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Isabel Robles: Pile ou face

Wie so oft, wenn es um Entscheidungen geht, sitze ich an diesem klaren Herbstnachmittag vor einer Pro- und Contraliste. Ich mache immer Listen, für mein Leben gerne. Einkaufslisten, To-Do-Listen, Erinnerungslisten, Geburtstagslisten und eben Pro- und Contralisten. Mein Mann veräppelt mich immer damit, er ist das Gegenteil einer Listenperson. Denn man kann Menschen tatsächlich in Listen- und Nichtlistenmenschen einordnen, davon bin ich fest überzeugt.

Der Mann hat noch nie in seinem ganzen Leben eine Liste gemacht, ich dagegen habe sogar eine Liste aller Männer, die ich je geküsst habe und ich liebe es, Gästelisten für meine eventuell irgendwann stattfindende Hochzeit vorzubereiten. Ich weiß nicht warum, aber die Listen-Manie gibt mir Halt, sie hilft mir dabei, die Verworrenheit und die überwältigende Mannigfaltigkeit des Lebens ein wenig greifbarer zu machen.

 

Seit ich wieder in München bin ist das Leben ganz besonders schwer greifbar geworden. Deshalb schreibe ich eine Liste und einen Tagebucheintrag nach dem anderen. Als würde ich der Zeit bei einem Selbstgespräch zuhören wollen, als wolle ich sie auf Papier sehen, die Zeit, die Geschehnisse, um überhaupt zu verstehen, was da gerade vor sich geht.

 

Dabei fängt mich München sonst immer auf. Keine andere Stadt gibt mir so viel Geborgenheit wie die bajuwarische Hauptstadt, die Heimatstadt.

Ich kenne jede Straßenecke, vor allem in Schwabing. Am Elisabethplatz bin ich aufgewachsen und jedes Mal wenn ich an dem Spielplatz vorbeifahre, sehe ich mich als  fünfjährigen Knirps, der so wild schaukelt, weil er denkt, es sei möglich, sich zu überschlagen. Irgendwann rennt der kleine Knirps dann in den Biergarten neben dem Spielplatz, wo seine Mutter mit Freunden sitzt und heult und schluchzt vor lauter Enttäuschung, weil das mit dem Überschlagen einfach nicht klappen wollte.

 

Und die Maxvorstadt. Auch voller warmer Erinnerungen. Da wo ich jetzt sitze, in der Wohnung von Janina, die gerade in Hamburg weilt, in ihrer Küche mit Blick in den Innenhof, alles ist noch grün vom eben erst verblassten Sommer und ich kenne sogar diesen Innenhof so gut. Vor Jahren hat Basti im Haus gegenüber gewohnt. Wenn er dort noch wohnen würde, könnte ich jetzt in seine Küche sehen.

An jeder Ecke steht ein kleines Denkmal meines kleinen Lebens. Vorne, in der Amalienstraße hat Janina früher gewohnt, mit ihrer Mutter. Wir sind immer durch den Hof hinter der Germanistik-Uni über die Mauer geklettert und dann von hinten rein, weil das kürzer war. In der Türkenstrasse im „Adria“ gibt es das beste Zimteis der Welt, weil nämlich ganze Haselnüsse mit drinnen sind. Die Straße runter, Ecke Adalbert ist ein Cafe, in einen der Barmänner dort war ich mal unsterblich verliebt.

Ob er wohl noch dort arbeitet? Wir hatten einen tollen, wilden Sommer, ich glaube es war sogar einer dieser ganz heißen Sommer, die man „Jahrhundertsommer“ geschimpft hat.

Jede Straßenecke erzählt also eine kleine Geschichte. Die meisten sind schön, manche nicht. Die allermeisten haben mit irgendwelchen Jungs zu tun, in die ich mal zwischenzeitlich verschossen war. Vielleicht ist es die viele Liebe, die für mich die Geborgenheit von München ausmacht. Sollen sie noch so sehr schimpfen, die Berliner, die Kölner und die Hamburger, dass München kalt sei und arrogant und unnahbar. Für mich war es immer mit sehr viel Liebe und mit Sicherheit, mit dem Gefühl, sich behütet zu fühlen, verbunden.

 

Normalerweise. Nur diesmal. Will es sich nicht greifen lassen das Leben, gerät alles aus dem Ruder.

 

Der Mann ruft an. Ich schrecke hoch. Und erwische mich dabei, dass ich ihn auf Lautlos drücke. Schäme mich in der nächsten Sekunde. Rufe ihn zurück. Eintöniger Smalltalk. Er ist gerade aus einem Meeting raus, wollte nur mal wissen und so.

„Wann kommst du übrigens wieder?“ fragt er. „Ich weiß es wirklich nicht nicht.“

Er scheint nicht überrascht, fragt auch nicht warum. „Na gut. Dann melde dich einfach die Tage. Oder eben wenn du weißt, wann du kommst.“

„Ok.“ Meine Stimme klingt dünn. „Mach ich. Tschüß Schatz.“

Früher hätte er gemerkt, dass etwas nicht in Ordnung ist mit mir, heute hört er ohnehin nur noch mit halbem Ohr zu. Ist es wirklich so, oder rede ich mir das ein, um einen Grund dafür zu finden, dass ich ihn betrüge?

 

Dabei betrüge ich ihn nicht. Ich schlafe mit niemandem anderen, das ist doch dann nicht Betrügen. Aber ich tu es in Gedanken. Und das ist vielleicht sogar noch schlimmer als echtes Fremdgehen.

Dabei hat der Mann damals mal eine Pro- und Contraliste gewonnen. „Nach Berlin ziehen oder nicht“ stand da oben drüber und der Mann war auf der Pro-Seite ganz oben. Wenn man so will bin ich seinetwegen in die Hauptstadt gezogen. Auch wenn das nicht stimmt, ich wollte auch mal in Berlin gelebt haben, in den Jahren, in denen es so irre cool dort ist.

Vom coolen Berlin hab ich dann am Ende des Tages gar nicht so viel mitbekommen, dafür hat der Mann mir gegeben, wonach ich so lange gesucht hatte: Stabilität.

Und zwar keine fahrige, leicht zu durchbrechende Listen- und Tagebuchstabilität, sondern wahren Halt. Und Alltag. Rettung vor dem vermasselten Studium und den falschen Idealen. Vor all den Dingen, die ich in München nicht hinbekommen hatte.

 

„Ich bin zum ersten Mal so richtig verliebt“ hat er gesagt, als wir uns auf der Terrasse vom Weekend geküsst haben. Das war kurz, nachdem ich mit Sack und Pack bei ihm eingezogen war. „Echt?“ hab ich geantwortet und gekichert wie ein kleines, albernes Mädchen: „Ich war schon tausend Mal verliebt!“ Im selben Moment fiel mir auf, wie unpassend die Antwort war, schnell schob ich ein: „...aber nur mit dir ist es so was Richtiges“ hinterher. War auch nicht gelogen. Er hat mich umarmt, mich auf die Stirn gebusselt und gesagt: „Hach ja, du bist ein kleiner Luftikus, so ein Fähnchen im Wind.“

Ich hab das gemocht, dass ich mich immer als das kleine Mädchen neben ihm gefühlt hab. Mag ich es jetzt nicht mehr? Warum lasse ich mich jetzt von diesem TYP So verwirren?

 

Janina ruft an. Ich hatte ihr sieben SMS geschrieben im Laufe des Tages und die dumme Kuh ruft erst jetzt zurück!

 

„Was ist denn so Wichtiges, du Nerverl?“

„Marc. Was sonst.“

Marc. So heißt der TYP. Der andere. Nicht der Mann.

„Na, was sonst, du sagst es. Ist noch was passiert seit Donnerstag?

 

Am Donnerstag hatte ich sie nachts angerufen, heulend, übermütig, lachend, weinend, aufgeregt. Zu Tode betrübt.

Marc. Nach all den Jahren wieder getroffen, die ganze Woche immer wieder, halb zufällig, halb ausgemacht. Und sofort war ich Feuer und Flamme. Das an sich muss ja noch nichts heißen, denn das kann ja mal passieren, vor allem mir. Aber es war so stark und er hat so mitgemacht, die ganze Woche lang.

Und am Donnerstag wollte er nicht von meiner Seite weichen. Da war das wilde Mädchen von damals, vor Berlin, das sich Hals über Kopf ver- und wieder entlieben kann und das alles in acht Minuten - da war es plötzlich wieder da. Nur entliebte es sich diesmal schwerer. Sprachlos standen wir voreinander um fünf Uhr morgens, als der Club sich schon leerte. Er sah genauso wackelig aus wie ich und ich habe ihn angeschielt, besoffen und verknallt. Und dann hat er einfach den Pelzkragen meiner Jacke hochgeklappt, so dass meine Backen im flauschigen Fell versteckt waren und hat mich geküsst. So wie man sich nur in genau solchen Situationen küssen kann, in solchen Clubs um fünf Uhr morgens und mit so vielen Schmetterlingen im Bauch.

 

Wir sind noch weiter gezogen danach, im Alkohol- und Glücksrausch, haben weiter getrunken, bis ich irgendwann abgezogen bin, geschockt, einfach so. „Ich muss gehen“ hab ich geschrieen, während er an der Bar stand und einen Freund begrüßt hat. Und schwups, bin ich raus gerannt, ins Taxi gehüpft, wie im Film, nur dass er nicht hinterher gestürmt kam, wie das im Film passiert wäre. Und dass ich das auch gar nicht gewollt hätte.

 

Und dann hab ich Janina angerufen. Schluchzend, bruchstückhaft die Geschichte runtergerattert.

„Marc.“ Hat sie gesagt. „Oh Gott, der ist ja so ein bisschen die erste kleine Liebe, oder?“

Eine von vielen, wenn wir ehrlich sind, aber ja, klar. Schon eine der ersten. Wie ich den immer angeschmachtet habe auf der Werneckwiese. Und die arme Janina musste sich jeden Tag mein Geschwärme anhören.

„War da eigentlich schon mal was zwischen euch?“ hat sie gefragt. „Nein, Mann!“ hab ich gebrüllt.

„Noch nie? Haha und jetzt knutscht ihr in der LIGA rum, das ist so süß“

„Hör auf, mich zu verarschen!“ Der Taxifahrer drehte sich um, um mich mit einem bösen Blick zu ermahnen, weil ich so geschrieen habe.

„Was soll ich denn jetzt sagen um sechs Uhr morgens, wenn du mich so anrufst? Sag’s ihm sag ich dir. Wie immer. Ehrlich währt am längsten, sag’s beiden, Spielchen sind Mist. Wir gehen auf die dreißig zu, wir sind zu alt für solche Kindergeburtstagsspiele.“

Vor lauter Empörung hab ich dann aufgelegt.

Bin heimgefahren, hab weiter geheult und mich geärgert.

 

Kann ich doch jetzt nicht sagen! Kann ich doch nicht sagen, dass ich so verliebt bin, dass es fast weh tut. Dass ich mir einbilde, dass es wirklich in Richtung Herzgegend so richtig schmerzt. Kann man doch nicht sagen.

Kann ich doch nicht sagen, dass so was passiert. Wo ich doch dachte, dass ich beim Mann bleiben würde in Berlin. Dass ich bald Babys von dem haben würde und all das. Mit Pregnancy Hill, Bugaboo-Kinderwagen und dem vollen Programm. War alles schon geplant. Verdammt noch mal.

 

Heute ist Samstag. Und ich habe seit Donnerstag früh, seit ich betrunken, schwankend, noch halb angezogen ins Bett geschaukelt bin, an nichts anderes gedacht. Hab den ganzen Freitag geheult. Den Mann weggedrückt. Bin nur einmal raus, um meine Mutter zu treffen im Tambosi.

Die Münchner Menschen saßen natürlich draußen in der Nachmittagssonne, dabei war es viel zu kalt. Mir war viel zu kalt. Ich hab mich kaum noch gespürt, so leer war ich. Vielleicht lag das an den vielen Tränen, die ich ausgeheult hatte. Vielleicht ist das überhaupt des Rätsels Lösung: Dass man voller Tränen ist, wenn man so viel fühlt. Und dass man diese Gefühle alle ausheulen kann, man muss nur genug Tränen vergießen.

Allerdings reproduzieren sie sich. Die Tränen. Und die Gefühle.

Hab ich’s echt vermasselt? Muss ich dem Mann Adieu sagen? Meiner Mutter könnte ich das niemals antun. Die wäre so enttäuscht. Die hatte sich so gefreut, dass ihre gestörte Tochter endlich quasi unter der Haube ist. Hab auch versucht, mir nichts anmerken zu lassen, im Tambosi. Damit sie ja nicht auf die Idee kommt, mich zu nerven. Hab dann den ganzen Freitag Abend weiter geheult, mich eingeigelt, rumüberlegt, das Handy ausgemacht. Und das will was heißen.

 

 

Janina ist total rational am Telefon. Und gibt doofe Tipps. Genauso doofe wie: „Sag’s ihm. Sag’s beiden“. Ja genau.

„Du bist so blöd“ sagt sie. „Das bringt doch nix. Ist es denn wirklich so stark? Das Gefühl meine ich.“

„Ist es.“

„Aber es kommt immer nur hoch, wenn du besoffen bist!“ Das klingt nicht mal beleidigend, sondern einfach nur so: Feststellung. Punkt.

„Hör auf!“ Sie ist immer so streng mit mir. „Das klingt so böse. Es ist nicht weniger wert, nur weil ich was getrunken habe. Es ist nur so stark, und so unpässlich, dass ich es nur rauslassen kann, wenn ich besoffen bin.“

„Bescheuert.“ Ich höre förmlich, wie sie den Kopf schüttelt.

„Was ist, wenn es nur so ein „Unfinished-Business“ Ding ist, wenn es vorbei ist, sobald es „finished“ ist, und du denkst jetzt schon daran, den Mann zu verlassen, den du mal heiraten wolltest?“

Ich schlucke. „Ich glaube nicht, dass es so ist. Und ist nicht alleine die Tatsache, dass ich überlege, ihn zu verlassen, Indiz genug, dass ich es tun sollte?“

Sie schweigt.

„Da ist was dran“ gibt sie dann zu.

Boah, fühlt sich das gut an, dass sie mir zumindest so ein bisschen zustimmt.

 

Ist es so, sind es diese entscheidenden Tage, die das Leben einem manchmal dazwischen spielt, zwischen den sonst so mächtigen, geregelten Lebensplan? Zeiten, in denen man sich entscheiden muss? Für den einen oder den anderen, für den Hallodri oder den Guten? Kopf oder Zahl, pile ou face. Oder besser: Kopf oder Bauch?

 

Egal. Ich muss mich fertig machen. Marc holt mich ab. „Ich hab nicht lang Zeit“, hatte er gesagt vorhin am Telefon, „aber ich will dich sehen.“ Ich renne schwebend ins Bad. Wirklich, ich schwebe! Wie lange ist das her, dass ich so wundervoll schwebend war, dieses Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren, dieser aufgewühlte Magen, kein Appetit seit Tagen. Gott, ist das schön.

Er ist zu spät.

Egal. Ich habe Janina auf Lautsprecher gestellt, das Handy liegt vor mir, während ich mir die Augenringe der letzten Nächte wegschminke.

„Ich sehe trotzdem so toll aus, Schniene, wenn ich das mal so unbescheiden sagen darf! Obwohl ich seit Tagen nicht geschlafen hab und gestern so viel geheult.“

„Du bist verknallt Alte,“ sagt sie trocken. „Da sieht man immer toll aus.“

„Oh, er ruft an! Ich glaube, er ist da, also ich leg jetzt auf, ja?“

„Mach keinen Scheiß“ sagt sie noch.

 

Ich laufe die Treppen runter, da steht er, ganz falsch auf der anderen Straßenseite. Ich glaube, wir strahlen uns an, als wir mitten auf der Straße aufeinander zu laufen, er drückt mich fest und hebt mich so ein bisschen hoch, Gott, fühlt sich das schön an, ich will schreien vor Glück! Schreien!

 

„Wieso hast du nicht lange Zeit?“ frage ich, als wir Arm in Arm in Richtung Georgenstraße laufen. Oder so gut es eben geht, bei dem Größenunterschied. Ein bisschen hebt er mich immer hoch, bei jedem zweiten Schritt. „Ich muss um sieben Dino im King treffen, wir müssen was besprechen,“ sagt er und zieht mich einmal wieder so ein bisschen hoch. „Dann leg ich da auf später, kommst du vielleicht noch mal vorbei?“ Noch ein Drücker. Ich will die ganze Nacht so gedrückt werden!

Marc macht so coole Sachen, so auflegen und „wie die in Berlin sagen würden: Was mit Medien“ grinst er mit verschmitztem Marc-Grübchen.

 

„Ach Kleines“ sagt er eine dreiviertel Stunde später, als wir uns vorm Café King verabschieden müssen. „Ich würde so gern abhauen.“ „Wie meinst du das?“ frage ich entsetzt. Spontane Verlustangst. Wie abhauen? Hier, im hier und jetzt soll er bleiben!

„Weg hier. Einfach abhauen.“ „Urlaub?“ „Ja, oder so. Machst du was mit mir?“

„Wie meinst du, was denn?“ Was meint er, warum spricht er so in Rätseln? Er grinst frech und geheimnisvoll: „Wir fahren an den Bahnhof und kucken, wo die nächsten Züge hinfahren. Dann suchen wir uns sechs raus. Und dann würfeln wir.“

„Und dann fahren wir da hin?“ Ich bin schon selten begriffsstutzig. „Ja!“

„Okay!“

 

Bestimmt hat er das nur so gesagt, bestimmt wird’s nie passieren, aber allein das Träumen, die Vorstellung, lässt mich wieder schweben.

Mindestens drei Zentimeter über dem Erdboden schwebe ich, niemand kann es sehen aber es ist so. Es muss diese Art von Gefühlen sein, für die man überhaupt auf der Welt ist. Ich laufe über den Gärtnerplatz, die Sonne geht gerade unter, es ist kühl, aber mir ist warm. Ich ertappe mich dabei, dass ich alleine in die untergehende Abendsonne strahle. So viel Glück und so viel Traurigkeit. Die Welt steht Kopf. Meine Welt zumindest.

Und was macht München? München strahlt mit und leuchtet so vor sich hin. Einfach so. Als wäre alles gar nicht so schlimm.

 

Ich werde mich für den Bauch entscheiden müssen.