült. Ich liege auf dem Rasen und bin alleine mit dem Sturm.
* * *
Es ist Markttag. Mittwochs ist immer Markttag. Da dürfen keine Autos auf dem Exerzierplatz parken. Manche tun es natürlich trotzdem. Ich gehe erst eine Runde so zwischen den Ständen umher bevor ich etwas kaufe. Esskastanien liegen in einem Haufen neben frischen Austernpilzen und französischen Artischocken. Eine Frau probiert ein Stück Gelbwurst, welches ihr die Verkäuferin mit ihren geröteten Händen reicht. Es riecht nach feuchtem Papier, welken Blättern und Erde. Am Fischstand liegen Krabben und ganze Fische auf Eis. Ihre blinden Augen starren unablässig einen Punkt an. Ich fange an, einzukaufen. Ich weiß noch nicht, was ich kochen werde, aber es soll für zwei Personen sein. Für ihn und für mich. Ich kaufe Bamberger Hörnchen frisch vom Feld (zum Beweis haben sie noch eine Erdkruste) und Altländer Pflaumen und grüne Bohnen und ein Stück Rinderfilet. Zum Schluss noch eine Tüte voll Pilzen. Der feine Nieselregen wird kräftiger, die Verkäufer an den Ständen fluchen, manche decken ihre Ware zusätzlich ab. Es ist schön, auf den Markt zu gehen. Aus dem Augenwinkel sehe ich rote Astern mit langen Stielen und stelle mich an, um sie zu kaufen. Der Verkäufer hat eine grüne Weste an und einen verkümmerten Finger. Vielleicht von Geburt an, vielleicht hatte er aber auch einen Unfall. Die Frau vor mir kauft viele Blumen, sie stellt sich selbst ein riesiges Bouquet zusammen. Dann nimmt sie auch die roten Astern, meine schönen, scharlachroten Astern in ihren Strauß, der viel zu groß und viel zu bunt geworden ist. Ich bin an der Reihe und stammele, ob es noch von den roten Astern gäbe. Nein, die sind alle, sagt der Verkäufer. Die gibt es erst wieder am Samstag. Aber weiße, mehrfarbige, lila und orangene habe ich noch da. Ich kaufe einen Bund blasse Astern in einem Ton zwischen Rosa und Gelb. Mittlerweile schüttet es und die Plastiktüten schneiden in meine Handflächen ein.
Ich stelle zwei Pfannen auf, eine für die Pilze und eine für das Fleisch. Ich lege das Stück Rind auf das heiße Teflon und brate es gleichmäßig von allen Seiten an. Dann kommt es auf den Rost im Backofen. In der zweiten Pfanne schwitze ich Zwiebeln an. Das Telefon klingelt. Ich stelle den Herd kleiner, die Zwiebelstücke zischen leise im Öl. Es ist die Mutter, die sich erkundigt, wie es mir geht, was ich so treibe. Ich setze mich aufs Sofa und spreche mit ihr, kaue langsam ein paar Salzstangen, weil ich schon Hunger habe. Ich habe ganz vergessen, nach dem Frühstück noch etwas zu essen und jetzt ist es fast sechs. Es ist ein kurzes Gespräch, ich lege den Hörer auf und gehe zurück in die Küche. Dampf steigt aus der Pfanne auf. Die Zwiebeln sind verbrannt. Ich mache den Herd aus und kippe den Inhalt der Pfanne in den Mülleimer. Dann greife ich wieder zum Telefon und sage ihm, er soll nicht kommen. Ich kriege Migräne, ich fühle mich nicht so gut.
Fast glaube ich selbst, dass es mir nicht gut geht. Vielleicht ist es weniger gelogen, wenn ich jetzt wrklich krank werde. Ich liege im Bett und fröstele, mein Kopf fühlt sich zwei Nummern zu klein an. Irgendwann riecht es verbrannt aus der Küche. Das Fleisch. Ich schalte den Ofen aus und lass ihn auf, öffne das Fenster, schließe die Tür. Ich weine nicht, denn Tränen sind nicht erlaubt. Du musst schlucken und schlucken und ganz normal atmen, dann verschwinden sie von alleine. Ich liege im Bett und denke, jetzt ersticke ich an meinen eigenen Tränen. Stattdessen stehe ich auf und gehe in die Stadt, Schaufenster anschauen, irgendwas Schönes und Sinnloses kaufen, hauptsache raus, auf dem Weg irgendwohin sein.
Die Stadt ist voll und ich fühle mich wie elektrisiert von diesen vielen Menschen, die langsam die Holstenstraße runter schlendern. Bei Meislahn im Schaufenster sind Seidenmorgenmäntel runtergesetzt. Ein halbes Jahr habe ich bei meiner Tante gewohnt in einem kleinen, immer überheizten Haus mit Obstbäumen im Garten. Zuhause hatten wir nur Rasen und eine Zierkirsche, die im Frühling aussah wie teil eines Bühnenbildes. Bei meiner Tante gab es Bircher Müsli zum Frühtstück, ein warmes Mittagessen und zwei Scheiben belegtes Schwarzbrot mit eingelegten Gurken zum Abendessen. Am Wochenende wurden morgens Brötchen mit Marmelade aufgetischt und später Kaffee und Kuchen. Dann kam die Mutter wieder. Sie sah aus wie vorher, so, wie sie immer aussah und ich war mir nicht sicher, ob sie wirklich im Bad gelegen hatte wie eine Puppe. Wir gingen zurück in das Haus und seine wartenden Räume. Ich ging zur Schule und die Mutter zweimal die Woche zu einer Therapeutin.
Ich lasse mich im Strom bis zu der Konditorei an der Ecke treiben. Den Hunger habe ich ganz vergessen. Ich sollte etwas richtiges essen, aber stattdessen kaufe ich mir eine Waffel mit zwei Kügeln Eis. Ich überlege, ob ich weiter laufen soll, aber wenn ich die Holstenstraße bis zum Bahnhof runter laufe, muss ich das ganze Stück wieder zurück. So ist es doch immer. Wenn man Schlitten fahren will, muss man immer auch den Schlitten den Berg hochziehen. Wenn man seine Koffer packt und das Land verlässt, muss man den Koffer auch irgendwann wieder auspacken. Wenn man anfängt zu weinen, muss man sich irgendwann die Tränen von den Wangen wischen, ein bisschen nachpudern und weitermachen. Wenn man wegfährt, kommt man zwangsläufig wieder an. So sind die Gesetze. Es ist sinnlos noch bis zum Bahnhof zu gehen. Ich würde es gerne tun, aber dann muss ich doch umkehren und wieder in meine Wohnung zu dem verkohlten Fleisch und den geputzten Pilzen, die auf dem Schneidebrett liegen. Ich muss alles aufräumen, weil das einfach so ist, weil man das macht.
Am nächsten Tag ist Sonntag. Niemand ruft an. Der Briefkasten ist leer. Alles hat zu, die Nachbarn sind in ihren Schrebergärten. Die Küche ist sauber und aufgeräumt, das Schneidebrett und die Pfannen gespült, das Fleisch im Müll und der Müll draußen in der Tonne. Morgen früh wird er abgeholt und weggebracht. Die Stille drückt gegen meine Trommelfelle. Die Stunden ziehen sich wie ergrauter Kaugummi.
* * *
Scharlachrote Astern in einer schlanken, elfenbeinfarbenen Vase. Luftige Stors vor einem Fenster mit Blick auf smaragdgrüne Sträucher und Hecken. Ein Ahorn, der mit jedem Windstoß mehr Blätter verliert. Gestärkte Bettwäsche und honigfarbene Holzdielen.
Wie schön, dass Sie aufgewacht sind.
Eine Frau im Kittel steht neben dem Bett.
Haben Sie Schmerzen?
Das Zimmer hat eine hohe Decke.
Verstehen Sie mich?
Die Frau tritt näher.
Ich nicke.
Tut Ihnen etwas weh?
Ich schüttele den Kopf.
Ich sage der Ärztin, dass sie wach sind. Einen Augenblick, bitte.
Vor dem Fenster krümmen sich die Sträucher. Die Ahornblätter segeln durch die Luft und sehen aus wie feingliedrige, winkende Hände.
Die Tür wird behutsam geöffnet und die Frau kommt mit einer zweiten, größeren Frau mit schönen blonden Haaren zurück. Das muss die Ärztin sein.
Ich bin Dr. Finkenwerder, ihre Ärztin hier. Sie haben lange geschlafen. Fühlen Sie sich müde? Haben Sie Kopfschmerzen?
Ich schaue die weißen Wände an. Sie sind so glatt.
Können Sie sprechen?
Ich nicke.
Aber Sie möchten nicht?
Ich nicke wieder.
Darf ich mir mal ihre Verbände anschauen?
Erst jetzt merke ich, dass meine Handgelenke und die Unterarme dick verbunden sind. Ich bewege sie und spüre einen stechenden Schmerz. Tränen schießen mir in die Augen.
Warten Sie, ich mach das, sagt die erste Frau und schlägt die Decke zurück. Die Ärztin schaut kurz auf die Handgelenke, tastet sie ab und deckt mich wieder zu.
Das sieht soweit gut aus. Später kommt eine Schwester und wechselt Ihnen den Verband. Dann kommt auch eine Psychologin und spricht mit Ihnen. Aber jetzt können Sie sich noch ausruhen.
Ich nicke. Die Frauen verlassen das Zimmer und schließen die Tür. Ich kann mich ncht mehr erinnern, was die Ärztin alles gesagt hat. Vielleicht habe ich nicht richtig zugehört. Das Zimmer schaukelt sanft hin und her. Ich bin mir nicht sicher, ob die Wände sich nicht bewegen. Vielleicht bewege ich auch meinen Kopf. Ich will ihn stillhalten, aber es tut weh, die Hände zu bewegen, also presse ich ihn so ins Kissen. Ich liege wie eine Puppe unter den gestärkten Laken. Ich weiß nicht, ob meine Beine noch da sind, ob ich wirklich noch komplett da bin. Ein saurer Geschmack macht sich in meinem Mund breit. Ich schlucke und schlucke und er geht nicht weg. Er kommt vom Magen. Jemand drückt dumpf auf meine Schläfen. Grelle Punkte tanzen vor meinen Augen. Die Lider klappen zu wie ein Taschenmesser.
* * *
Als ich die Augen wieder öffne, bin ich in einem hellen Zimmer. Ich weiß nicht, wie lange ich schon hier bin. Ich bin mir nicht sicher, ob ich das Zimmer je verlassen habe.
Neben dem Bett stehen rote Astern. Mein Blick bleibt an ihnen hängen.