Peter Pruscha: Der Glanz von M.
Das titelte im Sommer letzten Jahres die Magazinausgabe von Deutschlands intellektuellster Wochenzeitung. Eine Ode an das neue Roxy München, an jeder Ecke Designer, Macher, Models. Der Glanz war auch der erste Gedanke, als kaum eine Woche später meine linke Wange von einer kräftigen, extra dafür ausgebildeten Hand in Englischen-Garten-Wege-Kies gedrückt wurde. Ein paar weitere verwursteten hinterrücks meine Gelenke mit so großem Nachdruck handschellenfertig, dass das Reiben der Schulterknochen gegen ihre Pfannen an das Knirschen morscher Schiffsplanken erinnerte. Und dann noch die ca. fünf Zentner massiges Staatsmachtfleisch, das es sich mit seinen Hartplastikknieschonern auf meinem Rücken bequem eingerichtet hatte. Ich bekam Panik. Weniger der Kieselsteinchen wegen, die sich zu Hunderten in meinen Brustkorb bohrten. Es war die Atemnot, und das Wissen, dass bei dieser Festnahmetechnik vereinzelt Leidensgenossen schon ihren letzten Atemzug genommen hatten. Ihr Herz war dem Druck einfach nicht gewachsen. Shit. Wie hatte es mit mir überhaupt soweit kommen können? Ich, die unauffällige Dutzendware, Kassenpatient dazu, bekomme Sonderbehandlung? Hatte ich versucht, mit einem Sprengstoffgürtel umgeschnallt die Staatskanzlei zu stürmen? Das Oktoberfest kritisiert? Oder gar öffentlich einen Kasten Augustiner Bier verbrannt? Ganz im Gegenteil, Schuld war meine bedingungslose Liebe zu dieser Stadt. Diese hatte ich ein paar Augenblicke zuvor per Mobiltelefon Richtung Prenzlauer Berg weitergeben wollen, wo seit wenigen Wochen ein guter Freund von mir saß. In dessen Blick zurück nach M nichts als Zorn. Das musste ich wieder ändern. Wer einst von der Hauptstadt nach nur einem ¾ Jahr schon wieder ausgespuckt wurde wie ein fauliger Apfel, den ruft in so einer Situation das Gewissen. Und nichts braucht dieses Land doch dringender als eine weitere olle M vs. B Diskussion. Das Problem: Er, der Exilant, hatte einen Zitate-Krieg angestachelt, dem ich nicht gewachsen war. Sätzen wie „Berlin ist ein wenig koordiniertes Agglomerat von Parallelwelten, in der die Kategorie des Außenseiters verdunstet“ hatte ich nichts entgegenzusetzen. Unmöglich, darauf dauernd nur mit „München ist halt doch irgendwie schöner“ zu kontern. Ich war in der Defensive, ich brauchte dringend den Big Bang, und der kam endlich in Form des glänzenden Zeitmagazins: Die allgemein anerkannte Basis von Rückholprogrammen für Berlinflüchtige. Eigentlich eine schöne Geschäftsidee. Mit Handy-App und Facebook-Group stärke ich den Standort M. Geld zum Dank würde ich keines wollen. Ein feuchter Händedruck von offizieller Seite, das würde völlig reichen, schließlich bin ich Ideologe in dieser Hinsicht. Nun, Hände und Druck, sogar von Staatsvertretern, das hatten wir gerade reichlich, bloß an den falschen Körperteilen – und feucht waren sie sicher auch, bei 30 Grad und dicken Lederhandschuhen.Aber ich war selber Schuld. Warum hatte ich diese Runde des Telefonduells nur beim Fahrradfahren austragen wollen? Wo ich doch vor zwei Tagen, am Dienstag, gelernt hatte, dass in München Telefonieren beim Radeln wegen Gefährdung des Straßenverkehrs verboten ist. Na, weil ich endlich die Glanz-Trumpfkarte spielen musste. Dienstag war der erste Versuch gescheitert. Nicht nur an der Staatsmacht. Ich hatte mich verwählt. Beim Fahrradfahren kann das passieren. Es grüßte ein Ex-Kommilitone, dessen Ehemaligen-Stammtisch ich monatelang ignoriert hatte. Trotzdem klang er freundlich. Nur gefühlskalte Monster legen da sofort wieder auf. Ich war bereit für eine Wiedergutmachungstour und niemand sollte mich dabei stoppen können. Außer der Staatsmacht natürlich. Die dienstags übrigens weiblich war. Mir imponierte, wie motiviert jede Pore ihres noch so jungen Körpers in Uniform mich belehrte. Ich ließ sie gerne pädagogisch an mich ran. „Und die Wirkung hat nicht einmal bis Donnerstag gehalten?“, höre ich Kritiker rufen. Doch, hatte sie. Trotz höchster Dringlichkeit – der Glanz musste endlich nach B – hatte ich auf einen Anruf in die Hauptstadt verzichtet. Zumindest solange ich auf einer Straße fuhr und irgendwie Gefahr hätte produzieren können. Im Englischen Garten dann, in all seiner vorsommerlichen Milde, wollte ich die doppelte Pointe abfeuern. Nirgendwo sonst ist an heißen Tagen die Körperlichkeit dieser Stadt so intensiv zu spüren, eine unwiderstehliche Melange aus Geist und blühender Sinnlichkeit, vor allem weiblicher, in Bikinis. Da kann dieses B einpacken. Doch noch während des Verbindungsaufbaus sprang die Staatsmacht hinter einem Gebüsch hervor. Nicht zu fassen. Jedes Mal, wenn ich im hoheitlichen Rückholauftrag der Stadt unterwegs bin, haut sie selber dazwischen. Der Glanz von M, er wird B wohl nie erreichen, dank Helm, Brustpanzer und schwarzen Kampfstiefel. Letztgenannte machen mich besonders traurig. Ein aus dem hohen Norden stammender Freund wollte in seinem ersten Münchensommer das Herz der Weltstadt schlagen hören, am besten würstchenbratend irgendwo an der Isar. Wie naiv! Eine Kampfeinheit spürte ihn auf, befahl sofortigen Grillstopp, verteilte Strafen. Seitdem der immer gleiche Albtraum: Friedlich brutzelnde Würstchen im warmen Abendrot, das Plätschern der Isar. Plötzlich stürmen stahlbekappte Stiefel die Idylle, treten Grills um, stampfen unschuldige Bratwürstl, Käsekrainer und all die anderen ohne Gnade in den Boden.
Dieser Herr Würstchentreter also vor mir mit Helm und Brustpanzer, natürlich wusste er um die langsam in mir hochkochende, besser: hochbratende Wut. Seinem Instinkt folgend roch er, dass viel mehr rauszuholen ist, als die für das Telefonieren vorgesehenen 25 Euro. Seine Spielart des Systems. Also fragte er genüsslich nach, in dem für alle Autoritäten typisch pseudogenerösen Ton. Ob man die Strafe akzeptiere? Wem die Alternativen vorgetragen werden, tut das sofort. Und zweitens, ob man sonst noch irgendetwas zu der Sache zu sagen habe. Zur Abwechslung wusste jetzt ich mal etwas, nämlich, dass ich besser nicht in die behelmte, hochrote Bratwürtschentretervisage gucke, dieser Home of Selbstgerechtigkeit. Lieber mit dem Blick auf dem ausgehändigten Strafzettel verharren. Ein sauberes Formblatt. Tatbestand: Rechte Hand am rechten Ohr. Jeder einzelne Buchstabe isoliert in dem für ihn vorbestimmten Formularfeld. Gefangen in seiner 0,5 cm² großen Einzelzelle. Das gleiche Schicksal blühte auch mir, wenn nur ein Gedanke aus meinem Kopf den Weg in seine Ohren gefunden hätte. Aber gar nichts sagen ging einfach nicht. Ich hatte auch vom Dienstag noch etwas nachzuholen, als mir das Polizeiauto nach erkanntem Delikt derart obszön den Weg abgeschnitten hatte, dass nur meine Vollbremsung die Kollision verhinderte. Soviel zum Thema Gefahrerzeugung. Selbsterfüllende Prophezeiungen aus dem Lehrbuch sehen genau so aus. Das hätte ich ihr gern gesagt, am Dienstag, aber da war ich wegen totaler Überforderung stumm geblieben. Heute, Donnerstag, sollte mir das nicht passieren. „Fingerspitzengefühl“ und „Ermessensspielraum“ entwichen meinem krampfenden Kiefer. Die Begründung dazu, immer noch holprig, aber immerhin: „Fußballschiedsrichter, die müssen auch nicht immer Elfmeter geben, die haben in Härtefällen auch einen Ermessensspielraum. Genauso wie die Polizei hier im Garten auch mal Fingerspitzengefühl zeigen kann.“ Ich war stolz auf mich. Was für eine Metapher. Darauf hatte er sicher keine Antwort. Hatte er doch. Und die war genauso absehbar, wie die Roten im Pokal-Derby gegen uns Blaue in der 120. Minute einen Elfmeter geschenkt bekommen: „Selbst im hintersten Winkel des Bayerischen Waldes würde er mich anhalten, ja anhalten müssen und bestrafen müssen. Gesetz sei nun mal Gesetz“. Dazu hatte er tatsächlich seine Sonnenbrille abgenommen. Der Mann wusste sich zu inszenieren.
„Rechte Hand Am Ohr“ hörte ich eine Stimme sagen, und: oh weh, das war ja meine, „das gefällt dir nicht, aber Rechte Hand zum Gruße erhoben, darauf stehst du, gelle, da geht dir doch einer ab.“ Verdammt! Ich hatte mich verleiten lassen. Der Polizist grinste nur. Und ich legte nach: „Kein Wunder, dass das damals alles so gut klappen konnte, zu Zeiten des großen Autobahnbaus.“ Aus dem Grinsen wurde Lachen. Ich musste einen draufsetzen: „Warum heißt der Freistaat wohl Freistaat? Weil sich Verbotsstaat doch massiv scheiße anhören würde.“ Das Gelächter wuchs sich aus zu einem schallenden, auf ganzer Linie genießenden Sieg, Mund weit aufgerissen, bebender Oberkörper. Längst hatte ich die Berliner Nummer gewählt, außer Rand und Band brüllte ich ins Telefon: „Der Glanz von M! Ich halte ihn in meinen Händen. Selbst der Chef der New-York-Times kennt ihn inzwischen. Damit holen wir Dich zurück, mein Lieber, aber seit 2 Tagen springt bei jedem Versuch, Dich anzurufen, aus irgendeinem scheiß Gebüsch irgendein gottverdammtes...“ Und dann fielen Schimpfwörter. Genug, um nun hier nach Luft japsend zerquetscht zu werden.
Das wurde ich nun schon eine ganze Weile, da ertönte gottgleich von oben eine Stimme: „Wer sich aufführt wie ein Autonomer, der wird auch behandelt wie einer!“ Ha, Tarantino zitieren, das kann jeder. Vielleicht ist ja es genau umgekehrt. Wer für einen Einsatz gegen Steineschmeißer aufgerüstet hat, der... ach, lassen wir diesen doktrinären APO-Stil der 68er. Außerdem hätte es meine Situation gewiss nicht verbessert. Aber schon wieder so etwas zu tiefst selbsterfüllendes. Und warum müssen sich immer jene Kreise schließen, die doch besser weit offen geblieben wären. Eine Demonstration war auch der Auslöser für seine Flucht nach B. Und der Grund, warum ich eigentlich an allem Schuld bin. Offizieller Protestmarsch gegen die Hypo-Real-Estate. Damit wollten wir unser Entsetzen über diese feudale Plünderbande kund tun. Es gab bloß ein Problem: Er, der Exilant, arbeitete dort. Ich beruhigte, in der Masse würde er nicht weiter auffallen. Das Thema ist so groß, all diese Milliarden gleichmäßig verteilt auf alle Münchner, würden selbst jeden Säugling noch ein paar tausend Euro Startgeld mit auf den Weg geben. Alternativ Kinderkrippenplätze, Umweltschutz usw. Eine derartige Ungerechtigkeit treibt München, diese glänzende Weltstadt mit Herz, zu Zehntausenden auf die Straße, prophezeite ich. Und dauern wird es auch nicht länger als eine ausgedehnte Mittagspause. Außer uns kamen dann aber nur ein paar Hundert. Mediale Unterstützung fehlte, die Lokalblätter und Radiostationen konzentrierten sich auf spannende Trendthemen wie Biergartentests und erste Wiesnhit-Prognosen. In diesem kleinen Haufen unterzutauchen war nicht einfach. Er wurde erkannt. Und am nächsten Tag gefeuert. Teilnahme an Demos gegen den eigenen Arbeitgeber ist Hochverrat. Um mir ein wenig die Schuldgefühle zu nehmen, hatte er vom Entlassungsgespräch erzählt. Sie waren zu zweit. Ein altgedienter, kauziger Null-Charismatiker namens Schönwart, sowie der jüngere, ziemlich glatte Schilauer. Den Gesprächseinstieg verkorkste Schönwart, dann übernahm der gescheitelte Teil des Duos das Kommando. Er, Schilauer, hatte doch auch seine wilde Zeit gehabt und damals sogar einmal bei einer Demo mitgemacht. 1995 zusammen mit 20000 anderen Münchnern, bei der großen Biergartenrevolution. Gigantisch sei das gewesen, eine echte Bewegung, da sei ein Bild der Stärke für den Standort durch die Welt gegangen. Aber dieser Haufen gestern? Und was würden überhaupt Kunden sagen, wenn sein Fall publik werden würde? Das Ausland? Internationale Investoren? Habe er überhaupt eine blasse Ahnung, wie er den Standort schaden könnte? Ihnen bliebe wirklich keine andere Wahl. Okay, Idioten, die beiden. Viel kleiner wurden meine Schuldgefühle trotzdem nicht.
Zur Belastung für den Standort M werde langsam aber sicher ich. Denn immer noch bin ich am Boden. Die Atmung setzt schon häufiger aus, das Sehen aber noch nicht. Ich erkenne aus meiner Bäuchlingsposition heraus knapp über der kiesigen Grasnarbe einen Haufen sehr gut genährter Fußknöchel. Amerikanische Touristen! Wie sehr sich Maßstäbe in nur zwei Tagen verschieben können! Am Dienstag war mir schon eine ruhige Unterhaltung mit einer Streifenwagenbesatzung peinlich gewesen. Jetzt bin ich am helllichten Nachmittag Protagonist einer Gangsterszene vor Touristen aus Übersee. Oh Gott! Der Glanz! Kann man ihn großflächiger zerkratzen als ich gerade? Eine Entschuldigung, das Mindeste, bei der Stadt, den Touristen. Geradezu patriotische Pflicht, die Schmerzenschreie zu unterdrücken. Nur eine Bitte als Gegenleistung: ‚Er tat es für den Standort’ soll einmal in Stein gemeißelt sein. Schaum tritt aus meinem Mund. Kratzen und abkratzen lassen! Völlig in Ordnung, wenn es der Standort verlangt, aber unbedingt vor den Touristen? Ihr Guide beruhigt die Situation. Mit weicher, sonorer Stimme erklärt er, dass rund um den Monopterus Drogen leider immer wieder ein Problem sind. Dieses Genie, mich den Touris als dreckigen Junkie zu verkaufen. Die sind ja nix wert, die kann man prügeln. Und Drogen sind globaler Schrecken. M ist unschuldig! M glänzt weiter! Aufatmen – geht nur leider nicht mehr. Dann wenigstens Musik. Die letzte Kraft lege ich in ein Lächeln und blicke selig rüber, zu den vom Deutschlandtrip mit Schweinshaxn und Milkaschoko gemästeten Amifüßen. Ein letztes Röcheln. Dann, tatsächlich, mein Wunsch wurde erhört, eine betörende Tenorstimme durchzieht die laue Sommerluft. Es ist Caruso, Du gar wunderbarer. Jetzt könnten mich ganze Hundertschaften niederknüppeln, im Ambiente deiner zauberhaften Töne entstünden höchst fulminante Gemälde. In den Himmel schießende Blutfontänen, gebettet in deine Klangwelten, ein ästhetisches Stilmittel im Sinne von Quentin T. Ein tolles Spektakel für die Touristen. Das Haus der Kunst in Sichtweite, sind wir die Abteilung Straßen-Aktionskünstler. Kameras klicken wild im roten Sintflutregen. Und ich, von allen Lasten befreit, beginne in mitten kleiner rosa Wölkchen zu schweben. Ich kann mich umdrehen und Wow: Anstelle des Monopterus thront auf dem Hügel ein kolossales Grammophon und beschallt die vor sich liegende tiefgrüne Wildnis mit Caruso. Die hochgebildeten Bikinischönheiten von vorhin haben sich in drahtige Amazonen verwandelt. Sie ziehen das Grammophon an Hunderten von Seilen über die Ebene. Taktgeber im Leopardenpelz höchstpersönlich: Märchenkönig Ludwig, in der rechten Hand das Zepter schwingend, in der linken angeleint zwei neonbunte Leguane. Durch die blinkenden Wölkchen hindurch tänzelt der knallgrüne Funky-Mops Brutus. Handtellergroße Kopfhörer, silbern glitzernde Palliettenweste. Zwischen eifrigen Beinchen heben an jeder Wolke immer wieder: Moonwalk! Staying Alive! Breakdance-Moves! Pure Mjunik-Disco: YEAH! Er schleckt mir quer über mein Gesicht, dann hüpft er im Takte davon. Geile Show! Ich mittendrin. Das Blitzlichtgewitter bündelt sich zu einem grellen Strahl. In schwerelosem Zustand zieht er mich nach oben. Ich weine vor Glück. All ihr Schwerbehelmten, Vorgesetzten, Touristen, Investoren und vor allem Exilanten da draußen, euch frage ich: „Gab es hier jemals ein derart monumental komponiertes Gesamtkunstwerk? Hat M jemals so geglänzt wie in diesem Moment unter quasi meiner Regie? Wohl nicht! Weder zuvor, und ganz sicher auch niemals wieder. YEAH!“