Claudia Zaltenbach: Hüftkreisende Nachtlichter
Nicht nur im Spiegel sehe ich es. Auch in Pfützen, Fensterscheiben und den Brillengläsern der Apothekerin, die mir meine hautstraffende Creme verkauft. Vorne an der Stirn klebt es und es breitet sich immer mehr aus. Mein Leben ist langweilig! Es fehlt an jeder Ecke an Aufregung, doch zuallererst fehlt in meinem Leben der Sumpf der Nacht und die passende Begleitung dazu. Das ist insofern schwierig, denn mein Freundeskreis gibt dergleichen nicht her.
Mit dreiundvierzig ist mein Leben mehr auf den Tag ausgerichtet als auf die Nacht. So ist das nun mal, wenn der Beruf die Hauptrolle spielt und eine Partnerschaft irgendwie abhanden gekommen ist.
Ich treffe mich allerdings nicht wirklich gern mit fremden Männern. Doch von Zeit zu Zeit schreit etwas in mir aus der hintersten Ecke meines Kopfes nach Vergnügen und ich durchforste die Onlinebörsen der Stadt. Damit verbinde ich nicht die Hoffnung, den Mann meines Lebens zu finden, aber immerhin soll es in München doch so viele Singles geben, dass die Wahrscheinlichkeit, eine unvergessliche Begegnung zu haben, nicht vollständig gegen Null geht.
Er, der mich nach einem kurzen Mailwechsel unbedingt kennen lernen wollte und darüber hinaus sogar noch eine Raucherbar im edlen Stadtviertel Lehel vorgeschlagen hatte, erzählt mir, dass er einmal, um eine Frau kennen zu lernen, bis nach Amerika geflogen ist. Seltsam sei das gewesen. Und irgendwie sei er da auch wieder rausgekommen, obwohl die Mutter dieser Frau schon Hochzeitspläne geschmiedet hatte. Ich frage mich, was einen bewegen könnte, ausgerechnet in Amerika eine neue Liebe zu suchen. Normalerweise schaut man nicht, ob der Reisepass noch sechs Monate gültig ist, bevor man sich auf ein blind date verabredet. In meinem Fall sind es eher nur sieben Kilometer und das ist dann irgendwie die Einleitung dieses Thema zu vertiefen.
Ich schaue ihn an, kenne ihn erst seit einer halben Stunde und finde außer den mandelförmigen Augen nicht viel Begehrenswertes an ihm. Sein Hemd ist nicht gebügelt, seine graugrünen Augen von einem dunklen Flor umschattet und seine Frisur sieht aus, als habe er sich die Haare selbst geschnitten. Aber sie lächeln, diese Augen.
Ich entdecke einen leichten Zug des Irrsinns, des Außergewöhnlichen, der mich zu faszinieren beginnt. Er ist ein kreatives Nachtschattengewächs dieser sauberen Stadt.
Angefüllt mit seltsamen Gedanken und einem Leben, das sich nicht zu Bürozeiten abspielt.
Während ich noch an meinem ersten Glas Wein nippe, bestellt er sich bereits den zweiten Whisky Sour und erzählt mir von der Musik, die er geschrieben hat.
Dabei ist es nicht so, dass er die ganze Zeit redet. Er stellt auch die richtigen Fragen. Fragen die einem schmeicheln, wenn man sie beantwortet.
Ich komme nicht umhin, möglichst bald eine Entscheidung bezüglich meines weiteren Alkoholkonsums zu treffen. Entweder ich lasse mein Auto stehen und ziehe mit, oder nippe weiter und schaue zu, wie er sich einen weiteren Drink bestellt. Es gefällt mir, dass er keine Rücksicht darauf nimmt.
Damit die Polizei, die mich ungefähr einmal im Monat anhält, auch diesmal wieder leer ausgeht, darf ich eigentlich nicht mehr weiter trinken. Ich frage mich immer, ob sie wirklich eine so gute Nase haben. Ich traue mich das nicht zu fragen sondern gebe mich in solchen Momenten ganz dem Herzrasen hin, das sich einstellt, sobald ich nachts auf der Strasse Blaulicht sehe.
Er ist witzig und doch versuche ich irgendwie ein innerliches „ Ich muss früh raus morgen“ zu formulieren, als sich die Spaßinstanz zu Wort meldet und einwendet, dass es höchste Zeit sei, mal wieder das Auto in einer ordentlich parkraumbewirtschafteten Gegend stehen zu lassen, wo ich am nächsten Morgen mit Sicherheit einen Strafzettel an meiner Windschutzscheibe hängen habe. Und noch während der Gedanke genau das zu tun sich kribbelnd in mir auszubreiten beginnt, strahle ich ihn an und bestelle mir einen Gin Tonic. Damit war das erst mal geklärt. Der weitere Verlauf des Abends bekommt ab diesem Punkt eine neue unbekannte Variable.
Notfalls würde mich auch ein Taxi nach hause bringen, denn mein Begleiter, der gerade feststellt, dass der Inhalt seines Glases nur noch aus Eiswürfeln besteht, scheint frei von diesen Gedanken zu sein. Vielleicht hat er nicht einmal ein Auto.
Er wirkt nicht so, als habe er irgendwelche Berührungsängste. Ich kann es daran erkennen, dass er sein Knie genau da lässt, wo es das Meine berührt. Spontanvertrautheit sozusagen.
Langsam beginnen die Promille durch meinen Körper zu kriechen. Ich fühle mich dadurch nicht eingeschränkt. Beim Denken schon gar nicht. Eher es ist so, als würde der alltägliche Ballast langsam von mir abfallen, als tue ich etwas Verbotenes, was mich befreit. Sündige Gedanken für den Seelenfrieden.
Diese Befreiung genieße ich, während wir uns über die verschiedenen Richtungen der Musik unterhalten und warum er das Glockenbachviertel für die beste Wohngegend von München hält.
Ich bin schon vor Jahren an den Stadtrand gezogen. Der Ruhe und auch dem Umstand wegen, dass ich mir einreden kann, die Wege der Hochleite mit zu bezahlen, weswegen ich diese auch nutzen sollte zum Joggen. Ein treibendes schlechtes Gewissen, verpackt in den Nebenkosten.
Wer im Glockenbachviertel wohnt, muss sich nicht diesem Gedanken aussetzen. Hier bezahlt man für die wunderbaren Cafés, die Restaurants und Kneipen, die um die Ecke liegen. Hier braucht man kein Auto, um schnell etwas zu besorgen.
Die Zeit schmilzt dahin - es ist fast zwei Uhr. Die Bar wird leerer und ich habe Verständnis für die Barkeeper, die nach hause wollen, oder sich auch irgendwo an einen Tresen setzen möchten.
„Wohin gehen wir jetzt?“ frage ich. Ich habe keine Kneipenlandkarte in mir. Ich weiß nicht, wo um diese Uhrzeit was los ist. „Zeig mir die Plätze, wo du jetzt hingehen würdest.“
„Wir könnten in die Schoppenstube in der Fraunhofer gehen.“
Ich kenne dieses Lokal nicht, habe noch nicht einmal davon gehört, doch alles was ich jetzt will ist, mich an seiner Seite in die Nacht zu stürzen.
Wir halten ein Taxi an. Wenn ich mit einem Taxi durch München fahre, habe ich immer das Gefühl ein Gast in dieser Stadt zu sein. Die Fahrt ist kurz, wenige Minuten später setzt der Fahrer uns vor einem Lokal ab, das ich vermutlich niemals freiwillig betreten hätte. Von außen sieht es wie eine heruntergekommene Eckkneipe aus. Doch der Laden ist zum Bersten voll. Nicht besonders groß und innen macht er eher den Eindruck einer gewöhnlichen Wirtschaft, als einem Tummelplatz für Nachtschwärmer. Das Publikum setzt sich aus allen Altersklassen zusammen. Aufgerüschte, immer im Doppelpack auftretende junge Frauen. Männer, die aussehen, als haben sie die After-Hour nach ihrem Bürojob bis in die frühen Morgenstunden verlängert. Wochendhungrige wohin mein Blick auch schweift.
Wir haben Glück. An einem der Tische stehen zwei Personen auf und mein Begleiter nimmt die freien Plätze sofort in Beschlag. Es ist eng und stickig. Auf der winzigen Bühne spielt ein Mann ein Akkordeon, die Sängerin daneben dringt aufgrund des Gesprächsrauschens um mich herum nicht so richtig zu mir durch. Ich spüre, wie sich ein Arm um mich legt. Es fühlt sich gut an. Wir trinken Bier und pressen uns enger an einander.
Die Lautstärke erfordert es, dass ich mich vorzugsweise mit seinem Ohr unterhalte und umgekehrt.
Dann plötzlich beginnt er mich zu küssen. Weich landen seine biergekühlten Lippen auf den Meinen, seine Zunge schiebt sich aufdringlich in meinem Mund. Es ist ein angenehmes Gefühl.
Immer wieder ertappe ich mich dabei, dass meine Gedanken davon huschen und eine Beobachterposition einnehmen. Ich kann es eigentlich nicht leiden, mit solchen Wild-Küssern an einem Tisch zu sitzen. Die Intimität, die sich mir zwangsläufig dadurch aufdrängt, stört mich. Ich weiß immer nicht, ob ich zuschauen soll, oder besser den Blick höflich abwende. Doch nun bin ich diejenige, die sich in den Speichel eines anderen vergräbt. Er lacht mich an, während er an meiner Lippe saugt. Seine Augen sind nicht geschlossen. Er schaut mir zu, wie ich ihn küsse. Mir gefällt das. Wer beim Küssen die Augen schließt, versinkt in seiner eigenen Welt. Wir haben uns erst vor ein paar Stunden kennen gelernt, es gibt keinen Grund, in diese eigene Welt zu versinken, wo doch das Beobachten des anderen um so Vieles spannender ist.
Wir bestellen mehr Bier. Zwischen unseren Küssen prosten wir den anderen an unserem Tisch fröhlich zu. Eine Frau ist noch dazugekommen. Sie hat etwas Trauriges in ihrem Blick und trotzdem beneide ich sie irgendwie, denn sie trifft sich um diese Uhrzeit mit ihren Freunden. Ich habe keine Freunde, die ich um diese Uhrzeit treffen könnte. Aber in diesem Jetzt habe ich ihn.
Das sehnsüchtige Gefühl löst sich wieder auf, als ich seine Finger an meinem Hals spüre. Ich möchte in diesem Moment gerne die Zeit anhalten, sie einrahmen, damit ich sie mir später immer wieder ansehen kann.
Noch immer kommen neue Gäste herein. Ich habe keine Lust mehr auf Bier und bestelle mir ein Glas Wein. Ein teenagerseliges Gefühl durchflutet mich, meine Wangen glühen. Ein Mann an unserem Tisch beobachtet uns. In seinen rotgeränderten Augen spiegelt sich mein Übermut. Ich fühle mich unverwundbar in diesem Moment. Spreize meine Flügel des Lächelns über ihn. Will diesen Moment mit allen teilen.
Mein Begleiter zeigt ebenfalls keine Anzeichen von Müdigkeit und ich bin erstaunt, als ich auf meine Uhr schaue, dass es bereits auf die Fünf zu geht. Nicht mehr lange, dann wird auch dieser Laden schließen.
Was nun passieren wird, löst ein leichtes Beben in mir aus. Ich möchte keine Worte darüber verlieren, ob ich nun ein Taxi nehmen soll, um mich nach hause fahren zu lassen, oder ob wir ein paar Straßen weiter in seine Wohnung gehen. Eigentlich möchte ich seine Wohnung gar nicht sehen. Im Gegensatz zu vielen anderen interessieren mich die Lebensräume der meisten Menschen nicht wirklich.
Es ist kalt, als wir draußen auf der Straße stehen. Noch liegt die Nacht wie ein dünner Vorhang über der Stadt.
Ich merke, dass auch ihn der Gedanke beschäftigt, was nun passieren soll. Verabschiede ich mich, wird es ein freier Fall aus mäßiger Höhe sein, der im besten Fall ein Lächeln auf meinen Lippen hinterlassen wird.
„Willst du mit zu mir?“ seine grüngrauen Augen ziehen mich bereits in diese Richtung.
„Klar“.
„Ich habe allerdings nichts zu trinken zu hause, aber wir können da vorne am Kiosk was mitnehmen.“
Bis zu diesem Kiosk sind es keine hundert Meter und dass es so etwas gibt, einen Kiosk, der die ganze Nacht geöffnet hat, war mir bis zu diesem Zeitpunkt nicht bewusst.
Wir kaufen zwei Flaschen Bier. Bis zu seiner Wohnung ist es wirklich nicht weit, doch der Weg löst sich immer wieder auf, zerrinnt, während er mich an eine Hauswand presst, um mich zu küssen.
Ich schwanke ein wenig. Fühle mich aber nicht betrunken und ich ertappe mich bei dem Gedanken, wie schön es wäre, öfters mit ihm durch die Nacht zu seiner Wohnung zu laufen. Er lebt das, was mir in meinem Leben fehlt.
Seine Wohnung ist wie Spielzeugladen für einen großen Jungen. Mitten im Raum steht ein Schlagzeug, daneben ein riesiger Tisch mit mehreren Bildschirmen und Rechnern. Mir fällt auf, dass ich ihn nicht gefragt habe, womit er eigentlich sein Geld verdient. Bücher entdecke ich keine. In diesem Moment ist das auch nicht wichtig. Er zieht mich in einem langen Kuss auf den Boden. Vermutlich war dies eher eine Notlösung, denn als ich aus dem Blickwinkel das Sofa wahrnehme, ist mir klar, dass auf diesem kleinen durchgesessenen Zweisitzer nicht an hüftkreisende Bewegungen zu denken ist.
Dieser Moment ist uns nicht wirklich geheuer. Wir verlassen das Terrain, das üblicherweise für ein erstes Treffen abgesteckt ist. Wir zerren gerade an den Vorhängen jener intimen Dinge, die nicht sofort wie ein Sonderangebot ausgebreitet werden sollten. Doch vielleicht ist es ja gerade das. Ein Sonderangebot, welches sich in Luft auflöst, sobald die Nacht zuende gegangen ist.
Wir wissen es beide. Wir wissen, dass das was wir nun tun werden, nicht so einfach wieder wegzuwischen ist. Das sich nach Bindung strebende Sozialwesen in uns streckt seine Fühler aus. Doch wir kennen uns zu wenig, um in diese Richtung zu denken. Die Gedankenfeuer in meinem Kopf werden niedergezwängt. Es gibt kein Richtig oder Falsch mehr in dieser Situation. Die Schwierigkeiten in diesem Moment sind ganz Andere.
Der Alkohol ist ungnädig zu Männern, die ihre Jugendjahre hinter sich gelassen haben. Ich habe damit keine Probleme. Seit ich seine Hände auf meinem Körper gespürt habe, sind die Schleusen geöffnet.
Sein ganzes Wesen löst sich auf in Weichheit und spinnt mich in einem Kokon aus Zartheit ein. So heftig er sich auch in mich drängt, so zärtlich umfasst er dabei mein Gesicht. Ich bin froh, dass er dabei nicht die Augen schließt. Sich beim Ficken in die Augen zu schauen ist einfach noch besser, als alles was zwischen meinen Beinen passiert. Dass auch er diesen Augenfick zu genießen scheint, lässt das Beziehungstierchen in mir wieder aufleben. Das hier ist irgendwie mehr.
Es ist hell, als wir endlich einschlafen.
Der Tag zieht sich in einem Dämmerzustand dahin. Wie ein angeschossenes Tier schleiche ich trotz zwei Tassen Kaffee durch die Straßen. Drei Stunden Schlaf hinterlassen ein Quecksilberdotter in meinem Gehirn. Die Lichter der Nacht wurden unter einem grauen Mantel versteckt. Alles wirkt kalt.
Ich will mich einigeln, doch noch immer ist er bei mir. Läuft neben mir durch die Straßen zu meinem Auto.
Es sei leicht, meine Gedanken zu verstehen, meint er beim Abschied. Wann wir uns wieder sehen werden. Den Nachgeschmack seiner Zunge in meinem Mund, fahre ich nach hause.
Ich muss wieder an die Geschichte mit der Frau in Amerika denken.
Harlaching ist nicht Amerika, und doch fühlt es sich in diesem Moment genauso an.