Konrad Roenne: Stadt der Mäntel
Am Abend des N…ten dieses Jahres rief ich gegen halb elf Jango an und wartete danach auf ihn in der Wohnung, in der ich mich allein mit meiner kleinen dreijährigen Tochter befand, die in ihrem Kinderzimmer bereits seit ein paar Stunden schlief. Es sollte eine volle Stunde dauern, bis Jango endlich bei mir eintraf und mich von unten, von der Straße aus, in der er seinen Wagen in der zweiten Reihe geparkt hatte, anrief und mir Bescheid sagte, dass er nun da sei und ich runterkommen solle, um zu ihm ins Auto zu steigen, kurz Hallo! und Wie geht’s, wie steht’s? zu sagen, ihm die zusammengefalteten Scheine in die Hand zu drücken und dafür die zwei kleinen, in Plastikfolie verpackten, weißen Kügelchen zu erhalten und dabei ständig daran zu denken, wie ich möglichst schnell die Sache über die Bühne bringen könnte, ohne dabei unfreundlich zu wirken, um wieder nach oben in die Wohnung zu meiner schlafenden Tochter zu kommen, in der Hoffnung, dass sie in der Zeit, in der ich kurz draußen in Jangos Auto sein würde, nicht aufgewacht wäre, was aber normalerweise erst zu späterer Stunde geschieht, so auch in dieser Nacht.
Es war nämlich so, dass ich am nächsten Morgen sehr früh mit dem Zug nach München fahren würde, da ich nach München zu einem Schreibseminar für Romanautoren eingeladen war – ja, ich versuchte zu schreiben, sogar einen ganzen Roman, auch wenn von dem bis auf ein paar Seiten und einem Haufen verwirrender Ideen noch nicht viel stand – und ich natürlich keine große Lust hatte, dahin, also nach München und zu diesem Seminar, zu fahren, da ich sehr ungern verreise, es eigentlich sogar hasse wegzufahren, außer es geht in den Urlaub, und dass ich mir unter anderem deswegen sagte: Scheiße, bei der ganzen Aufregung, dem Wegfahren und dem Teilnehmen an einem Seminar für Romanautoren und dem Besuchen der mir fremden Stadt München wäre ein bisschen Entspannung nicht schlecht, und man könne ja nie wissen, falls einem ganz plötzlich ganz besonders traurig zumute sein sollte, und außerdem ich war auf Kokain immer besonders freundlich und allen und allem gegenüber wohlgesonnen, und vielleicht würde Kokain ja irgendwie zu München passen. Und dass ich also deswegen Jango anrief, denn Jango ist Drogendealer und dürfte sicher einen ganz anderen Namen haben, den ich aber nicht kenne – wer heißt denn bitte schon Jango? –, und von dem ich schon seit einigen Jahren regelmäßig, wie ich gestehen muss, Kokain kaufte, das ich und meine Freunde, mit denen ich es oft zusammen konsumierte, auch Koka oder Schnubbel nannten, wobei mir mittlerweile nicht mehr klar ist, woher dieser Name, Schnubbel, eigentlich kam, so was entsteht ja meistens irgendwie von selbst, aus einer bestimmten, von mir aber vergessenen Situation heraus. Und dass ich ganz selbstverständlich etwas in Berlin von Jango kaufte, denn in München kannte ich niemanden, also auch keinen, der mir dann, wenn mir sehr danach gewesen wäre, dort etwas hätte besorgen können.
Und ich sollte mir auch an diesem Abend Schnubbel das Koka durch die Nase ziehen und aufs Zahnfleisch schmieren, wo sich dann ziemlich bald, auf den dort befindlichen Schleimhäuten, dieser betörend bittere Geschmack und die gewünschte Taubheit einstellen, von der Nase durch das ständige Hochziehen und Schniefen in den Rachen kriechen und das Zahnfleisch scheinbar anschwellen lassen würde, und an Schlaf wäre dann gar nicht zu denken, selbst wenn ich nicht das ganze Koka schon an diesem Abend vor der Abfahrt nach München wegziehen würde, wie ich es mir ja vorgenommen hatte, aber meine Aufregung war natürlich groß und das Zeug mal wieder mit Speed oder etwas Ähnlichem, das einen hartnäckig am Schlafen zu hindern verstand, verschnitten, sodass ich schon wesentlich vor der Zeit die Wohnung, in der meine Tochter und mittlerweile auch meine Freundin schliefen, verlassen und mich in Richtung Hauptbahnhof begeben würde, um auf den Zug nach München zu warten, wo mir aber schon auf dem Bahnsteig, noch vor Einfahrt des Zuges, durch eine Aussage Novalis’ dieses Warten und das kommende Zugfahren vermiest wurde – Novalis der da einmal fragt „Wohin gehen wir?“, und diese Frage sogleich mit „Immer nach Hause“ beantwortet –, was mich natürlich sehr verwirren sollte, denn wie hätte ich das in meiner Situation, auf dem Weg nach München, anders verstehen können, als dass München anscheinend mein Zuhause ist? Oder dass ich, durch meine Reise nach München, gar gegen Novalis’ Satz handelte, denn meines Erachtens würde ich, ginge ich nach München, definitiv nicht nach Hause gehen.
Und dass es tatsächlich so kommen sollte, dass ich, nachdem ich mit fast zwei Stunden Verspätung am Hauptbahnhof München angekommen und von dort zum Literaturhaus, wo die ganze Sache die kommenden Tage steigen würde, gehetzt war und es gerade so pünktlich zum Beginn des Seminars in das oberste Stockwerk des Literaturhauses geschafft hatte, mir in der ersten Pause, die gleich nach Klärung organisatorischer Fragen und der obligaten Vorstellungsrunde eingelegt wurde, in einer der Kabinen auf der Toilette mir eine Line des restlichen Schnubbels, das Koka, zurechtmachte und wegzog, da ich wegen des fehlenden Schlafes doch recht müde war und zudem die Seminarleiter entschieden hatten, ohne ersichtlichen Grund, mit mir bzw. meinem Text den Anfang zu machen und ich mich so, nämlich sehr müde, lieber nicht in die Knochenmühle der halbprofessionellen Literaturkritik begeben wollte, und nach dem besagten Toilettengang halbwegs gut gelaunt an meinen Platz im Seminarraum zurückkehrte und demütig alles über mich ergehen ließ, allerdings: es sollte so sein, dass ich schon beim Wegziehen auf dem Klo und danach, während des anderthalbstündigen Im-Mittelpunkt-Stehens im Seminar, große Sorge hatte, meine Nase, genauer: aus meiner Nase könnte es anfangen zu bluten, dass da vielleicht irgendwo ein Äderchen geplatzt sein könnte, denn die Schleimhäute waren ja noch von der letzten Nacht, in der ich es wohl, das muss gesagt werden, mal wieder etwas übertrieben hatte, es doch ein wenig zu viel des Guten gewesen war, wie man so sagt, recht ramponiert, und so fürchtete ich um sie, aber glücklicherweise ging, zumindest mit ihnen, alles gut.
So sollten die Tage von München beginnen. Und sie endeten jeweils im Hotelzimmer, das die Leute vom Literaturhaus für die jungen angehenden Romanautoren gebucht hatten und in dem ich nach einem Tag im besagten Literaturhaus, in dessen Verlauf man als Romanautorenseminarteilnehmer nicht nur stundenlang über Texte sprach, sondern auch heftig diskutierte und, an den Abenden vor allem, ein wenig den Literaturbetrieb kennenlernte – was aber schon voll und ganz ausreichte, wie ich bei einer abendlichen Lesung im Literaturhaus, die wir Seminarteilnehmer besuchten, bemerkte, als bei mir plötzlich der Hass auf das alles, das ich ja bisher nur sehr flüchtig und äußerst oberflächlich kennengelernt hatte, vorbeikam und ich mich fragte, was zum Teufel ich hier eigentlich machte, bei einer Lesung, dessen Publikum hauptsächlich aus älteren Frauen zu bestehen schien, die wie pensionierte Lehrerinnen oder Lehrerinnen kurz vor der Pensionierung wirkten, bei einem sogenannten Literaturbetrieb, der von Alten, Schwulen und Kinderlosen, vor allem aber von blassen Bürokraten und Strebern, Strebern, mit denen man früher in der Schule sicher recht wenig zu tun gehabt hätte, dominiert zu werden schien, und der einzige kurze Trost in diesem großen Raum während jener Lesung und dem anschließenden Gespräch zwischen Autorin und dem Moderator waren die Bücher, die dort in Regalen an den Wänden standen, ganz besonders die scheinbar komplette Ausgabe aller Jahrgänge des „Merkur“ seit 1947, dem Jahr der Gründung dieser „Deutschen Zeitschrift für europäisches Denken“, die ja auch viele Jahre lang von München aus herausgegeben wurde, wie mir plötzlich einfallen sollte, als ich versonnen auf die im Regal aufgereihten Hefte der Zeitschrift schaute und dabei kurz die mich tief beunruhigende Frage vergessen konnte, warum um alles in der Welt ich nichts Vernünftiges gelernt hatte, damals, als sich einem scheinbar noch alle Chancen boten, etwas aus seinem Leben zu machen, Berufsschullehrer oder Verkehrspolizist oder Notfallmediziner zum Beispiel, sodass man um das alles doch herumgekommen wäre und in diesem Augenblick woanders und mit einem wohligen Gefühl der Zufriedenheit hätte sitzen können –, im Hotelzimmer also, um an den Anfang dieses Satzes zurückzukehren, in dem ich nach so einem Tag voll der Literatur und im Literaturhaus der Stadt München zutiefst frustriert und desillusioniert und total vertiert, von der Literatur und vom Literaturbetrieb nämlich, sitzen sollte, vor dem Fernseher mit einem Bier in der Hand, das ich mir am Hauptbahnhof gekauft hatte, denn in der Nähe des Hotels fand ich nichts, wo ich mir ein Bier hätte kaufen können, und wo ich dann damit beginnen sollte, Schnubbel das Koka, das, was noch übrig war, mit einer zu Pulver zerkleinerten Aspirin-Tablette zu strecken und das dann gestreckte und so vermehrte Kokain, vor dessen Ende bzw. Verschwinden ich natürlich größte Angst hatte, nach und nach wegzuziehen, was neben der verlängerten Anwesenheit des Kokains vor allem ein Brennen in der Nase zur Folge hatte, das möglicherweise von der Acetylsalicylsäure der Aspirin oder aber von der Maisstärke oder dem Cellulosepulver, die beide als Füllstoffe für diese Tabletten herhalten müssen, kam, jedoch: die genaue Ursache konnte ich nicht ausmachen, nahm das Brennen in der Nase, die zunehmende Nervosität, bei gleichzeitigem Abnehmen des Koka, und das spätere Nicht-Einschlafen-Können in Kauf, öffnete mir ziemlich bald eine kleine Flasche Wodka aus der Minibar und lag dann lange wach auf meinen Hotelzimmer rum, das ich bis zum nächsten Morgen, wenn das Seminar weitergehen sollte, nicht verließ.
Ich sollte mein Hotelzimmer also nicht verlassen, und dabei gab es draußen doch diese Stadt zu entdecken, die ich ja gar nicht kannte, in der ich noch nie zuvor gewesen war und die doch als eine der größeren und interessanteren und schöneren Deutschlands gilt; verließ es nicht, obwohl ich doch eigentlich nach all der Literatur und den Texten und dem Reden die Schnauze gestrichen voll hatte, wie man so sagt, und es daher wohl eine durch und durch glückliche Ablenkung, ja Rettung, gewesen wäre, rauszugehen und ein wenig München kennenzulernen. Doch ich, ich blieb sitzen, in meinem Hotelzimmer, auf dem Sofa, vor dem Fernseher, den mäßig spannenden Fußball des zu dieser Zeit stattfindenden Afrika-Cups verfolgend, und so sollte das Wenige, was ich von München kannte und in Gesprächen über München anbringen könnte, Folgendes sein: Einmal fuhr ich mit dem Auto dran vorbei – ich war wohl auf dem Weg in die Schweiz, ins Tessin – und sah das damals noch nicht ganz fertig gestellte, neue Fußballstadion, das dann nach diesem Versicherungsunternehmen benannt werden sollte und in dem die beiden großen Vereine der Stadt und hin und wieder auch die Nationalmannschaft ihre Spiele austragen; ein andermal stieg ich auf dem Münchener Hauptbahnhof, der im Gegensatz zu dem scheußlichen neuen Hauptbahnhof in der Mitte Berlins recht angenehm und vernünftig wirkte, um und musste mich beeilen, damit ich meinen Anschlusszug nicht verpasste. Beides Erlebnisse, die mich durchaus für München hätten einnehmen können, so wie es die Erzählungen meiner Mutter getan hatten, denn eigentlich kannte ich nur von diesen, den Erzählungen meiner Mutter, die Stadt München. Meine Mutter verlebte, obwohl später auf Grund unglücklicher familiärer Umstände im Osten lebend, ein Jahr ihrer Kindheit, sie muss so fünf gewesen sein, in München bei einer Tante und hatte, auch wenn sie für diese Zeit von ihren Eltern und Geschwistern getrennt gewesen war, nur Gutes über die Stadt und die Zeit, die sie hier verbrachte, zu berichten und besuchte auch sogleich, als die Grenze zwischen Ost und West gefallen war, wieder die Stadt für ein paar Wochen und sah ihre guten Erinnerungen durch und durch bestätigt, wahrscheinlich unter anderem deswegen, da sie stets, obwohl protestantisch getauft und erzogen, eine verkappte Katholikin gewesen ist. Von ihr also kannte ich die Stadt München vor allem. Und von der „Lindenstraße“, dieser Fernsehserie, die immer so grässlich war und die mich München, im Gegensatz zu den Erzählungen meiner Mutter, nicht kennenlernen lassen wollte, da ich mir sagte: Da, wo die Lindenstraße ist, nämlich in München, da möchte ich lieber nicht hin, denn so würde mir sicher einiges erspart bleiben vom Elend dieser Welt, das mich allerdings in Berlin ständig verfolgte, ja geradezu umrannte, wo sich eigentlich alles und jeder schon eine ganze Weile auf dem absteigenden Ast befand, den Bach runterging, wie man so sagt, auch wenn alle Welt so tut, als würde es prächtig laufen: Suhrkamp sei ja nun da und wahrscheinlich werden alle anderen, alle wichtigen auch nach Berlin kommen, wie die Frankfurter Buchmesse, die dann natürlich Berliner Buchmesse heißen muss, und irgendwann werden ganz bestimmt, davon scheint die ganze Stadt Berlin und ihre verantwortlichen Verwalter beseelt zu sein, die Olympischen Spiele jedes Jahr in Berlin stattfinden, nicht nur alle vier Jahre, nein!, und die Fußballweltmeisterschaft gibt’s noch oben drauf, alles wird sich also zum Guten, ja zum Besten wenden, das Neue Jerusalem in gewisser Weise, dabei hatte doch schon in den neunziger Jahren Wolf Jobst Siedler einmal wehmütig, fast zornig, festgestellt, dass man den unaufhaltsamen Niedergang dieser Stadt daran ausmachen könne, dass die Leute, selbst in den besseren Vierteln, keine gut geschnittenen Mäntel mehr trugen, sondern zunehmend Wind- und Lederjacken und Anoraks das Straßenbild prägten, was mich allerdings weniger schockierte als Wolf Jobst Siedler, den ich, als ich mich für diese paar Tage in München aufhalten sollte, sehr gern in diese Stadt geladen hätte, da es hier erfreulich viele Mäntel an den Menschen zu entdecken geben sollte und dazu die phantastische, in Berlin längst ausgestorbene Angewohnheit, sich auf der Rolltreppe auf die rechte Seite zu stellen, um so zum Beispiel mir, der in seiner gefütterten Windjacke lieber die Rolltreppen hinauflief, als darauf zu warten, bis man oben angekommen wäre, Platz zu machen.
Aber das konnte ich ja vor meiner Abfahrt in Berlin noch gar nicht wissen, auch nicht, dass die letzte Nacht in München in diesem Hotel die erste sein sollte, in der ich richtig gut schlief und davon träumte, ich würde durch eine Wüste irren und dann so etwas wie eine Oase erreichen, in der mich recht unfreundlich eine Gruppe von Beduinen empfing und, für mich unverständlich, auf mich einredete, sodass ich begann, um mein Leben zu fürchten, wäre mir nicht eingefallen, dass ich ja eine Aufnahme der Goldberg-Variationen von Bach in Form einer CD in meiner Windjacke zu stecken hatte, die ich den aggressiven Beduinen recht würdevoll überreichte und die sie dann auch sofort in einen tragbaren CD-Spieler, eine Art Ghettoblaster, der an einen Dieselgenerator angeschlossen war, schoben, und schon erklang diese wunderbare Musik und übertönte sogar den Krach des röhrenden Dieselgenerators und plötzlich erstrahlten die Gesichter dieser Beduinen und sie nahmen mich nun freundlich in ihrer Mitte auf. Und wenn ich mich recht erinnern sollte, war es sogar so, dass sie schöne Mäntel trugen und Bayerisch mit mir sprachen.