Andrea Zech: Münchner Sehnsüchte
„Du, Arne“, hatte ich eines Abends unter dem quietschenden Geräusch schneedurchnässter Schuhe gefragt, überall kleine Lachen in der eiskalten Wohnung hinterlassend, „sehe ich eigentlich so bedürftig aus?“ Arne schaute auf. „Komm’ mal lieber in die Küche, dort ist geheizt, Kaffee gibt es auch“, sagte er statt einer Antwort und zog mich am Ärmel mit, während ich nachdenklich an mir heruntersah. Respekt! Seit wann bot Arne, der Sparfuchs, mir Kaffee an, wenn keine Gäste zu Besuch waren? Das unförmige Ding von eben steckte mir noch in der Tasche; ich spürte das Knistern des Papiers beinahe schmerzlich am Hüftknochen, während ich mich mitschleifen ließ.
Mit Scannerblick tasteten meine Augen jedes Detail ab: Eine Hose aus grobem Stoff, die noch aus meiner Au-Pair-Zeit in Frankreich stammte, eine kürzlich erstandene Winterjacke in Orange, H&M Qualität, und die meiner Mutter stibitzten Gartenschuhe. Die Haare straff zusammengebunden, was das Gesicht ziemlich schmal machte – ich prüfte jetzt mein Spiegelbild in der Fensterscheibe, während Arne mir einen dampfenden Becher hinstellte – aber ich sah weder hungrig aus noch mager, bloß blass, aber das bin ich immer. Außerdem steht mir Orange nicht, es verleiht meiner Haut einen Gelbstich, aber das hatte der Unbekannte ja nicht wissen können. Irgendwie interessierte mich mein Styling hier nicht.
Mittlerweile hatte mein Mitbewohner seine kritische Musterung beendet und meinte gedehnt: „Also, man sieht schon, dass du kein Geld hast!“ „Und an was, bitte schön?“ fragte ich gereizt zurück, mit Arne konnte man ungezwungen reden wie mit einem Bruder, von Anfang an waren wir zackig ins Gespräch gekommen, aber wirklich herzlich war das Miteinander kaum, beide zu misstrauisch, beide zu sehr auf dem Sprung, sich etwas abzugreifen, und Arne ganz Berliner Urgestein, wohnhaft in der Bornholmerstraße, direkt an der – ehemaligen und für mich gegenwärtigen – Mauer, „ich glaube, es ist nicht die Kleidung, das kann auch lässig sein. Aber wie du schaust – deine Augen – wie ein Tier in der Falle. Total panisch.“ Das saß.
Ich stand wieder in der Schlange, in einem Feinkostgeschäft, in der Friedrichstraße, direkt hinter dem Mann im grauen Kaschmirmantel, einem der zahllosen Menschen, die einen hier täglich und stündlich bedrängten, indem sie den Raum verengten, und die man deshalb besser ignorierte. In meiner Hand fühlte ich die beruhigende Härte der Münzen; der deftige Duft, der aus dem Geschäft drang, hatte mich verführt, ein Blinken und Leuchten der Auslage, die Brezeln schmeckten mir zwar hier nicht, aber die Walnussbrötchen im Korb sahen lecker aus, und ich drehte der gegenüberliegenden und noch lauter lockenden Theke mit Fisch und Käse entschieden den Rücken zu und heftete meine Augen auf das Brötchen.
Da lag es, sanft gerundet wie eine weibliche Brust, bräunlich und knusprig, zum Anbeißen schön… Wenn es doch immer so leicht wäre, zu bekommen, wonach man verlangt… So, jetzt war die Reihe fast an mir. Ich richtete mich auf und hörte schon die Nüsse zwischen den Zähnen knacken, da streifte mich der Mann mit einem Blick und fügte vernehmlich hinzu: „Und von dem Brot da schneiden Sie doch bitte die Hälfte ab und geben sie der jungen Dame hier“, und ehe ich atmen konnte, wurde mir das warme, runde Brot in die Arme gelegt wie ein kleines Kind, der Mann nickte mir so flüchtig zu, als habe ein Goldfischgedächtnis schon beinahe alles gelöscht. Benommen fanden meine Beine den Weg ins Freie.
In der Friedrichstraße schlug wie immer ein heftiger Puls, elegante Schemen glitten vorüber wie auf Spiegeln, kühl und gleichmütig, aber meine Wangen brannten, wie mein Magen noch nie gebrannt hatte. Ich hatte zwar Hunger verspürt, als ich das Feinkostgeschäft betrat, aber schlagartig war daraus etwas Unheimliches geworden, das sich auf irgendeine heimtückische Weise nach außen gestülpt hatte wie ein links angezogenes Kleidungsstück, auf das einen plötzlich jemand hinweist. „Brot für die Welt – hurra, in Berlin!“ schoss es mir durch den Kopf, und ich musste ein hysterisches Kichern unterdrücken, was immer noch besser als jenes Weinen war, das mir glühend hinter den Augen saß.
Wenn der Himmel wieder einmal so grau - schwer über der Stadt hing, als wolle er sie eindrücken, schien er mich zugleich unter sich zu begraben, zwischen lauter Hohlformen, in irisierenden Blasen. Vorher hatte ich noch nie auf mich allein gestellt gewohnt, und jetzt, nachdem das Berliner Begrüßungsgeld und die paar nicht fest angelegten Ersparnisse aufgebraucht waren, sank meine Stimmung auf den Nullpunkt. Auf einmal fiel mir unsere Schweigsamkeit auf. „Was hast du, Arne?“ fragte ich, nur um etwas zu sagen. „Ich habe mir überlegt, wie lange das mit dir noch so weitergehen kann“, antwortete er sehr direkt, fast roh; wenn das herzlich gemeint sein sollte, musste man warme Töne hinzudichten.
Hier, in dieser Stadt mit dem Glas-Beton-Charme, lief ich unausgesetzt gegen gefrorene Wände. Vielleicht lag es an der Sonne – sich im Englischen Garten zu aalen, dabei zu fühlen, wie die Wärme jede Pore einzeln durchdrang, anschließend in einem Biergarten zu sitzen und kräftig anzustoßen, gab ein anderes Lebensgefühl! – Himmel, was war mit mir los?! Machte diese winterliche Großstadt mich etwa sentimental – zu Hause war doch nie ein gutes Wort über Biergärten aus meinem Mund gekommen, im Gegenteil, ein schäumendes Helles war für mich ein Bauerntrampelgetränk gewesen, in fröhlicher Runde hatte ich gerne und oft betont einen Spätburgunder bestellt, der zwischen dem ganzen Gold funkelte…
Mit welchen Zielen, was für Plänen war ich hier eingetroffen, und erreicht – war keines. Jean-Philippe hatte Schuld. War es nicht ganz allein seine Idee gewesen, hatte nicht er gesagt, mich mit seinen unergründlichen Augen ansehend, diese Sphinx: „Der einzige Ort, an dem ich mir vorstellen könnte zu leben, ohne zu vergehen, ist, neben Paris und London natürlich, nur Berlin.“ Der Süden Deutschlands kam deshalb nicht in Frage, obwohl ich das im Durchschnitt bessere Wetter und die größere Nähe zu Frankreich anführte. Er verzog den Mund, seinen sinnlichen, immer etwas asymmetrisch wirkenden Mund, dem man ansah, dass er alle möglichen Geschmacksrichtungen gekostet hatte. Ich war auch bloß so eine Facette.
Aber was beschwerte ich mich, war ich nicht Feuer und Flamme gewesen für den Plan. Hatte ich damals nicht gehofft, Berlin würde wie ein Magnet wirken, zack! und meine Wünsche hafteten wie Eisenspäne daran – verwirklicht. An erster Stelle Jean-Philippe natürlich, mit dem ich mich bereits in Sanssouci herumstreifen sah, verwitterte Lusttempel erkundend und wieder mit Aroma erfüllend, um uns herum alles Grün in Grün. Wie hatte ich mich anstecken lassen von seinem schönen, verzogenen Mund, dem fast nichts gut genug war – ich übrigens auch nur selten – aber meine Begeisterung schwemmte alles hinweg. Wir gehen nach Berlin, nach Berlin… was war München dagegen, außer ein Gestern und ein Nichts, ohne ihn?
Berlin – das wahre, das wilde Leben, am Puls der Zeit, auf der Überholspur. Jean-Philippe – nicht wir – war nach Berlin gegangen, im Eiltempo, ich aber… steckte fest zwischen Wand und Wand, auf der einen Seite ein beinahe unbezahltes Praktikum, auf der anderen ein eigentlich unerreichbarer Mann, einzig auf seine so genannten sozialen, politischen, kulturellen Brennpunkte ausgerichtet. Brennpunkte! Ich saß darauf und erfror. Für ihn, der die Kälte in all ihren Erscheinungsformen, in sämtlichen Einzelheiten schätzte, insgeheim mit Russland liebäugelte, mochte es stimmig sein, er war hier, im Gegensatz zu mir, in seinem Element. Wahrscheinlich hatte er Recht, und wir passten wirklich nicht zusammen.
Jean-Philippe war doppelt so alt wie ich und von Anfang an skeptisch gegenüber einer Beziehung gewesen; im Grunde hatte er während meines Au-pair-Jahrs alles unternommen, um mich davon abzubringen, sich distanziert gegeben wie ein schartig - trutziges Gemäuer, das mit allen Finessen erobert werden wollte – aber unvermutet, wahrscheinlich unbeabsichtigt, manchmal doch zärtlich, offen, und auf diese Momente hatte sich meine mit dem ganzen Schwung der ersten zwanzig Jahre ausgerüstete Hoffnung geworfen. Bei der Anziehungskraft, die ich zwischen uns zu spüren meinte, wäre es hundertprozentig nur eine Frage der Zeit – und des Ortes – bis sich die strahlende Chemie voll verwirklichte.
Keinen Schritt war ich im Norden weiter gekommen, außer ihm an und zu einen Abend erst zu verplaudern, dann zu versüßen, bilanzierte ich bitter. Wenn er mich endlich, zu später Stunde, langsam küsste, immer erst auf den Hals, dann auf den Mund, dazwischen aufs Haar wie bei einer Puppe, ich ihn umschlang, an mich zog, ganz festhielt, dann, dann ja. Aber sobald er satt war, kam wieder jener hochmütige Ausdruck in sein schönes Gesicht, und er nahm sich fort. Ich blieb hungrig übrig, von dem bittersüßen, gliederschüttelnden, ausnehmend boshaften Eros gepeinigt, mit nichts als einem Geschmack im Mund, der mich nach mehr, weitaus mehr, verlangen ließ – einem Mehr, das, wie die Stadt, eine Chimäre war.
Trotzdem kam ich immer wieder zurück und ließ mich mit schalem Zeugs abspeisen. Jean-Philippe war so verdammt anziehend, hinreißend, und er wusste es, seine Hand genügte, auf meinem Knie, meiner Schulter oder meinem Schenkel, und ich wurde weich und verschob eine starke Aussprache auf später, auf morgen, auf nie am liebsten. Wenn es nur eine Weile noch so weitergehen könnte, ganz kurz wenigstens! Ich verhandelte mit meinem klügeren Selbst, das weiter sah, und manchmal mit Arne, der mein Gesicht, wenn ich von unseren Treffen wieder auftauchte wie von einem Absturz in die Tiefsee, charmant mit einer ausgelutschten Tropenfrucht verglich.
Er machte sich damit alles andere als beliebt, doch bot er wenigstens ein Ventil für meinen Frust. Alle wollten mich, nur dieser Idiot nicht! Auch Arne. Immer hatten die Herzen unter meinen Füßen gelegen, waren zwischen meinen Zehen zersplittert, ich hatte sie gebrochen, weil sie mir nicht genügten – plötzlich reichte ich selbst für jemanden nicht aus. Meine eigene Haltung, am eigenen Leib, tat ziemlich weh. Und ausgerechnet ich, die sich sonst nie etwas von jemandem gefallen ließ, an jeder geeigneten und ungeeigneten Stelle mein „gutes Recht“ verteidigte, mit allen Geschützen dazu bewogen werden musste, auch einmal einen Zentimeter nachzugeben: ausgerechnet ich hielt keine Stellung mehr, nahm alles, alles hin.
Vielleicht weil ich keine Stellung hatte?! Anstatt mich aufzuführen wie ein Schwarm zankender Seevögel, hockte ich nun zahm in den Metros, in den Cafés, am Computer, meinen frechen Schnabel gehörig gestutzt, und rückte beiseite, solange, bis da nichts mehr war als eine Mauer, meine ureigenste Berliner Mauer, direkt an der Bornholmerstraße, während für Jean-Philippe, der natürlich im Westen, direkt in Charlottenburg wohnte, die Mauer schon längst gefallen war. Er fand Berlin überraschend hip, dynamisch, bunt, „endlich eine Junge unter all den grauen Hauptstädten“, und was ich entgegenzusetzen hatte, zählte hier so wenig wie ich, zeigte doch die Kompassnadel meiner Sehnsucht unaufhörlich nach Süden…
Nicht immer Wand an Wand, Mauer an Mauer, lieber flanieren und schauen, sehen und gesehen werden, wie in München, das glitzern konnte wie prickelnder Champagner in dem Riesenkelch, wo Dita von Teese strippte. In Berlin schuf ich mir mein eigenes München, doch verlor ich keine Silbe darüber, ich sah schon, wie Jean-Philippe wieder seine Lippen verzog, als hielte man ihm längst abgelaufenen Lachs unter die Nase, und das wollte ich mir ersparen. Menschen wie er kamen entweder nicht nach München – immerhin hatte er auch von deren Uni ein Angebot erhalten – oder waren dort anders – oder ich war anders. Die Kräfteparallelogramme fielen dort jedenfalls nicht so zwischen uns aus wie hier.
War es ein sicherer Instinkt von ihm gewesen, nach Berlin und nur nach Berlin zu gehen? An diesem Ort ließ ich mich mit Leichtigkeit an die Wand, an fast jede Wand, drücken. „Hierher also kommen die Leute, um zu lieben, ich würde eher meinen, sie versumpften hier“ würde meine persönliche Abwandlung von Rilkes Satz lauten. Genauso wie Menschen Städte erzeugen, erzeugen Städte wieder Menschen. Alles, was in Berlin geschah – oder nicht geschah – konnte nur dort mit mir geschehen, denn in München war ich ein anderer Mensch. Mit meinen Eltern war ich Jean-Philippes wegen entschieden heftig zerstritten, und der hatte es mit aller Bestimmtheit abgelehnt, den, wie er sich ausdrückte, „Ernährer“ zu spielen.
So schleppte es sich hin, auf eigene Faust, kläglich genug, bis die Immobilienblase platzte und mich – eingeklemmt zwischen zwei Städte, die eine noch nicht verlassen, die andere noch nicht erreicht – endlich freigab. Bodenstück für Bodenstück war allmählich weg gebrochen; mein Praktikum eben ausgelaufen und Jean-Philippe nie richtig angelaufen. Kältewellen, Kälteströme, innerlich und äußerlich, ein Eisflimmer schien sich um meine Knochen gelegt zu haben und in alle Richtungen auszustrahlen: Ein interessanter Job ohne Perspektive, ein interessanter Mann ohne Perspektive, eine interessante Stadt ohne Perspektive. Das Ergebnis: Leerlauf im Herzen, Kraterleere im Portemonnaie.
Selbst das einzige, was mich etwas entschädigen hätte können, nämlich den dramatischen Abschluss, verweigerten mir Jean-Philippe und Berlin; er lud mich zum Essen in eine Sushi-Bar ein, und während wir ziemlich wortlos rohen Fisch verzehrten, hatte ich genügend Zeit, über Halbgares und Ganzrohes zwischen uns zu sinnieren. Danach küsste er mich, erst auf den Hals, dazwischen aufs Haar, als sei nichts geschehen, und wir schliefen ein letztes Mal miteinander, als werde nichts geschehen. Berlin war damit endgültig zum schillernden Sumpf geworden, dessen Blasen zwar meine Träume zu spiegeln vermochten, nur um sie genau dann zerspringen zu lassen, wenn sie meine Hochglanzbilder vollends exakt wiedergaben.
Zu Hause, in München, fing mich, die grandios am eigenen Trapez Gescheiterte, mein Netz wieder auf; rasch, rasch spannen sich weitere Maschen hinzu, die federten, die hielten, mit teilweise glänzenden Fasern. Niemand erwähnte meine Berlin-Eskapade, außer natürlich: meine seufzenden Eltern, die mir jetzt dringend nahe legten, es endlich mit einem Studium, „vielleicht Jura, bei deinem Textgedächtnis“, zu versuchen. Bald schwamm ich, nach meinen Tiefseestürzen, wieder oben, nippte am Schaum, den man mir anbot, glitt leicht auf der glänzend harten Fläche dahin (nicht ohne mich nach Berliner Abgründen zu sehnen), während sich die Stadt wie ein geschmeidig schimmernder Gürtel um mein brüchiges Ich legte.